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Bei Abriss oder Sanierung älterer Häuser fallen Polystyrol-Dämmstoffe an, die das giftige Flammschutzmittel HBCD enthalten.

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Dämmstoffabfälle: Baubranche sieht bei altem Styropor schwarz

Berlin und Brandenburg droht 2017 der Entsorgungsnotstand. Seit 1. Oktober sind HBCD-haltigen Dämmstoffe entsorgungspflichtig.

Berlin und Brandenburg droht 2017 der Entsorgungsnotstand für ältere Styroporplatten, wie sie zum Beispiel beim Hausabriss und bei der Sanierung von Fassaden- oder Kellerdämmungen anfallen. Der Grund: Die Kapazitäten zum Verbrennen der seit 30. September als gefährlich eingestuften HBCD-haltigen Polystyrol- Dämmplatten sind derzeit noch zu gering. Dies bestätigten auf Anfrage die Fachgemeinschaft Bau Berlin und Brandenburg e.V. und der Geschäftsführer der SBB Sonderabfallgesellschaft Brandenburg/Berlin mbH (SBB), Berend Wilkens.

Zuvor hatte der Bundesverband der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Rohstoffwirtschaft (BDE) vor massiven Entsorgungsproblemen gewarnt. Auf den Bauabfallbereich komme „ein Entsorgungsnotstand von bislang nie erlebtem Ausmaß zu“, hatte BDE-Präsident Peter Kurth mitteilen lassen. Seit 1. Oktober sind Dämmstoffe, die mehr als 0,1 Prozent des Flammschutzmittels HBCD (Hexabromcyclododecan) enthalten, entsorgungspflichtig. Es steckt unter anderem in Polystyrol-Dämmstoffen, besser bekannt als Styropor.

Die Verwendung von HBCD ist seit 2013 verboten

Die HBCD-haltigen Dämmstoffe werden seit 1960 als Wärmedämmstoffe verwendet. Ihre Lebensdauer wird mit 20 Jahren bei Flachdachdämmungen, bis 50 Jahren in Wärmedämmverbundsystemen angesetzt.

HBCD darf seit 2013 nicht mehr verwendet werden. Die Einstufung des Materials als gefährlichen Abfall ist eine Folge der Novellierung der Abfallverzeichnisordnung (AVV). Betroffen von dieser Regelung sind Dämmstoffabfälle aus Polystyrol-Hartschaum (EPS und XPS), die das Flammschutzmittel HBCD enthalten.

Der Grund für die neue Verordnung: Die Giftstoffe des HBCD sind wasserlöslich. „Durch die Verbrennung soll sichergestellt sein, dass sie nicht mit dem Grundwasser in Berührung kommen oder in die Nahrungskette von Tieren gelangen“, sagt Hans Weinreuter, Energiereferent der Verbraucherzentrale Rheinland- Pfalz. Gefährlich sei das Material nur, wenn es verschluckt wird. Vorschriftsmäßig verbaut stellt es keine Gefahr dar.

Wohin mit den Stoffen, wenn sie entsorgt werden müssen?

Doch wohin mit den Stoffen, wenn sie entsorgt werden müssen? Die Fachgemeinschaft Bau Berlin und Brandenburg e.V. spricht bereits wenige Wochen nach Inkrafttreten der Verordnung von einem „Abfalltourismus“. In Brandenburg gibt es aktuell zwei thermische Entsorgungsanlagen – und zwar in Zossen/Schöneiche und in Schwedt. Doch wird nur gepresstes, kein loses Material angenommen.

„Wir arbeiten mit Hochdruck an der Erweiterung der Anlagenliste, indem wir an weitere Verbrennungsanlagen herantreten, um sie für die Verbrennung von HBCD-haltigen Schaumstoffabfällen zu gewinnen“, schreibt die in der Hauptstadtregion zuständige Sonderabfallgesellschaft Brandenburg/Berlin mbH (SBB) auf ihrer Homepage.

„Wir reden hier nicht über Mehl oder Zucker“, sagt SBB-Geschäftsführer Wilkens. „HBCD- haltige Platten gehören zu den gefährlichsten Stoffen, die Menschen geschaffen haben.“ HBCD gilt laut Europäischer Chemikalienagentur als „besonders besorgniserregend“: Es reichert sich in der Natur und in Organismen an und steht im Verdacht, die Fortpflanzung zu schädigen. Im Brandfall besteht außerdem das Risiko, dass aus HBCD-belasteten Dämmplatten hochgiftige Dioxine und Furane entstehen können. Deshalb ist deren Entsorgung schwierig: Nicht alle Müllverbrennungsanlagen haben die Erlaubnis oder die technische Ausstattung, gefährliche Abfälle zu verwerten. Und so staut sich der Abfall bei den Bauunternehmen.

Der Müll aus Großbritannien landet in Deutschland

Hinzu kommt, dass die Müllverbrennungsanlagen in Deutschland zur Zeit sehr gut ausgelastet sind: „Wir arbeiten auf dem Verbrennungsmarkt an der Kapazitätsgrenze, weil wir große Mengen Hausmüll aus England bekommen“, sagt Michael Schneider, Pressesprecher von Remondis, eines der größten Unternehmen der Wasser- und Kreislaufwirtschaft. In England sei die Deponierung von Abfall der klassische Entsorgungsweg, doch die Deponiegebühren seien drastisch gestiegen. So lande der Müll aus Großbritannien – Brexit hin oder her – in deutschen Landen. Die Rede ist von zwei Millionen Tonnen pro Jahr.

