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Konzerne wie Amazon und die Deutsche Post nutzen Zeitarbeit zum Beispiel für die auftragsreiche Vorweihnachtszeit.

© Monika Skolimowska/dpa

Von Zeit zu Zeit: Warum Firmen so viele Leiharbeiter beschäftigen

Leiharbeit hat in Deutschland deutlich zugenommen. Während Geflüchtete davon profitieren, macht sie andere krank.

Zwei Wochen hier arbeiten, zwei Wochen da, so hat Michael W.* die letzten zehn Jahre gelebt. Nach der Schule hat er keine Ausbildung gemacht, sondern hat als 18-Jähriger bei einer Zeitarbeitsfirma angefangen. Als Kommissionierer. Seitdem ist es seine Aufgabe, die Waren, die ein Kunde im Internet bestellt hat, im Lager zu suchen und sie für den Versand korrekt zu verpacken. Die längste Zeit, die er bei ein und demselben Arbeitgeber blieb, war ein Jahr. Meist wechselte er monatlich. Oder öfter.

Dass er mal gar keine Arbeit hatte, kam nur einmal vor, für zwei Wochen. Trotzdem belastete ihn die Art des Arbeitens. Er wusste nie, wie lang er irgendwo bleiben wird. Was danach kommt. Wie weit er dann morgens fahren muss und wohin. „Wenn die Kollegen nett waren“, sagt Michael W., „fiel es mir besonders schwer, wieder zu gehen.“

Fast eine Million Leiharbeiter gibt es in Deutschland

In den vergangenen Jahren hat Leiharbeit in Deutschland deutlich zugenommen. Im Dezember 2016 gab es mit 993.000 fast eine Million Leiharbeitskräfte, 4,4 Prozent mehr als 2015. In Berlin stieg die Zahl von 33.905 auf 39.825. Das ging kürzlich aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken hervor. Im Vergleich zu 2013 sei das ein bundesweiter Anstieg um 16,4 Prozent. Seit 2003 habe sich die Zahl sogar verdreifacht. Der stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Klaus Ernst, kritisierte: Leiharbeit sei vor allem durch sehr kurze Arbeitsverhältnisse geprägt – so wie es Michael W. beschreibt. Die knappe Mehrheit sei nach Angaben der Bundesregierung spätestens nach drei Monaten beendet worden. 22,3 Prozent dauerten länger als neun Monate, 14,1 Prozent länger als 15 Monate. „Leiharbeit ist organisierte Lohndrückerei, die mittlerweile eine fatale Rolle auf dem Arbeitsmarkt spielt“, sagte Ernst.

Arbeit auf Zeit verunsichert nicht nur oder führt zu Existenzängsten. Laut der Techniker Krankenkasse (TK) waren Zeitarbeiterinnen und Zeitarbeiter im letzten Jahr auch durchschnittlich 20,3 Tage und damit 5,6 Tage länger krankgeschrieben als andere Beschäftigte in Deutschland. „Eine Ursache ist der häufige Wechsel der Arbeitsplätze, denn damit steigt das Unfallrisiko“, sagt DGB-Experte Johannes Jakob. Leiharbeiter übten öfter anstrengende, auch monotone Tätigkeiten aus, hätten längere Fahrtwege zur Arbeit, die Arbeitszeiten wechselten regelmäßig und die Menschen müssten sich immer wieder an neue Betriebssituationen anpassen. Was nicht jedem liegt.

Die Leiharbeiter werden gerne als Puffer eingesetzt

Den Anstieg der Leiharbeit begründet Elke Jahn, Forscherin beim Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), mit dem „Beschäftigungsaufbau insgesamt“. Denn: Lag der Anteil von Leiharbeit 2015 bei 2,67 Prozent, liegt er nach ihren Berechnungen jetzt bei 2,75 Prozent, was „nicht überproportional viel“ sei. Außerdem würden viele Unternehmen davon ausgehen, dass sich die derzeit gute Konjunktur demnächst wieder abschwächen könne. „Die Leiharbeiter werden, wenn es viele Aufträge gibt, gern als Puffer eingesetzt, weil man die Arbeitsverhältnisse schnell beenden kann, wenn es wieder schlechter läuft“, erklärt sie.

Zeitarbeit sei an sich ein sehr heterogenes Feld: Da gebe es Konzerne wie Amazon und die Deutsche Post, die das Instrument für die auftragsreiche Vorweihnachtszeit nutzen und dafür schon oft kritisiert wurden. Es gebe aber auch Firmen, die hoch qualifizierte Ärzte vermittelten. Als Ersatz für einen Berufskollegen, der in den Urlaub fährt, aber will, dass seine Patienten versorgt sind.

