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Junge Mädchen stehen am Straßenrand und schwenken Hakenkreuzfahnen.

© bpk / Arthur Grimm

50. Deutscher Historikertag: "Volksgemeinschaft": Die Nazis fragten, wer nicht dazugehört

Der Begriff der „Volksgemeinschaft“ entstand bereits 1914, mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Seine brutale Wirkung aber entfaltete er im Nationalsozialismus.

„Volksgemeinschaft“ ist kein genuiner nationalsozialistischer Begriff. Seine erste Hochkonjunktur verdankte er dem Ersten Weltkrieg. Der Satz Wilhelms II. vom August 1914, dass er von nun an keine Parteien, sondern nur noch Deutsche kenne, erzielte weite Resonanz, weil er für den Wunsch vieler Deutscher nach Gleichheit und Inklusion stand. Gerade Juden und Sozialdemokraten hofften, dass sie aufgrund ihrer patriotischen Haltung endlich von der Mehrheit der Gesellschaft als gleichwertig akzeptiert werden würden. Doch obwohl sich bald die Risse in der Kriegsgesellschaft zeigten, blieb die „Volksgemeinschaft“ eine mächtige Formel, die immer wieder an den Mythos der Einigkeit des Volkes im Sommer 1914 anknüpfen konnte.

So wurde die Volksgemeinschaft in Deutschland schon vor 1933, wie der Historiker Hans-Ulrich Thamer hervorhebt, zur „beherrschenden politischen Deutungsformel“. Die liberalen Parteien betonten, dass sich die Gemeinschaft „über die Klassen“ hinweg bilde. Für die Sozialdemokraten hatte sich die Arbeiterklasse mittlerweile zum Volk der Schaffenden ausgeweitet, die einer kleinen und ungerechtfertigt mächtigen Minderheit von Monopolkapitalisten und Großgrundbesitzern gegenüberstanden. Und selbst diese Minorität könnte, wenn sie einer wirklichen Arbeit nachginge, Teil einer sozialistischen Volksgemeinschaft werden. In den Reden Friedrich Eberts als Reichspräsident hatte die „Volksgemeinschaft“ als Inklusion aller Schaffenden ihren festen Platz.

"Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist"

Dagegen begriff die politische Rechte, insbesondere die Nationalsozialisten, bei aller Inklusionsrhetorik die „Volksgemeinschaft“ vor allem in ihrer exkludierenden Dimension. Nicht so sehr die Frage, wer zur „Volksgemeinschaft“ gehörte, stand obenan als vielmehr, wer nicht zu ihr gehören durfte. Gemeint waren jene bereits sprachlich ausgegrenzten sogenannten „Gemeinschaftsfremden“, allen voran die Juden. Der Antisemitismus spielte dabei die entscheidende Rolle. „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.“ So hieß es klar und deutlich im Parteiprogramm der NSDAP aus dem Jahre 1920.

Gleichwohl galt die im Nationalsozialismus praktizierte „Volksgemeinschaft“ bis heute lange als eine der „guten“ Seiten des Regimes. Melitta Maschmann, einst eine hohe Funktionärin im Bund Deutscher Mädel (BDM), erinnerte sich 1979 an ihre Arbeitsdienstzeit in Ostpreußen – und sprach aus, was in Deutschland viele empfunden haben: In dieser Lagergemeinschaft mit anderen jungen Frauen habe sie „ein verkleinertes Modell dessen, was ich mir unter Volksgemeinschaft vorstellte“, erlebt. Und es sei diese Erfahrung gewesen, die sie vor allem an das NS-Regime band. Doch war das Gemeinschaftserlebnis nicht ohne Ausgrenzung der „Gemeinschaftsfremden“, die Inklusion der „rassereinen“ Deutschen nicht ohne die Exklusion, Verfolgung, Vertreibung und schließlich Ermordung von Juden, Roma, Sinti, kranken und behinderten Menschen und vielen anderen zu haben.

Komplizenschaft, um die Volksgemeinschaft herzustellen

Die Herstellung dieser rassistischen und antisemitischen „Volksgemeinschaft“ stellte für die Nationalsozialisten nach der Machtübernahme die zentrale Aufgabe dar. Im politischen Alltag hieß das zuerst, soziale Distanz herzustellen, jedwede Solidarität und Mitleid mit den Verfolgten zu stigmatisieren, um die jüdischen Nachbarn zu isolieren und für rechtlos, ja vogelfrei, zu erklären. Um die Volksgemeinschaft herzustellen, war die mehr oder weniger unverborgene Komplizenschaft, die die geltende Rechtsordnung für Juden in der Praxis außer Kraft setzte, ihnen den Schutz verweigerte und sie der Gewalt preisgab, als Politik „von unten“ notwendig. Ebenso wie die Erlasse, Gesetze und Maßnahmen „von oben“.

