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Außer Rand und Band. Ob ein Kind zum Zappelphilipp-Syndrom neigt, lässt sich schon früh erkennen: Sie spielen mit wenig Ausdauer und Intensität. Mit spielerischen Übungen, durch die Kinder Konzentration lernen, können Eltern schon früh gegensteuern.

© picture alliance / dpa

ADHS: Modediagnose oder echter Trend?: Aufmerksam für Unaufmerksamkeit

Sie sind ständig abgelenkt und hyperaktiv – doch Kindern mit ADHS kann früh geholfen werden, auch ohne formale Diagnose oder Ritalin. Man kann mit ihnen zum Beispiel spielerisch die Konzentration schulen.

Ist es ein echter Trend – oder eher eine Modediagnose? Werden Deutschlands Kinder wirklich immer unruhiger und unkonzentrierter und haben das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS)? Oder wird das Thema in Ratgebern und Medienberichten nur hochgespielt und Kindheit und Jugend mit dem „Mode“-Medikament Ritalin leichtfertig „medikalisiert“?

„Veränderte Gesellschaft – veränderte Familien“: Das Motto des diesjährigen Münchener Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie schien eher die Sorge auszudrücken, dass Heranwachsende heute mehr Probleme haben als je zuvor. Tatsächlich erwies sich jedoch, dass sich die Fachleute um einen differenzierteren Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen, seelischem Leid und Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen bemühen. Dazu gehört auch, Hyperaktivität, Konzentrationsprobleme und Impulsivität nicht automatisch als „krank“ zu klassifizieren. „Mit formalen Diagnosen sollten wir vorsichtig sein“, sagt der ADHS-Experte Matthias Döpfner von der Universität Köln.

Das schließe aber keineswegs die Empfehlung ein, einfach abzuwarten, wenn ein Kind zu Hause und in der Kita besonders unruhig und hippelig erscheint, wenn es sich auf kein Spiel konzentrieren kann, wegen seines impulsiven Verhaltens schnell mit seinen Altersgenossen in Streit gerät und Schwierigkeiten hat, dauerhafte Freundschaften aufzubauen. Heute fällt solches Verhalten meist erst in den ersten Grundschuljahren auf, wenn die Aufforderungen ans Ruhigsitzen und an konzentrierte Arbeit wachsen. Und bei den Sieben- bis 13-Jährigen wird dann auch besonders häufig zum Rezeptblock gegriffen.

Konzentrierte "Spielsitzungen" halfen gegen Unruhe und Impulsivität

In letzter Zeit kommen aber immer mehr Hinweise aus der Forschung, dass man schon vorher gegensteuern kann – ohne formale Diagnose und ohne ausdrückliche „Therapie“, sondern spielerisch. Beim Kongress stellte die Psychologin Tanja Wolf Metternich-Kaizman von der Uni Köln zum Beispiel erste Ergebnisse einer Studie vor. Dabei wurden 30 Kinder, die in der Kita als unruhig und impulsiv aufgefallen waren, nach dem Zufallsprinzip entweder einer Gruppe zugeteilt, die ein strukturiertes Spieltraining bekam, oder in eine Kontrollgruppe ohne Training gesteckt. „Vorschulkinder mit Anzeichen von ADHS zeigen deutliche Störungen der Spielintensität und Spielausdauer“, sagt die Psychologin. Die Therapeuten machten ihnen mit verschiedenen Materialien Angebote für Rollenspiele mit „Spiel-Konjunktiv“: „Ich wäre jetzt die Prinzessin, und würde …“ Wichtig war dabei, dass sie die Kinder immer wieder mit Aufforderungen zum Weiterspielen bei der Stange und von Ablenkungen fernhielten. Erstes Zwischenergebnis: Nach 15 dieser konzentrierten „Spielsitzungen“ waren die Kinder nach dem Urteil ihrer Eltern und ihrer Erzieherinnen deutlich weniger unruhig und impulsiv als zuvor. Videoauswertungen durch unabhängige Beobachter, die das bestätigen, stehen allerdings noch aus.

Ebenfalls gute Erfahrungen gibt es mit einer Fortbildung für Erzieher im Rahmen des Programms PEP (Präventions-Programm für expansives Problemverhalten): 144 Erzieherinnen beteiligten sich hier jeweils mit einem von ihnen selbst ausgewählten schwierigen Kind ihrer Gruppe. PEP wurde in einer weiteren Studie auch als Gruppenprogramm für Eltern getestet: Mütter und Väter von insgesamt 243 Kindergartenkindern nahmen dabei in Kleingruppen an wöchentlichen Sitzungen teil, in denen Informationen und Erziehungsregeln zum Umgang mit hyperaktiven Kindern, aber auch Tipps zum Auftanken der eigenen Energien vermittelt wurden. „Je jünger die Kinder waren, desto stärker profitierten die Familien, wie eine Subgruppenanalyse zeigte“, sagt Psychologe Christopher Hautmann.

