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Im Zenit. Nach dem Ersten Weltkrieg begann Albert Einsteins Weltruhm. Das nachkolorierte Foto zeigt ihn 1921 in Berlin.

© imago/Leemage

100 Jahre allgemeine Relativitätstheorie: Albert Einstein: Raum trifft Zeit

Allgemeine Relativitätstheorie: Für Albert Einstein war es ein weiter Weg vom „glücklichsten Gedanken“ seines Lebens zur revolutionären Theorie der Gravitation.

Am 29. März 1914 trifft Albert Einstein mit dem Zug in Berlin ein. Dass er gerade seinen Wohnort wechselt, sieht man dem 35-Jährigen nicht an. Außer einem Geigenkoffer hat er vor allem eine halbfertige, für die Zeitgenossen unbegreifliche Theorie der Gravitation im Gepäck. Ihre Vollendung und experimentelle Bestätigung wird ihn in der ganzen Welt berühmt machen. Erst in Berlin avanciert Einstein zur Ikone der Wissenschaft.

An diesem verregneten Märzsonntag lauern ihm am Bahnhof noch keine Journalisten auf. Sie können nicht ahnen, dass die Preußische Akademie der Wissenschaften soeben den bedeutendsten Forscher des 20. Jahrhunderts für sich gewonnen hat. Und anders als zuvor in der Schweiz soll Einstein in Deutschland frei forschen können. Er gehe nach Berlin „als Akademie-Mensch ohne irgendeine Verpflichtung, quasi als lebendige Mumie“, frohlockte er . „Ich freue mich sehr auf diesen schwierigen Beruf.“

Einstein gilt als "neuer Kopernikus"

In Fachkreisen gilt er längst als „neuer Kopernikus“. Der Physiker Max Planck und der Chemiker Fritz Haber haben seine Berufung minutiös vorbereitet. Haber macht ihn nach der Ankunft mit dem Mäzen Leopold Koppel bekannt, der nicht nur Einsteins Akademie-Stelle mitfinanziert, sondern auch Geld für die Gründung eines Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik bereitstellen möchte: mit Einstein als Direktor. Bis es so weit ist, bietet Haber ihm einen Arbeitsplatz in seinem eigenen Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie an.

Dem Neuberliner ist das ganz recht. Habers Institut in Dahlem liegt fernab vom Trubel der Metropole. Hier möchte Einstein dem Strom der eigenen Gedanken folgen und die newtonsche Theorie der Schwerkraft aus den Angeln heben.

"Niemand wird Ihnen glauben"

Planck, der sich von ihm Impulse für eine neue Theorie der Materie erhofft, hat ihm von dem Vorhaben abgeraten. Erstens werde Einstein mit seiner Gravitationstheorie nicht durchkommen. „Und wenn Sie durchkommen, wird Ihnen niemand glauben.“ Denn bisher hat sich die newtonsche Theorie bei Experimenten und astronomischen Beobachtungen in jeder Hinsicht bewährt.

Einstein befriedigt sie dennoch nicht. In Newtons Physik wirken Kräfte direkt zwischen den Körpern – ohne jede Zeitverzögerung und über beliebige Distanzen hinweg, ob zwischen einem Stein und der Erde oder zwischen zwei Himmelskörpern. Dagegen kann sich Einstein zufolge keine Wirkung schneller entfalten als mit Lichtgeschwindigkeit. Für ihn kommt die Gravitationswirkung indirekt zustande, sprich: Die Erde erzeugt in ihrer Umgebung ein Gravitationsfeld, das auf den Stein wirkt und seine Fallbewegung veranlasst.

Hat das Fallgesetz eine tiefere Bedeutung?

Einstein möchte die Gravitation analog zu Elektrizität und Magnetismus verstanden wissen: als Feld. Im Unterschied zum elektromagnetischen Feld ist die Wirkung der Gravitation universell und stets anziehend. Unter ihrem Einfluss tendieren alle Körper dazu, sich zusammenzuballen. So fällt ein Apfel im Schwerefeld der Erde irgendwann zu Boden.

Warum aber fallen alle Körper gleich schnell, wenn man einmal vom Luftwiderstand absieht? Einstein wunderte sich im höchsten Maße darüber. Hat das Fallgesetz eine tiefere Bedeutung?

Stößt man einen Wagen an, kommt er ins Rollen. Wird der Wagen beladen, setzt er dem Stoß ein größeres Beharrungsvermögen entgegen. Seine Geschwindigkeit hängt von der Masse ab, die Physiker als „träge Masse“ bezeichnen, da sie die Bewegung bremst.

Der "glücklichste Gedanke" seines Lebens

Mit dem Wagen kann man die Masse auch quantitativ bestimmen. Das ist umständlich. Im Alltag legen wir einen Körper dazu auf eine Waage. Da das Wiegen mit einer Waage nur aufgrund des Schwerefeldes der Erde möglich ist, ermitteln wir auf diese Weise seine „schwere Masse“. Verblüffend ist, dass beide Methoden auf dasselbe Ergebnis hinauslaufen. Obschon das erste Verfahren nichts mit der Schwere zu tun hat, sind „träge Masse“ und „schwere Masse“ gleich.

