zum Hauptinhalt
Na, Schlüssel vergessen? Für verpeilte Zeitgenossen erfand Johannes Schweiger 1912 den Durchsteckschlüssel, der so lange im Schloss stecken blieb, bis man die Tür von der anderen Seite wieder abgeschlossen hatte.

© imago/imagebroker

Berliner Schlüssel: Der Bart ist ab

Das Durchsteckschloss ist eine echte Berliner Erfindung – doch den pfiffigen Mechanismus gibt es bald nur noch im Museum zu sehen.

Er ist eine typische Berliner Erfindung und doch vielen unbekannt: der Berliner Schlüssel, auch Durchsteck- oder Doppelschlüssel genannt. Bald gehört das seltsame Ding mit zwei identischen Bärten an beiden Enden der Geschichte an. Schon heute tragen es Nostalgiker als schickes Accessoire am Schlüsselbund – noch bevor es endgültig hinter Glasscheiben im Museum landet.

Auch Mirthe Berentsen war zunächst etwas verstört, als sie vor einigen Jahren nach Berlin in die Urbanstraße zog und ihren neuen Hausschlüssel zum ersten Mal in der Hand hielt. „Ich fand das Ding total merkwürdig“, sagt die heute 30-Jährige schmunzelnd. Es habe einige Zeit gedauert, bis sie entdeckte, wie sie das große, unpraktische Teil ins Schloss stecken und drehen muss, um die Tür auf- und wieder abzuschließen.

Doch das ist gerade der Clou daran. Das ausgeklügelte System wurde 1912 von dem Berliner Schlüsselmacher Johannes Schweiger erfunden. Das Prinzip: Man steckt den Schlüssel ganz normal wie jeden anderen Schlüssel in das Schloss, dreht ihn zu drei Viertel um die eigene Achse und schwupp, die Tür geht auf. Doch Vorsicht, denn jetzt kriegt man den Schlüssel nicht einfach so wieder heraus. Solange die Tür offenbleibt, steckt er im Schloss fest und lässt sich partout nicht herausziehen. Der Trick: Man muss den Schlüssel waagerecht durch das Schlüsselloch hindurchschieben, die Tür aufdrücken, von der anderen Seite schließen, den Schlüssel in die entgegengesetzte Richtung drehen und ihn wieder herausziehen. So, das war’s! Alles klar?

Da ist Fingerspitzengefühl gefragt

So mancher dürfte jetzt die Stirn runzeln: Wozu der ganze Aufwand? Diese Frage lässt auch Camille Châtelain nicht los. „Manchmal habe ich sogar nachts im Bett noch darüber nachgedacht“, sagt der 26-jährige Doppelschlüsselbesitzer. Seit einigen Monaten wohnt er in einer Altbauwohnung in Wedding, dem Bezirk, wo vor genau 103 Jahren der damals 24-Jährige Johannes Schweiger an seiner ungewöhnlichen Erfindung tüftelte. „Ich sehe den Nutzen wirklich nicht“, sagt Châtelain nüchtern.

Dabei ist die Lösung dieses Rätsels ganz simpel. Die Verwendung des Schlüssels zwingt die Mieter dazu, ihre Haustür immer zu verriegeln. Denn jeder Bewohner muss, nachdem er die Tür aufgeschlossen hat, sie sofort wieder abschließen. Anfang des 19. Jahrhunderts kam Schweigers pfiffige Idee dem Wunsch vieler Berliner Mieter entgegen. Sie wollten nicht, dass Fremde Zutritt zu ihren Wohnhäusern haben, die damals üblicherweise über mehrere Hinterhöfe miteinander verbunden waren. Darüber hinaus war der Berliner Schlüssel eine wunderbare Lösung für vergessliche Hausbewohner.

Obwohl der Mechanismus oftmals als „einfach genial“ bezeichnet wird, können Châtelain und Berentsen trotzdem einige Nachteile nennen. So passiert es manchmal, dass sich der Schlüssel von der speziellen Halterung löst, die der Befestigung am Schlüsselbund dient. Und sie verschwindet dann irgendwo in der Tasche oder geht auf der Straße verloren. Auch der Gebrauch erfordert ein gewisses Fingerspitzengefühl. „Ich weiß nie so genau, wie weit ich den Schlüssel in das Schlüsselloch stecken muss, bevor es klappt, ihn zu drehen“, sagt Châtelain.

Heute funktioniert der Schließzwang auch ohne Durchsteckschlüssel

Mit dem Aufkommen der Gegensprechanlage ist der Berliner Schlüssel im Laufe der Zeit immer seltener geworden. „Die Zahl der Türen mit Durchsteckschloss dürfte nach unserer Schätzung nur noch bei wenigen Hundert liegen“, sagt Reiner Wild vom Berliner Mieterverein. Schließlich gab es den Berliner Schlüssel nur in Altbauten, die vor 1918 bezugsfertig wurden. Laut Wild gibt es in Berlin heute etwa 15 000 bis 18 000 Wohnhäuser aus dem Baujahr vor 1918.

Außerdem funktioniert der Schließzwang heute auch ohne Durchsteckschlüssel mit einem handelsüblichen Zylinder. Bedeutet das etwa, dass es den Berliner Schlüssel bald gar nicht mehr gibt? Silvia Starke ist zuversichtlich. „So weit sind wir noch nicht“, sagt die Mitarbeiterin der Firma Kerfin & Co., die 1912 das Patent auf das Durchsteckschloss und Schlüssel als „System Schweiger“ anmeldete. Die Urkunde über die Erteilung des Patentes wurde 1925 mit der Nummer 585232 ausgehändigt. Laut Starke wird der weltweit einmalige Schlüssel für Hoftore in Berlin immer noch häufig verwendet.

Seine lange Geschichte hat auch eine schöne historische Komponente. Nicht nur ließ der Patenteintrag 13 lange Jahre auf sich warten. Auch das neue Schließsystem verbreitete sich fast ausschließlich innerhalb Berlins. Nach dem Mauerbau konnte Kerfin die Schlüssel nicht länger in den Ostteil der Stadt ausliefern. Allmählich verschwanden Durchsteckschlösser dort aus dem Straßenbild.

Mirthe Berentsen freut sich umso mehr, eine echte Rarität in den Händen zu halten. „Ich werde ihn bestimmt aufbewahren. Er ist ein wertvolles Andenken an eine besondere Zeit.“

Zur Startseite