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Das Leben geht weiter. Ein Specht in einer Baumhöhle innerhalb des Sperrgebiets. Seit 1986 hat die Zahl der Wildtiere in der Region zugenommen. Allerdings treten Studien zufolge auch gehäuft Mutationen auf.

© Vasily Fedosenko/Reuters

30 Jahre Tschernobyl: Leben im Schatten der Katastrophe

Elche, Wölfe und Wildschweine: Im Sperrgebiet um das Kraftwerk Tschernobyl kehrt die Natur zurück.

Von den Fensterläden blättert längst die Farbe ab, manche schlagen im Wind gegen die Wand. Die einst schmucken Bauernhäuser sind zu Ruinen verfallen. Menschen leben hier schon lange nicht mehr. Schließlich liegt das Dorf mitten im Sperrgebiet, aus dem fast alle Bewohner nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 evakuiert wurden. Insgesamt mussten fast 400 000 Einwohner in den Wochen nach der Katastrophe ihre Heimat verlassen. Dafür ist die Natur in das weitgehend menschenleere Land zurückgekehrt, Elche und Wildschweine, Rehe und Wölfe sind die neuen Einwohner der Region.

„Der Einfluss des Menschen verändert ein Ökosystem oft gravierend“, sagt der Naturschutz-Biologe Tobias Kümmerle von der Berliner Humboldt-Universität. So rodeten Menschen schon vor Jahrhunderten die Urwälder und ersetzten die Bäume durch Wiesen und Äcker, auf denen völlig andere Pflanzen und Tiere zu Hause sind. Als die Menschen im Frühjahr 1986 das radioaktive Sperrgebiet verlassen hatten, konnten die ursprünglichen Bewohner zurückkehren.

Birken und Weiden überwuchern die Wiesen

Auf Satellitenbildern sieht Kümmerle, wie sich die einstigen offenen Flächen langsam verändern. „Nach einigen Jahren beginnen Pionierbüsche, Birken und Weiden die Wiesen zu überwuchern.“ Für Detailstudien sind die Bilder aus dem Weltraum aber nur bedingt geeignet. Dazu muss man vor Ort nachsehen und die Veränderungen dokumentieren, wie es russische, ukrainische und weißrussische Forscher bereits in den ersten Wochen und Monaten nach der Atomkatastrophe taten.

Fischotter in der Sperrzone von Tschernobyl.
Fischotter in der Sperrzone von Tschernobyl.

© REUTERS

Deren Ergebnisse fassen Nick Beresford vom Umweltzentrum der englischen Stadt Lancaster und David Copplestone von der Universität Stirling in der Zeitschrift „Integrated Environmental Assessment and Management“ zusammen. 600 Hektar Nadelwald unmittelbar neben dem explodierten Reaktor bekamen mit 60 bis 100 Gray so viel Strahlung ab, dass im Juni 1986 praktisch alle Bäume abgestorben waren. Sie wurden gefällt und vergraben. Da die Atomkatastrophe sehr viele kurzlebige radioaktive Elemente freigesetzt hat, deren Strahlung nach einigen Tagen, Wochen und Monaten verschwindet, verringerte sich die Strahlung dort rasch und bald kamen Pflanzen hoch, die wie zum Beispiel Birken besser mit Radioaktivität umgehen können. Auch in diesem stark belasteten Gebiet wächst daher heute wieder Wald.

Mehr Mutationen bei Vögeln

Eine ähnliche Entwicklung sehen die Forscher bei den Tieren. Im Sommer 1986 zählten sie drei bis sieben Kilometer vom Tschernobyl-Reaktor entfernt im Waldboden nur noch wenige Prozent der Würmer, Insekten und Spinnen, die vorher dort lebten. Nach zweieinhalb Jahren haben sich die Bestände dann weitgehend erholt, allerdings ist die Artenvielfalt geringer. Bis zum Herbst 1986 hat die hohe Strahlung anscheinend auch einen großen Teil der Nagetiere in dieser Region getötet oder die Zahl der neugeborenen Mäuse und Wühlmäuse erheblich reduziert.

Biologen wissen jedoch, dass Nagetiere häufig sehr fruchtbar sind. Bereits im Frühjahr 1987 hatten sich ihre Bestände erholt. Zwar liegt die Strahlenbelastung im radioaktiven Sperrgebiet immer noch deutlich über den Werten vor dem Super-Gau. Tiere und Pflanzen aber scheinen damit umgehen zu können, berichten verschiedene Wissenschaftler.

Diesem Bild einer heilen Welt im Schatten der Katastrophe widerspricht vor allem Anders Møller vom französischen Forschungszentrum CNRS in Paris. Nach seinen Zählungen leben in Gebieten, in denen sie am Tag eine Strahlungsdosis von mehr als einem Milli-Gray abbekommen, heute deutlich weniger Waldvögel als früher. Bei Rauchschwalben zählt er zum Beispiel mehr Mutationen, aus ihren Eiern schlüpfen seltener lebensfähige Küken und viele Vögel haben deformierte Federn.

Vor allem Nagetiere bauen radioaktive Elemente in die Knochen ein

Strahlenbiologen kennen solche Probleme zwar durchaus. Allerdings nur, wenn die betroffenen Tiere von innen bestrahlt werden, weil sie radioaktive Substanzen aufgenommen haben. „Anders Møller hat nur die äußere Strahlung gemessen“, monieren Robert Baker und Ronald Chesser von der Texas Tech University in Lubbock.

