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Eine deutsche Ikone: Konrad Adenauer prägte von 1949 bis 1963 als Bundeskanzler die Nachkriegsära. Als überzeugter Europäer trieb er Deutschlands Integration in die Staatengemeinschaft entschlossen voran.

© Paul Bouserath/Konrad-Adenauer-Stiftung

Ein fiktives Interview: Was sagen Sie zur AfD, Herr Adenauer?

Ein (fiktives) Gespräch mit dem ersten Kanzler der Bundesrepublik über die Euro- und Flüchtlingskrise, den Konflikt mit Russland und Europas Zukunft.

Flüchtlingskrise, „Brexit“ oder der Konflikt mit Russland – es sind unruhige Zeiten, die unser Land gerade durchlebt. Wer aber die Gegenwart gestalten möchte, muss die Vergangenheit verstehen, so heißt es. Der Tagesspiegel hat deshalb beim ersten Kanzler der Bundesrepublik nachgefragt.

Während sich die Fragen auf die Gegenwart beziehen, stammen Konrad Adenauers Antworten aus der Vergangenheit: aus seinen Regierungserklärungen, Parlamentsansprachen, seinen Reden vor Wirtschaftsverbänden oder Gewerkschaften. Obwohl das Interview somit nur ein fiktives ist, zeigt es doch eines: Auch heute, fast fünf Dekaden nach seinem Tod, hat uns der Staatsmann aus dem Rheinland noch einiges zu sagen.

Herr Adenauer, ähnlich wie die Bundesregierung heute mussten auch Sie die Zuwanderung und Integration von Millionen von Flüchtlingen bewältigen. Was raten Sie Angela Merkel?

Wir haben in der Bundesrepublik nicht weniger als neun Millionen Flüchtlinge aufnehmen müssen, die infolge der Kriegs- und Nachkriegsereignisse ihre Heimat verlassen mussten. Zeitweise hatten sich in den Westberliner Auffanglagern bis zu zweitausend Menschen täglich gemeldet, die lieber ihre angestammte Heimat aufgaben, als sich dem kommunistischen Terror zu beugen. Der Eiserne Vorhang schloss immer fester die dahinter lebenden Deutschen vom westlichen Leben ab. Um alle diese Probleme meistern zu können, war die Bundesregierung gezwungen, im Vergleich zu anderen Ländern ungewöhnlich hohe Steuern zu erheben. Infolge der Kapitalknappheit aller unserer wirtschaftlichen Unternehmungen war dies eine starke Belastung. Es bedurfte einer sehr klugen Finanzpolitik, um einen Verlust an Initiative und Risikofreudigkeit zu vermeiden, der schwere Rückschläge in unserer wirtschaftlichen Entwicklung, auch des Exports, unvermeidlich gemacht hätte.

Auf ihren Finanzminister kann sich Merkel bislang verlassen. Gegenwind bekommt sie derzeit eher von der bayerischen Schwesterpartei. CSU-Chef Horst Seehofer hat zuletzt gar damit gedroht, die Unions-Gemeinschaft aufzukündigen ...

Unsere Partei, auch wenn sie auf dem festesten Boden steht, den eine Partei überhaupt haben kann, hat in ihrem Kreise doch so viel verschiedene Elemente, dass immer wieder die Gefahr besteht, dass durch irgendetwas, durch irgendeine Aufgabe, die einem zunächst als die wichtigste von allen Aufgaben erscheint, Misshelligkeiten entstehen können. Ich bin nicht der Auffassung, dass solche Meinungsverschiedenheiten uns jemals trennen könnten. Aber das Auftreten solcher Meinungsverschiedenheiten ermutigt natürlich unsere parteipolitischen Gegner, ihre Kraft, uns zu stürzen und an die Macht zu kommen, wenn möglich noch zu verdoppeln. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist es gefährlich, wenn insbesondere nach außen hin in wichtigen Dingen starke Meinungsverschiedenheiten nicht nur auftreten, sondern sogar unterstrichen werden.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und CSU-Chef Horst Seehofer streiten seit Monaten über die Flüchtlingskrise. Adenauer sagt: "Uniformität darf es nicht geben, das wäre Stillstand, das wäre geistiger Tod"
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und CSU-Chef Horst Seehofer streiten seit Monaten über die Flüchtlingskrise. Adenauer sagt: "Uniformität darf es nicht geben, das wäre Stillstand, das wäre geistiger Tod"

© dpa

Seehofer sollte sich also zurücknehmen?