Vor allem Geflüchtete finden so schneller einen Job

Soll die IAB-Forscherin die Chancen von Leiharbeit benennen, kommt sie schnell zur Integration von Geflüchteten. Da sie die deutsche Sprache mühsam erlernen müssen, das Arbeitssystem hierzulande ein anderes ist, als sie es aus der Heimat kennen, und ihnen oft Qualifikationen und Zeugnisse fehlen, ist die Zeitarbeit für sie ein schneller und unkomplizierter Weg, einen Job zu finden. Die Möglichkeit, überhaupt irgendwas zu tun. Da verwundert es nicht, dass Flüchtlinge laut einer IAB-Studie bislang am häufigsten einen Job bei einer Zeitarbeitsfirma bekommen haben.

Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) liegt der Anteil derer, die keinen Berufsabschluss haben, im Bereich der Leiharbeit bei 27 Prozent; bei allen Beschäftigten sind es 15 Prozent. Würde allgemein jeder Fünfte eine Helfertätigkeit ausüben, sei das unter den Leiharbeitern mehr als die Hälfte. Deswegen bietet Leiharbeit auch Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen eine Chance, überhaupt eine Stelle zu finden.

Die Löhne sind niedrig

Gegen Zeitarbeit spricht, dass sie immer wieder ausgenutzt wird, um niedrige Löhne zu zahlen, denen manche, wie Michael W. erzählt, „lange hinterherlaufen müssen“. Der Durchschnittslohn in der Leiharbeit liegt nach Antwort der Bundesregierung bei 58 Prozent des allgemeinen Durchschnittslohns. 1816 Euro pro Monat bei Leiharbeit stünden 3133 Euro bei Vollzeittätigkeit gegenüber. Wobei man hier laut Jahn „Äpfel mit Birnen“ vergleichen würde. Die Differenz bei Beschäftigten mit gleichen Qualifikationen liege bei 15 bis 20 Prozent. Dennoch fehlt Zeitarbeitern eine finanzielle Planungssicherheit. „Viele bleiben in der Zeitarbeit stecken, warten, bis sie vielleicht irgendwann übernommen werden“, sagt sie.

Dem Klebeeffekt, das heißt, die Zeitarbeiter werden vom Kundenunternehmen in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis übernommen, komme ihrer Meinung nach nur eine geringe Bedeutung zu. Die Ergebnisse der Anfrage der Linken hatten ergeben: Fast die Hälfte der Leiharbeitskräfte, deren Arbeitsverhältnis beendet wurde, war nach 30 Tagen immer noch ohne Beschäftigung. Nur jeder Vierte hatte ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis außerhalb der Leiharbeit gefunden.

Im besten Fall wird der Leiharbeiter als reguläre Kraft übernommen

Dennoch kann Zeitarbeit laut Jahn ein Sprungbrett in einen regulären Job sein, wenn die Berufserfahrungen in der Zeitarbeit dazu führen, dass Arbeitgeber sie im Vergleich zu Personen, die aus der Arbeitslosigkeit heraus eine Stelle suchen, bevorzugt einstellen. In einer Studie fand sie heraus: Bei deutschen Arbeitslosen steigt die Wahrscheinlichkeit, aufgrund der Zeitarbeit einen regulären Job zu finden, um 15 Prozent. Bei arbeitslosen Ausländern sogar um 17 Prozent.

Die große Koalition hatte in dieser Wahlperiode auf Initiative der SPD hin die Regeln für Leiharbeit und Werkverträge verschärft. Nach dem seit April geltenden Gesetz wird der Einsatz von Leiharbeitern auf 18 Monate beschränkt. Danach muss das Unternehmen sie übernehmen. Zudem müssen Leiharbeiter nach der Neuregelung nach neun Monaten den gleichen Lohn erhalten wie die Stammbelegschaft. Ernst kritisierte den Kompromiss der Koalition: „Wenn es die SPD mit sozialer Gerechtigkeit ernst meint, darf sie nicht ständig vor der Arbeitgeberlobby einknicken.“

Michael W.* ist seit fünf Monaten bei der Zeitarbeitsfirma „Meyer Fachkräfte“ angestellt. Seitdem war er immer beim gleichen Arbeitgeber, wurde übertariflich bezahlt. Nächsten Montag beginnt er mit seinem neuen Job, einem festen, wenn auch zunächst nur auf ein Jahr befristet. Für ihn ist das eine lange Zeit.

* Name von der Redaktion geändert

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