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Alexander von Humboldt und Joseph Louis Gay-Lussac vermessen in den Schanzen von Paris die Schallgeschwindigkeit.

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Ausstellung über die Gebrüder Humboldt in Paris: In der Heimat der Weltbürger

Die Berliner Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt verbrachten wichtige Jahre in Paris. Eine dortige Ausstellung spürt ihren wissenschaftlichen Netzwerken nach. Im Mittelpunkt steht der Abenteurer Alexander.

Mehrere südamerikanische Nationalbibliotheken waren am Kauf der Reisetagebücher Alexander von Humboldts interessiert. Diese Nachricht begleitete kürzlich die Erwerbung der Handschriften durch die Berliner Staatsbibliothek als Kuriosum am Rande. Humboldt und Berlin, das ist schließlich eins. Und so hatten die Vorbesitzer, Nachfahren des berühmten Brüderpaares Wilhelm und Alexander, allein mit Berlin verhandelt. Wem aber gehören die nachgelassenen Papiere tatsächlich – physisch und geistig?

Die Frage ist alles andere als banal. Alexander von Humboldt starb 1859, kaum mehr als ein halbes Jahr vor der Veröffentlichung von Charles Darwins „Entstehung der Arten“. Humboldts Opus magnum, der „Kosmos“, war da noch nicht vollständig erschienen, das zog sich bis 1862 hin. Aber so wie der „Kosmos“ im Laufe seiner fast drei Jahrzehnte dauernden Editionsgeschichte das Weltbild des europäischen Bildungsbürgertums bestimmt hatte, so folgte ihm darin Darwins ungleich kältere, nüchternere Analyse für weitere Jahrzehnte. Selten ging eine wissenschaftliche Epoche so exakt bestimmbar zu Ende wie diejenige Humboldts, markiert durch den Tod des Forschers wie den Abschluss seiner wissenschaftlichen Lebensleistung.

Alexanders Sekretär schenkte Napoleon III. das "Kosmos"-Manuskript

Bald darauf jedoch kam es zu einem Eklat, der nur deshalb nicht bis heute nachwirkt, weil Humboldts Leben und Werk die Faszination, die es einst ausgeübt hat, weitgehend eingebüßt hat. Und so sieht man mit Staunen das mächtige Konvolut der „Kosmos“-Handschrift jetzt in einem Pariser Museum, einer altehrwürdigen Institution, in einer Ausstellung, die den scheinbar so urberlinischen Gebrüdern Humboldt gewidmet ist. Humboldts Sekretär Eduard Buschmann – weit mehr als ein Sekretär, eher der Lektor des „Kosmos“, der dem Riesenwerk Form gab und es druckbar machte – schenkte das Manuskript 1866 dem französischen Kaiser Napoleon III. Das tat er nicht zuletzt aus Dankbarkeit für die Verleihung des Offizierskreuzes der Ehrenlegion.

In diesen Jahren eines enorm sich verstärkenden Nationalismus, der bald darauf zur Gründung des (zweiten) Deutschen Reiches ausgerechnet in Versailles führen sollte, wurde das großzügige Geschenk zum Gegenstand kleinlichen Spottes und ausgewachsener Schmähungen. Dass Humboldt zweieinhalb Jahrzehnte in Paris, dem Nabel der damaligen Geisteswelt, verbracht hatte, geriet bereits in Vergessenheit.

Dem epochetypischen Eurozentrismus stand Humboldt zeitlebens fern

Das Manuskript gehört also seit 1866 der Handschriftenabteilung der Bibliothèque nationale de France, versehen mit der schönen Signatur „Allem. 232“. Buschmann wurde karikierend als afrikanischer „Buschmann“ verunglimpft, passend zu einer Epoche des Eurozentrismus und Kolonialismus, der Humboldt zeitlebens nicht hätte ferner stehen können. Doch die Anfänge dieser nationalen Vereinnahmung reichen weit zurück. Seit dem Erscheinen des ersten „Kosmos“-Bandes 1846 bemängelten Biografen Humboldts, dass er einen Großteil, ja die Mehrzahl seiner Manuskripte in der fremden Sprache des Französischen abgefasst habe. „Mit der bedauerlichen Folge, dass sie in Deutschland nicht den Widerhall gefunden haben, die sie verdienten“, wie bereits 1853 angemerkt wurde. Nun ist das Manuskript in bordeauxrotem Karton zu sehen, in der Ausstellung, die dem deutsch-französischen Austausch des genialen Brüderpaares gewidmet ist. Am Mittwoch fand die Eröffnung statt an einem Ort, der seltsam aus der Zeit gefallen scheint und es doch verdient hat, als Knotenpunkt deutsch-französischer Geistigkeit wieder ins Bewusstsein gehoben zu werden.