Gemeinsam mit ihren Kollegen waren die beiden Forscher mehr als 70 Mal im Sperrgebiet rund um den Unglücksreaktor und haben dort Strahlung gemessen. Unter anderem haben sie auch die innere Dosis von Rauchschwalben in diesem Gebiet bestimmt, die für Mutationen wichtiger als die äußere Belastung ist. Diese innere Dosis sei vergleichbar mit der Strahlenbelastung eines Verkehrspiloten oder einer Stewardess mit drei Flugstunden am Tag in 11 000 Meter Höhe und kann kaum für die beobachteten Veränderungen verantwortlich sein, schließen Baker und Chesser.

Auch Wölfe werden wieder häufiger gesichtet.
Auch Wölfe werden wieder häufiger gesichtet.

© REUTERS

Offensichtlich haben sich die Tiere der Region an die hohe Strahlung angepasst, berichten die Forscher aus Texas. So stecken heute noch beträchtliche Mengen der radioaktiven Isotope Cäsium-137 und Strontium-90 im Boden. Der Organismus von Säugetieren verwechselt diese Substanzen mit lebensnotwendigem Kalium und Kalzium. Vor allem Nagetiere, die häufig ihre Nahrung aus dem Boden oder direkt von der Oberfläche holen, bauen diese radioaktiven Elemente in Muskeln und Knochen ein, wo sie nach den Messungen der Forscher für eine relativ hohe Strahlenbelastung verantwortlich sind.

Wühlmäuse sind ähnlich gesund wie anderswo

Trotzdem finden Chesser und Baker nur wenige Veränderungen im Erbgut der Tiere. Offensichtlich haben sich die Organismen an die hohen Strahlendosen angepasst und reparieren auftretende Schäden im Erbgut schneller als Tiere aus strahlungsarmen Regionen, vermutet das Team. Die Wühlmäuse aus dem Sperrgebiet sind nach diesen Untersuchungen trotz ihrer hohen Strahlenbelastung ähnlich gesund wie die Tiere in nicht belasteten Gebieten.

Für die Fauna sind die negativen Auswirkungen der Strahlenbelastung offensichtlich geringer als befürchtet. Gleichzeitig profitieren sie vom Rückzug des Menschen und erobern ihre alte Heimat rasch zurück. Bereits acht Jahre nach der Katastrophe zählten Wissenschaftler im Umkreis des Tschernobyl-Reaktors dreimal mehr Tiere als vorher, wobei auch in anderen Teilen Europas Wildtiere wieder häufiger anzutreffen sind. Weißrussland hat aus solchen Zählungen längst Konsequenzen gezogen und seinen Teil des Sperrgebietes zum „staatlichen radioökologischen Naturpark“ erklärt. Dort wurden vom Aussterben bedrohte Arten wie Wisente angesiedelt, auf der ukrainischen Seite wurden Przewalski-Pferde freigelassen.

Einfluss der Radioaktivität ist offenbar geringer als die des Menschen

Offensichtlich floriert dieser Naturpark. Jim Smith von der Universität Portsmouth in England und seine Kollegen aus Weißrussland, Japan und den USA zählen mit Helikopter-Flügen und durch wissenschaftliche Auswertung von Wildspuren im Schnee seit der Reaktorkatastrophe, wie viele Rehe, Rothirsche, Elche, Wildschweine und Wölfe dort unterwegs sind. Diese Daten vergleichen sie in der Zeitschrift „Current Biology“ mit anderen Naturschutzgebieten in Weißrussland und Russland – auffällige Unterschiede finden sie nicht.

Offensichtlich hat die Radioaktivität also wenig Einfluss auf die Bestände dieser großen Säugetiere. Viel wichtiger scheint dagegen der Einfluss des Menschen. „Fällt er weg, kommen die Tiere zurück“, fasst der HU-Forscher Tobias Kümmerle zusammen. Von diesem Effekt scheinen vor allem die Wölfe zu profitieren, von denen Smith und Kollegen sieben Mal mehr als in vergleichbaren Gebieten zählen.

Nach Jahrzehnten ist nun auch der Braunbär zurück in der Gegend

Ähnlich gut scheint es den Tieren auch im Sperrgebiet der Ukraine zu gehen. Dort baut Mike Wood von der Universität im englischen Salford seit 2015 in drei Untersuchungsgebieten Fotofallen auf, die in den ersten zwölf Monaten schon weit mehr als 150 000 Aufnahmen verschiedener Tiere lieferten. Immer wieder tauchen darauf Wölfe auf. Elche, Rotwild, Rehe und Wildschweine sehen die Forscher ebenfalls häufig. Aber auch den seltenen Schwarzstorch und Luchse.

Den im Sperrgebiet freigelassenen Wisenten und Przewalski-Pferden geht es gut und sie haben sich kräftig vermehrt. Jedenfalls zeigen die Fotofallen-Bilder immer wieder Pferde ohne die Brandzeichen, mit denen die Ursprungspopulation in die Natur entlassen wurde. Die große Sensation aber war ein Braunbär in der Fotofalle. Diese Art war seit Menschengedenken in der Umgebung von Tschernobyl nicht mehr gesehen worden. So furchtbar die Reaktorkatastrophe dort auch war, der Natur hat sie weit weniger geschadet als die Menschen.

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