So blieb der Boykott jüdischer Geschäfte keineswegs auf den 1. April 1933 beschränkt, sondern stellte gerade in der Provinz, in den kleinen Städten und Orten, ein wirksames Aktionsfeld gegen die jüdischen Nachbarn dar. Mit dem Boykott ließen sich diverse Aktionsformen ausprobieren: Man klebte Plakate, hielt Transparente hoch, stellte Posten direkt vor den Laden, forderte Kunden auf, das Geschäft nicht mehr zu betreten, stieß Beschimpfungen aus oder drohte offen Gewalt an.

Frauen, Kinder und Jugendliche laufen mit, verhöhnen die Opfer

Neben den gewalttätigen Boykottaktionen nahmen im Sommer 1935 – also mehrere Monate vor den „Nürnberger Gesetzen“ – Kampagnen zu, in denen Liebesbeziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden als „Rassenschande“ angeprangert wurden. Überall im Reich wurden angebliche „Rasseschänder“ mit Gewalt durch die Stadt geschleppt. Betrachtet man die Bilder von jenen Umzügen, die am helllichten Tag in aller Öffentlichkeit stattfanden, so fallen die Mengen auf, die solche Umzüge begleiten: Frauen, Kinder, Jugendliche laufen mit, lachen, verhöhnen, beschimpfen, bespucken die Opfer. „Volksgenossen“ und „Volksgenossinnen“ konnten so ihre Teilhabe an der Macht erfahren.

Das NS-Regime bot zahlreichen Eliten den „Ermöglichungsraum“, den sie immer gefordert hatten. Endlich glaubte der Arzt, den deutschen „Volkskörper“ zu heilen. Und mit dem „Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses“ vom Juli 1933, das erstmals in Deutschland die Zwangssterilisation gegen den Willen der Patienten erlaubte, erhielten die Ärzte Gelegenheit dazu: Allein in den ersten drei Jahren verhandelten die neu gebildeten sogenannten Erbgesundheitsgerichte, denen neben einem Richter zwei Ärzte angehörten, annähernd 224 000 Fälle und erkannten in 199 000 Fällen, also in 90 Prozent, auf Sterilisation.

Die Polizei übernahm kriminalbiologische Prämissen

Kriminalpolizisten glaubten, endlich nicht mehr einschränkt durch Recht und Gesetz eine Gesellschaft ohne Verbrecher erreichen zu können. Sie übernahmen bereitwillig kriminalbiologische Prämissen, mit denen rassistisch definierte gesellschaftliche Gruppen als „Asoziale“ in Konzentrationslager interniert und ermordet wurden. Beamte der Wohlfahrtsbehörden teilten ihre Klientel nicht mehr nach Bedürftigkeit, sondern nach Arbeitsfähigkeit. Nunmehr galt das Motto, dass, wer nicht arbeiten könne, auch nicht zu essen brauche. Und auch hier bestimmten rassistische Kriterien bald die Selektion der volksgemeinschaftlich „Nützlichen“ von den „Gemeinschaftsfremden“. Selbst Steuerbeamte besaßen mit dem Steueränderungsgesetz von 1934 alle Freiheit, statt Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger vor dem Gesetz nun gerade die Ungleichheit walten zu lassen. Im Paragrafen 1 machte es die Anwendung der Steuerbestimmungen von der Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Weltanschauung abhängig. Damit konnten die Behörden besondere steuerliche Belastung insbesondere von Juden eigenständig umsetzen. „Volksgemeinschaft“ bedeutet auch Selbstermächtigung, die rassistische Öffnung von Handlungsoptionen.

Der Begriff hat die Geschichtsschreibung verändert

Der Fokus auf die „Volksgemeinschaft“ hat auch den Blickwinkel in der Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus verändert. Frühere Forschungen suchten nach Widerstand oder glaubten in der Trias Täter – Opfer – Zuschauer ein erschöpfendes Modell sozialen Verhaltens zu erkennen. Mit der „Volksgemeinschaft“ steht ein Konzept politischer Geschichte im Mittelpunkt, das nach sozialer Praxis fragt. Es geht um die Vielfältigkeit von Handlungsweisen, von Mit-Tun wie Sich-Abwenden, Bereitwilligkeit wie Widerwille, Anpassungsbereitschaft wie Begeisterung, Sich-Distanzieren wie „Dem Führer entgegenarbeiten“. In dieser Öffnung der NS-Geschichtsschreibung, durch die soziale Praxis, Emotionen, „Aneignungsweisen“ und Teilhabe thematisiert werden, liegt der wissenschaftliche Gewinn des Umgangs mit dem Begriff der „Volksgemeinschaft“.

Der Autor ist Professor für Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkt in der NS-Zeit an der Humboldt-Universität. Beim 50. Deutschen Historikertag, der bis zum heutigen Freitag in Göttingen stattfindet, ist er an einem Panel zum Thema „Volksgemeinschaft und Lebensraum“ beteiligt. Sein Artikel basiert auf einem Beitrag für die Internet-Enzyklopädie Docupedia.

Michael Wildt

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