Auch die Probleme der Eltern könnten eine Rolle spielen

Die Marburger Längsschnittstudie „Aufmerksam“ geht derzeit der Frage nach, welche Rolle Probleme der Eltern spielen, wenn Kindergartenkinder ADHS-Symptome zeigen – etwa Partnerschaftskonflikte oder depressive Verstimmungen der Mütter. 210 Familien wurden dafür bisher über Kindergärten und Ambulanzen gewonnen. Inzwischen gibt es Belege dafür, dass die psychische und soziale Situation der Eltern eine wichtige Rolle spielt – allerdings nur bei der Gruppe von Kindern, die ohnehin ihre Regungen schlecht im Zaum halten und Belohnungen nicht aufschieben können.

Etwa 8,5 Prozent der Kinder im Vorschulalter zeigen Symptome, die auf eine AHDS-Problematik hinweisen. Jungen sind stärker betroffen als Mädchen. Im Grundschulalter ist die Belastung am höchsten. Das ergab die KiGGS-Studie des Robert Koch-Instituts (RKI), in der es um auffälliges und grenzwertiges Verhalten ging. Die Zahlen belegen: Es gibt zwar Grund zur Sorge und zu erhöhter Aufmerksamkeit, aber nicht zur Panik. Bei rund 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen zwischen drei und 17 Jahren in Deutschland zeigen sich seelische Probleme: Ängste, Depressionen oder Verhaltensauffälligkeiten. „Knapp die Hälfte von ihnen hat aber nur leichte Schwierigkeiten“, sagt Robert Schlack vom RKI. Zwischen der Basisuntersuchung von 2006 und der 2012 abgeschlossenen Folgeuntersuchung gab es zudem keine nennenswerten Veränderungen.

Ältere Kinder und Jugendliche, die schon mit der Diagnose ADHS leben, profitieren neben der Behandlung mit Medikamenten und Verhaltenstherapie von schriftlichen Materialien und wiederholten Telefonberatungen, die ihnen helfen, den Alltag selbst besser zu strukturieren. Das zeigen randomisierte Studien. „Diese Art der Unterstützung schließt Versorgungslücken und beugt Therapieabbrüchen vor“, sagt Döpfner.

Unklar ist, ob alle Patienten gleich behandelt werden sollten

Auch wenn der Botenstoff Dopamin eine wichtige Rolle spielt, und auch wenn zumindest bei einer Untergruppe von Kindern ein Zusammenhang mit psychischen Problemen der Mütter ermittelt wurde, handelt es sich bei ADHS um eine heterogene Störung. „Gene, die bei allen Patienten zwingend verändert sind, gibt es nicht“, sagt Tobias Banaschewski vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. „Wir wissen auch längst noch nicht, ob alle Patienten gleich behandelt werden sollten.“

Lange Zeit widmeten sich Studien vorwiegend der Frage, ob Verhaltenstherapie oder Medikamente oder eine Kombination beider bei ADHS wirksamer sind. In einer Studie, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert und die dieses Jahr starten wird, soll nun nach biologischen und psychosozialen Befunden gesucht werden, die eine individuelle Vorhersage über den wirkungsvollsten Behandlungsweg erlauben.

Wie und ob ADHS behandelt wird, wirkt sich nicht nur auf Kinder und Jugendliche, sondern auch auf deren weiteren Lebensweg aus. Im Rahmen der Kölner Adaptiven Multimodalen Therapiestudie wurden 70 Menschen, bei denen im Alter von sechs bis zehn Jahren die Diagnose ADHS gestellt und eine Behandlung begonnen worden war, 17 Jahre später erneut kontaktiert. 23 Prozent von ihnen erfüllen auch als junge Erwachsene die ADHS-Kriterien. Und 59 Prozent haben zumindest abgeschwächt noch unter Restsymptomen zu leiden. Die heute 24- bis 27-jährigen Studienteilnehmer blieben insgesamt häufiger ohne Berufsabschluss und zeigen sich mit ihrem Leben im Schnitt auch etwas unzufriedener als Altersgenossen ohne ADHS-Diagnose.

Ein Drittel der Betroffenen macht uns ernsthaft und langfristig Sorgen“, sagt Döpfner. Dieser Anteil könnte schrumpfen, wenn Eltern und Ärzte schon bei kleineren Kindern aufmerksam für Anzeichen von Unruhe und Unaufmerksamkeit wären. Wichtig seien aber vor allem Programme, mit denen die Familien dann schnell Unterstützung bekommen. Dann käme es bei einigen Kindern womöglich gar nicht erst zur Diagnose ADHS.

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