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Aktenberge. So sieht es bei vielen Gerichten aus. Wenn Bürger lange auf ein Urteil warten, müssen sie sich das aber nicht klaglos gefallen lassen.

© dpa

Endlose Gerichtsverfahren: 35 Monate Warten auf einen Termin

35 Monate wartete ein Berliner auf das Finanzgericht. Dafür will er eine Entschädigung. Jetzt entscheidet der Bundesfinanzhof.

Der T5 ist ein Alleskönner. Den Bus aus dem Haus Volkswagen, später Nachfolger des legendären VW-Bulli, wissen kinderreiche Familien zu schätzen, weil in dem Auto bis zu neun Personen Platz nehmen dürfen. Aber auch unter Handwerkern ist der T5 beliebt. Mit ausgebauter Rückbank, verstärktem Motor und Anhängerkupplung dient der Bus nicht nur als geräumiges Transportmittel, sondern ist auch stark genug, Anhänger zu ziehen und Lasten zu bewegen. Nun könnte der T5 auch noch Rechtsgeschichte schreiben – zumindest mittelbar. Denn an diesem Mittwoch beschäftigt sich der Bundesfinanzhof (BFH) in München mit einem Steuerverfahren, das mit einem solchen T5 begann – und sich dann jahrelang hinzog. So lange, dass nun das oberste deutsche Finanzgericht darüber entscheidet, ob der geplagte Steuerzahler vom Land Berlin eine Entschädigung verdient hat (Az: X K 8/13) und in welcher Höhe. Es wäre die erste in der Geschichte der Finanzgerichtsbarkeit. Und es sieht gut aus für den Kläger. Geschlagene 35 Monate brauchte das Finanzgericht Berlin-Brandenburg nämlich, um das Verfahren zu Ende zu bringen. „Zu lange“, sagt Martin Andreas Ruhnke, Geschäftsführer der mrb Nr.1 Steuerberatung GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, der den Kleinunternehmer aus Marzahn in München vertritt. Setzt sich der Berliner Anwalt durch, könnte das vielen Steuerzahlern in Berlin und Brandenburg bares Geld bringen. Durchschnittlich 22 Monate dauert nämlich ein Verfahren vor dem Finanzgericht in Cottbus. Länger als vor fast allen anderen Finanzgerichten der Republik. Gewinnt Ruhnke, könnten sich künftig auch andere Steuerzahler fürs lange Warten entschädigen lassen. „Das ist ein Pilotverfahren“, meint der Berliner, der nicht nur Anwalt, sondern – eine seltene Kombination – auch Wirtschaftsprüfer und Steuerberater ist. Ein erfahrener Mann, seit 22 Jahren ist er im Geschäft. Nun hat der Steuerexperte ein neues Steckenpferd: Entschädigungsklagen gegen die Schneckengerichte, ein neues Rechtsgebiet. Gerade einmal zwölf Klagen sind 2013 beim BFH eingegangen, davon kommen allein acht aus Ruhnkes Büro an der Meinekestraße. Zwei seiner Berliner Fälle werden am Mittwoch verhandelt. Einer dreht sich um die Frage, ob sich das Finanzgericht 27 Monate Zeit nehmen darf, um eine rein verfahrensrechtliche Frage zu klären (X K 3/13), der andere um den T5.