„Der Engpass ist bereits da“, sagt auf Anfrage Claudia Büttner vom Zentralverband des Deutschen Dachdeckerhandwerks. „Zahlreiche Dachdeckerbetriebe können die Dämmstoffe nicht mehr entsorgen, weil Müllverbrennungsanlagen diese nicht mehr annehmen. Es kommt bereits zu ersten Baustopps.“

Auch Entsorgungsunternehmen möchten sich an den gefährlichen Stoffen nicht die Hände schmutzig machen. „Sollten Herstellernachweise oder Analyseergebnisse nicht vor Annahme der Abfälle vorliegen, so wird die Annahme in jedem Fall verweigert“, schreibt zum Beispiel die Otto Dörner Entsorgung GmbH (Hamburg) an einen Kunden. „Anfallende Kosten für zusätzliche Transporte und/oder Behältermieten sind vom Abfallerzeuger zu tragen.“

Durch die Engpässe bei der Entsorgung kann es zu Baustopps auf Baustellen kommen.
Durch die Engpässe bei der Entsorgung kann es zu Baustopps auf Baustellen kommen.

© imago/Westend61

Bauherren bleiben auf den Dämmstoffabfällen sitzen

Damit steigen die Entsorgungskosten – falls überhaupt eine Anlage gefunden wird. Für viele Projekte bedeutet das ganz erhebliche Zusatzkosten, die an die Bauherren weitergereicht werden dürften.

„Vielerorts bleiben Bauherren auf den Dämmstoffabfällen sitzen“, hat der Bundesverband der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Rohstoffwirtschaft e.V. (BDE) in Berlin beobachtet. „Vor der Änderung wurden HBCD-haltige Dämmstoffabfälle überwiegend Gemischen beigefügt, nun müssen sie einzeln verbrannt werden, wozu die Anlagen technisch nicht in der Lage sind“, sagt BDE-Sprecher Matthias Konen auf Anfrage.

Diese Chargen zu verbrennen, sei technisch aufwändig und könne die Anlagen beschädigen. Gründe sind, dass eine Verbrennung dieser Dämmstoffabfälle als Monochargen, also einzeln, aufgrund des physikalischen Verhaltens und des äußerst hohen Heizwertes – analog Mineralöl – in Hausmüllverbrennungsanlagen technisch nicht möglich ist. Der Heizwert von HBCD ist circa dreimal so hoch wie der von Hausmüll.

Der Entsorgungsnotstand ist eingetreten, weil durch die Änderung der AVV über den Bundesrat die Zahl der Verwertungsanlagen, die HBCD-haltige Dämmstoffabfälle annehmen dürfen, über Nacht stark eingeschränkt wurde. So müssen zunächst neue Genehmigungen her.

Die Entsorgungskosten steigen täglich

Die Entsorgungskosten steigen aufgrund des Engpasses nahezu täglich, berichtet Heiko Stiepelmann, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie e.V.: „Sie gehen mittlerweile bis auf 8000 Euro pro Tonne – vorher lagen die Kosten bei circa 130 bis 200 Euro pro Tonne.“

„Mir macht es große Sorgen, dass es durch die aufgerufenen Preise und durch unzureichende Entsorgungsquantitäten zur illegalen Entsorgung kommen könnte“, sagt Reinhold Dellmann, Hauptgeschäftsführer der Fachgemeinschaft Bau Berlin und Brandenburg e.V. „Es drückt!“.

Ein technisches Problem sei, dass beim Abriss Styroporplatten mit Putzanhaftungen anfallen. „Das bekommt man nicht mehr sauber getrennt.“ Dies wird vom Abfall-Wirtschaftler Remondis bestätigt. „Da müssten große Baustoffsortieranlagen vorgehalten werden, doch wer hat die schon?“, sagt Michael Schneider.

100 Tonnen des schädlichen Styropors fallen noch in diesem Jahr an

Die Baubranche habe kein Problem mit der Zielsetzung, die Schadstoffe aus dem Baugeschehen zu verbannen, sondern mit der Umsetzung. „Es muss Sorge getragen werden, dass die Entsorgungskette sicher und lückenlos funktioniert“, sagt Dellmann. „Wir brauchen vernünftige Einführungshorizonte.“

Remondis-Mann Schneider weiß nach eigenen Angaben seit Frühjahr von der Gesetzesänderung. Wie sollte man sich da auf dieneue Gesetzeslage einstellen? „Beim Bau einer Verbrennungsanlage muss mit zehn Jahren Planungs- und Bauzeit gerechnet werden.“

SBB-Geschäftsführer Wilkens folgt Hochrechnungen, nach denen insgesamt 16 000 Tonnen des schädlichen Styropors auf die Hauptstadtregion entfallen. Davon würden Schätzungen zufolge etwa 100 Tonnen noch in diesem Jahr anfallen, 2017 aber etwa 400 Tonnen und 2018 etwa 800 Tonnen. „Als Monochargen könnten wir das derzeit nicht mitnehmen“, sagt er.

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