Für Sanskrit als Ur-Sprache der Kulturen interessierten sich beide Brüder

Die Sprache seiner Manuskripte war dem Weltbürger Humboldt gleichgültig. Und dies nicht etwa, weil er den Großteil seines Forscherlebens in Paris verbrachte, nämlich die Jahre 1805 bis 1827. Sondern weil für ihn die Gleichwertigkeit aller Schriftsprachen selbstverständlich war. Beide Brüder Humboldt widmeten den unterschiedlichsten Sprachen – vom Baskischen, das Wilhelm in seiner Eigenart erkannte, bis zu den mittel- und südamerikanischen Sprachen, an deren Erforschung durch Alexander eben auch der unermüdliche Buschmann seinen Anteil hatte – intensive Studien. Und für Sanskrit als eine Ur-Sprache der Kulturen interessierten sich beide Brüder ohnehin. Der Naturforscherkongress, den Alexander 1828 nach seiner Rückkehr nach Berlin und erstmals in Sektionen organisierte, festigte seinen Ruf in der Heimatstadt, deren Universität zwei Jahrzehnte zuvor nach den Vorgaben des älteren Bruders Wilhelm errichtet worden war.

Im Zentrum der Trouvaillen der Berliner Kuratoren steht Alexanders Schreibtisch

Im Observatorium von Paris stand jahrzehntelang Alexanders Schreibtisch, ein wunderbar schlichtes Möbel in bester Biedermeier-Ästhetik, fein gearbeitet und erkennbar funktional. Jetzt bildet es einen Höhepunkt der Ausstellung „Die Gebrüder Humboldt, das Europa des Geistes“, die diesen beinahe schon verwunschenen Ort des Observatoriums ins Bewusstsein der Pariser heben wird. Bénédicte Savoy und David Blankenstein von der TU Berlin haben als Kuratoren der Ausstellung eine Fülle wirklicher Trouvaillen zusammengetragen, die den geistigen Austausch im frühen 19. Jahrhundert – Wilhelm war sogar schon zur Zeit der Revolution in Paris – anschaulich machen.

Dass Wilhelm, der spätere Wissenschaftsorganisator, gegenüber dem abenteuernden Alexander in der Ausstellung etwas zu kurz kommt, liegt in der Biografie der ungleichen Brüder begründet. Es fängt damit an, dass es für den deutschen Begriff der „Bildung“ keine gleichwertige französische Entsprechung gibt. Über Fische oder Meteoriten ließ sich womöglich leichter austauschen als über die Bildung des Menschengeschlechts.

Man schrieb sich Briefe über Briefe, fachsimpelte etwa über Meteoriten

Mit dem damaligen Direktor des Observatoriums, François Arago, verband Alexander eine lebenslange Freundschaft. Jetzt ist es die Paris Sciences et Lettres Research University (PSL), die den organisatorischen Schirm über dieser sehenswerten Ausstellung aufgespannt hat. Die Vernetzung innerhalb der Wissensmetropole Paris war eng und effektiv, sie muss mit den heutigen Kommunikationsmitteln keinen Vergleich scheuen. Häufig schrieb man sich mehr als einen Brief am Tag. Mit Arago tauschte sich Alexander etwa über die geheimnisvolle Erscheinung der Meteoriten aus. Eng zusammengearbeitet hat er auch mit Joseph Louis Gay-Lussac, sie erforschten auf den Schanzen von Paris die Schallgeschwindigkeit.

249 französische Geistesgrößen - und Alexander mittendrin

Wem also gehört Humboldts Œuvre? Paris begriff sich, mit dem Pathos der Französischen Revolution, jahrzehntelang als Mittelpunkt der Weltkultur. Dazu steht weniger im Widerspruch als vielmehr in einem Spannungsverhältnis, dass in Frankreich zugleich der Nationalismus wuchs und die Ideale von 1789 irgendwann überwucherte. Der Fotograf Nadar, der alle Gesellschaftsgrößen vor seine Plattenkamera bekam, veröffentlichte 1854, also noch zu Lebzeiten Alexanders, eine Lithografie mit 249 Köpfen des literarischen, essayistischen und wissenschaftlichen Lebens von Paris. Sehr viele Ausländer sind nicht in diesem zeittypisch karikierenden Zug der Geistesgrößen zu finden; Alexander immerhin als Nr. 108.

Alexander von Humboldts Lebenswerk als Naturforscher, als Geograf, Sprachwissenschaftler und Vertreter zahlreicher weiterer Fachrichtungen „gehört“ niemandem und allen. Sein Schreibtisch – der übrigens Napoleon III. zu gewöhnlich war, um ihn als Geschenk anzunehmen – ist ein Symbol dafür, dass Wissenschaft und überhaupt geistige Tätigkeit überall entstehen und gedeihen können, solange nur Platz ist. Zur Not auch nur für einen Schreibtisch.

Paris, Musée de l'Observatoire, bis 11. Juli. Katalog, 192 S., 29 Euro.

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