Den kauft Ruhnkes Mandant 2006 auf Pump. 50.000 Euro gibt er für das Auto aus – viel Geld für den kleinen Kfz-Betrieb in Marzahn, in dem neben dem Chef nur noch ein Angestellter arbeitet. Mit seinem Bus, der eine Lkw-Zulassung hat, holt der heute 47-Jährige Unfallautos ab, schleppt sie in seine Werkstatt und repariert die Autos. Nachts steht der Lastwagen in der verschlossenen Werkstatt, privat kurvt der Autoschrauber am liebsten mit dem Motorrad durch die Gegend. Notfalls gibt es auch noch einen Pkw. Der T5 hingegen, versichert Ruhnke, wird niemals für Privatzwecke genutzt. „Der Mann ist ledig und kinderlos, was soll der mit dem Bus?“ Ruhnke spricht für seinen Mandanten, denn der will in der Öffentlichkeit nicht auftauchen. Der Autoreparateur fühlt sich von den Behörden verfolgt und möchte keinen weiteren Ärger. Tatsächlich scheint der Mann die Aufmerksamkeit der Staatsdiener auf sich zu ziehen. Mal gibt es Streit um eine Baugenehmigung, meist ist es aber das Finanzamt Marzahn-Hellersdorf, das ihm zusetzt. Alle drei Jahre rücken die Sachbearbeiter zu Betriebsprüfungen an, das ist häufig. Doch zu beanstanden gibt es nichts. 2007 kommt das Finanzamt dann auf eine einträgliche Idee: Da man einen Lastwagen ja auch privat nutzen könne, will die Behörde Einkommen-, Umsatz- und Gewerbesteuer für die vermeintliche Privatnutzung des Fahrzeugs. Eine Unterstellung als Grundlage für Steuerforderungen? Damit betritt das Finanzamt juristisches Neuland. Versuchskaninchen ist der Unternehmer aus Marzahn.

Der soll nun jedes Jahr 6000 Euro Steuern für die fiktive private Nutzung zahlen, doch der Mann wehrt sich und legt Einspruch ein. Das Finanzamt lehnt ab, Anfang 2010 klagt Ruhnke, das Finanzgericht nimmt die Sache an. Dann passiert – nichts. Das Gericht ist überlastet. 2007 wurden die bis dahin eigenständigen Finanzgerichte in Berlin und Brandenburg zu einem gemeinsamen Finanzgericht mit Sitz in Cottbus verschmolzen. Viele Richter hätten keine Lust gehabt, in der Lausitz zu arbeiten, sagt Ruhnke, das Gericht habe von der ersten Minute an unter einer „Mangelausstattung“ gelitten. Gerichtssprecher Markus Möller räumt einen „Rückstau in der Bearbeitung“ ein. Aber bei „jeder organisatorischen Veränderung dieses Ausmaßes“ komme es doch zu Verzögerungen. Zudem hätten sich die Richter „fast durchgängig“ in neuen Senatsbesetzungen mit ihnen bis dahin unbekannten Verfahren, „die teils bereits ein beträchtliches Alter aufwiesen“, befassen müssen. Der 12. Senat, vor dem Ruhnkes Fall landete, weist jedoch noch eine Besonderheit auf. Er wird vom Präsidenten des Gerichts, Claus Lambrecht, höchstpersönlich geleitet. Der Professor, meint Ruhnke, habe mit seinen Repräsentationspflichten so viel zu tun, dass Arbeit liegen bleibe. Sprecher Möller weist das zurück: „Die konkrete Dauer eines Verfahrens wird in keinem Fall durch die Vielzahl der weiteren dienstlichen Verpflichtungen des Herrn Präsidenten des Finanzgerichts beeinflusst.“ Warum auch immer – das Verfahren kommt nicht in Schwung. Ein häufiges Problem in deutschen Gerichten, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wiederholt kritisierte. Endlich reagiert der Gesetzgeber: Im Dezember 2011 wird das Gerichtsverfassungsgesetz geändert. Menschen, deren Verfahren sich zu lange hinziehen, haben seitdem einen Anspruch auf Entschädigung. Ruhnke rügt die Verzögerung. Doch nichts passiert. Er rügt erneut. Im Februar 2013 setzt der 12. Senat endlich einen Termin für die Verhandlung an. Der T5 ist inzwischen gestohlen worden, Einzelteile findet die Polizei an der weißrussischen Grenze. Mit Fotos und dem Angestellten aus der Werkstatt als Zeugen beweist Ruhnke, dass das Auto niemals privat genutzt worden ist. Das Gericht gibt ihm Recht und fordert den Fiskus auf, die Steuerbescheide zurückzunehmen. Das geschieht. Aus dem Grundsatzverfahren um den VW-Transporter wird nun ein Grundsatzprozess um Entschädigungen. Neuland auch für die fünf BFH-Richter. „Wir schauen uns die einzelnen Fälle an“, sagt BFH-Sprecher Michael Schwenke. „Dann entwickeln wir eine Linie.“

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