Anders als seine Fachkollegen nahm Einstein dies nicht einfach hin. Während seiner Grübeleien über das Fallgesetz kam ihm im Jahr 1907 der „glücklichste Gedanke“ seines Lebens: Jemand, der frei nach unten fällt, spürt kein Schwerefeld. In einem frei fallenden Aufzug würde eine Waage gar kein Gewicht anzeigen.

Warum fällt der Schlüssel zu Boden?

Fortan fasste Einstein vergleichbare Situationen ins Auge, etwa eine rundum geschlossene Kabine irgendwo im All. Lässt ein Insasse einen Schlüssel los und fällt dieser nach unten, dann kann dies daran liegen, dass er sich im Schwerefeld eines Himmelskörpers befindet. Aber es kann auch sein, dass die Kabine aufgrund eines Antriebs wie ein anfahrender Fahrstuhl nach oben beschleunigt wird.

Oder denken wir uns an der Kabinendecke eine Feder, an der ein Gewicht hängt. Wird die Feder in die Länge gezogen, dann bewegt sich die Masse womöglich in einem Schwerefeld nach unten. Es ist aber genauso gut möglich, dass sich die Trägheit der Masse gegenüber einer Beschleunigung der Kabine bemerkbar macht, und zwar als Zug in die entgegengesetzte Richtung. Trägheit und Schwere, Beschleunigung und Gravitation sind einander äquivalent. Einstein bezeichnete diese Erkenntnis als „Äquivalenzprinzip“. Es erklärt das Fallgesetz und bildet den Kristallisationskeim seiner neuen Gravitationstheorie.

Ein Astronom soll die Hypothese prüfen - und gerät in Gefangenschaft

Als er in Berlin ankommt, hat er bereits weitreichende Schlüsse aus dem „Äquivalenzprinzip“ gezogen. Zum Beispiel, dass Licht im Gravitationsfeld der Sonne vom geradlinigen Kurs abkommt. Die Preußische Akademie hat sogar finanzielle Mittel bereitgestellt, um die hypothetische Lichtablenkung zu prüfen, und zwar bei der nächsten Sonnenfinsternis am 21. August 1914.

Der Astronom Erwin Freundlich bricht im Sommer 1914 mit aufwendiger apparativer Ausstattung nach Russland auf. Einstein hat dieser Expedition entgegengefiebert. Doch auf eine Bestätigung der Lichtablenkung wartet er vergeblich. Im August 1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. Freundlich gerät in russische Kriegsgefangenschaft.

„Unglaubliches hat nun Europa in seinem Wahn begonnen“, schreibt Einstein an Freunde in Holland. Auch die europäischen Gelehrten gebärdeten sich so, als wenn ihnen zu Kriegsbeginn das Großhirn amputiert worden wäre. Unfassbar für ihn, dass seine engsten Kollegen in den Nationalismus einstimmen.

Der Krieg macht Einstein zum pazifistischen Außenseiter

So ruft Planck die Studenten zum Kampf gegen „die Brutstätten schleichender Hinterhältigkeit“ auf. Haber sucht schon bald nach chemischen Reizgasen und Kampfstoffen und wird zum führenden Kopf im deutschen Gaskrieg. Während Einstein dem zwölfjährigen Hermann Haber Nachhilfestunden in Mathematik erteilt, bereitet dessen Vater an der Westfront den ersten großen Chlorgaseinsatz vor. Kurz nach dem Gasangriff in Ypern erschießt sich Habers Frau mit seiner Dienstpistole. Der Chemiker setzt sein zerstörerisches Werk unbeirrt fort. Nach und nach baut er sein Institut zu einer Großforschungseinrichtung für Massenvernichtungswaffen mit schließlich mehr als 1500 Mitarbeitern aus.

Einstein ist inzwischen aus Dahlem fort- und in eine kleine Wohnung in Wilmersdorf umgezogen. Als Schweizer Staatsbürger hätte er dem Krieg den Rücken zukehren und sich ganz in die Forschung zurückziehen können. Stattdessen entwickelt er sich zum engagierten Verfechter des Pazifismus und der Völkerbundidee. Im März 1915 schließt er sich dem „Bund Neues Vaterland“ an, der für einen raschen Verständigungsfrieden und demokratische Reformen eintritt.

Die Raumzeit als schwebendes Tuch

Aus Sicht seiner Kollegen sind seine pazifistischen Bemühungen so hoffnungslos wie sein Versuch, die newtonsche Schwerkraft zu überwinden. Einstein hält an seinen Überzeugungen fest, auch als der „Bund“ verboten wird. Seine Vorstellungskraft befreit ihn von den gedanklichen Fesseln der Gegenwart und reicht in eine Zukunft, in der sich die Staaten zu einem europäischen Bund zusammenschließen und in der sich auch Phänomene wie die Lichtablenkung bestätigen.

Besonders lange tüftelt der Physiker daran, das Gravitationsfeld aus der vorhandenen Materie und Energie zu berechnen. In seiner Theorie ist das Feld Ausdruck einer gekrümmten vierdimensionalen Raumzeit. Einstein vergleicht die Raumzeit „mit einem in der Luft schwebenden (ruhenden) Tuche“. Stellt man sich die Himmelskörper als Kugeln vor, die auf diesem gespannten Tuch rollen, so dellen sie das elastische Tuch ein. Sie krümmen ihre Umgebung. Doch wie?

Die Mathematik, die er benötigt, um diese Krümmung zu berechnen, muss Einstein mühsam erlernen. Seine Notizen verweisen auf Exerzitien, die gerne zugunsten von „Geistesblitzen“ unterschlagen werden. Darauf nämlich, dass Einsteins Jahrhundertwerk auf fortwährenden mathematischen Übungen fußt.

Seine Theorie fällt in sich zusammen

Im Herbst 1915 stürzt seine bisherige Theorie der Gravitation dennoch wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Als er ihre Voraussetzungen überdenkt, erwächst ihm in dem Göttinger Mathematiker David Hilbert plötzlich ein Mitstreiter um deren mathematische Formulierung. Einstein, in Aufregung, gerät in einen Schaffensrausch. Innerhalb von vier Wochen präsentiert er der Akademie nacheinander ungeniert drei Neufassungen.

Seine Feldgleichungen setzt er in dieser Spanne Stück für Stück aus ihm bekannten Bausteinen zusammen. In der Version vom 4. November 1915 ist die Lösung noch unvollständig, auch wenn er sie in höchsten Tönen anpreist. „Dem Zauber dieser Theorie wird sich kaum jemand entziehen können, der sie wirklich erfasst hat.“ Eine Woche darauf legt Einstein den verdutzten Akademiemitgliedern eine erweiterte Feldgleichung vor. Sie führt ihn, wiederum eine Woche später und nach halsbrecherischen Berechnungen, zu einer Entdeckung, die ihm fast den Atem nimmt:

Merkwürdige Abweichungen des Planeten Merkur

Es geht um das Verhalten des Planeten Merkur, der der Sonne am nächsten kommt. Der kleine Planet wird im Herbst 1915 zum wichtigsten Prüfstein der allgemeinen Relativitätstheorie. Merkur läuft auf einer komplizierten Rosettenbahn um das Zentralgestirn. Außer der Sonne beeinflussen vor allem Venus und Jupiter seinen Lauf. Doch selbst wenn man dies einkalkuliert, bleibt eine Diskrepanz zu den Beobachtungsergebnissen bestehen. Sie beträgt, Einstein zufolge, etwa 45 Bogensekunden pro Jahrhundert. Woher rührt der Unterschied? Läuft in Merkurs Nachbarschaft womöglich noch ein weiterer, unentdeckter Planet um die Sonne?

Einstein findet eine Erklärung auf anderer Ebene. Im Rahmen der überarbeiteten Gravitationstheorie dreht sich die Planetenellipse gerade so, dass am Ende des Kalküls ziemlich genau der noch fehlende Betrag herauskommt: 43 Bogensekunden pro Jahrhundert. Der Physiker ist fassungslos vor Erregung. Zum ersten Mal nach acht Jahren Kopfzerbrechen erweist sich seine Theorie der Physik Newtons auch empirisch als überlegen.

Pfeiler der modernen Kosmologie

Eine Woche später ergänzt Einstein seine Feldgleichungen um das letzte noch fehlende Glied. Durch diesen Zusatzterm ändert sich nichts mehr an dem sensationellen Ergebnis für die Drehung der Merkurellipse. Als er der Akademie am 25. November 1915 die abschließende Version seiner allgemeinen Relativitätstheorie vorlegt und seine unermüdliche Grübelei in die bis heute anerkannten Feldgleichungen einmündet, hat er jedoch kurioserweise das gleiche Ergebnis vor sich wie drei Jahre zuvor. Ein Possenspiel?

Jürgen Renn vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und andere Wissenschaftshistoriker haben seine Überlegungen anhand der früheren Notizen nachvollziehen können. Aufzeichnungen in seinem „Züricher Notizbuch“ verraten, dass Einstein im Herbst 1915 auf ganz ähnliche Weise zu einer Lösung vorangeschritten ist wie schon im Winter 1912/13. Der Unterschied: Diesmal interpretiert er die Gleichungen anders.

„Damit ist endlich die allgemeine Relativitätstheorie als logisches Gebäude abgeschlossen“, triumphiert Einstein. Er hat eine Formel entdeckt, mit der er und andere Forscher in Kürze das ganze Universum beschreiben werden. Als Pfeiler der modernen Kosmologie hat sie auch 100 Jahre später nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Auf seiner neuen Theorie beruhen heutige Vorstellungen von schwarzen Löchern, Gravitationswellen und expandierenden Universen. Mehr dazu im zweiten Teil der kleinen Einstein-Serie. Sie erscheint am Mittwoch im gedruckten Tagesspiegel.

Das Buch „Allein gegen die Schwerkraft. Einstein 1914–1918“ (308 Seiten, 21,90 Euro) von Thomas de Padova ist soeben im Hanser-Verlag erschienen. Lesen Sie hier einen Ausschnitt.

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