Selbstverständlich kann es keine Uniformität der Meinungen geben. Dafür sind wir Menschen zu verschieden, und dafür sind auch die Dinge, mit denen wir uns zu befassen haben, zu schwierig. Letzten Endes hat auch keiner die Weisheit für sich allein gepachtet, und fast alle Aufgaben lassen sich unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten und erfahren dann auch eine verschiedene Würdigung. Also eine Uniformität kann es nicht geben und darf es nicht geben, das wäre Stillstand, das wäre geistiger Tod. Aber ich bin der Auffassung, dass bei allen Gegensätzen immer das eine Fundament doch nicht vergessen werden darf: Das ist unsere gemeinsame Weltanschauung, und nur aus dieser gemeinsamen Weltanschauung heraus kann man in so bewegten Zeiten wie den unsrigen Politik machen.

Sie haben Zeit Ihres Lebens für die europäische Einigung gekämpft. Fragt man die Deutschen hingegen heute, scheint die Begeisterung für das europäische Projekt zu schwinden. Neue Parteien wie die AfD sprechen sogar schon vom Ende der Staatengemeinschaft. Können Sie die Kritiker verstehen?

Nach der Katastrophe des Jahres 1945 musste es für jede deutsche Regierung die erste Aufgabe sein, Deutschland wieder einen angesehenen Platz in der Gemeinschaft der Völker zu erringen. Geholfen und genutzt hat uns auf diesem Wege, dass wir uns vom ersten Tage an entschieden und entschlossen zu der auch aus anderen Gründen zwingend notwendigen europäischen Integration bekannt haben. Hier handelt es sich darum, in freier Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Völkern den falschen und übertriebenen Nationalismus, der Ursache und Anlass so vieler blutiger Kriege in der Vergangenheit gewesen ist, durch Zusammenschluss und Zusammenarbeit an praktischen Aufgaben zu überwinden. Es ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich, wenn unrealistische Politiker heute fordern, dass die europäischen Zusammenschlüsse zurückgestellt oder gar aufgegeben werden. Ganz und gar unrealistisch ist es – und den Interessen Deutschlands abträglich –, wenn sogar geäußert wird, die Verträge seien tot.

Die Zeiten des Nationalsozialismus liegen lange zurück, für viele Bürger ist der Weltkrieg einzig noch ein Kapitel im Geschichtsbuch. Statt als Friedensgarant wird die europäische Staatengemeinschaft deshalb von vielen als überbordende bürokratische Institution wahrgenommen, die ihre Mitgliedsstaaten bevormundet und gängelt ...

Unser Ziel ist nicht, eine alles staatliche Leben aufsaugende europäische Zentralgewalt, vielmehr wird die Gemeinschaft föderativen Charakter haben, das heißt, weite Bezirke staatlichen Lebens werden den Mitgliedstaaten überlassen bleiben. Das gilt namentlich für das kulturelle Leben, soweit es einer staatlichen Behandlung bedarf, aber auch für viele andere Gebiete. Überhaupt müssen sich die Europäer vor einem Fehler hüten, der uns von unseren amerikanischen Freunden sehr oft vorgehalten wird: dem Perfektionismus. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen. Wir müssen Erfahrungen sammeln. Wir müssen die Dinge reifen lassen. Wir müssen Rücksicht nehmen auf die öffentliche Meinung in unseren Ländern. Diese öffentliche Meinung muss durch den Erfolg unserer Vereinigungsarbeit auf den verschiedenen Gebieten überzeugt werden. Weisheit und Maßhalten sind ebenso wichtig wie Entschlusskraft und vorwärtsdrängende Energie.

Die AfD beschwört das Ende der Europäischen Union. Adenauer sagt: "Es ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich, wenn unrealistische Politiker heute fordern, dass die europäischen Zusammenschlüsse zurückgestellt oder gar aufgegeben werden."
Die AfD beschwört das Ende der Europäischen Union. Adenauer sagt: "Es ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich, wenn unrealistische Politiker heute fordern, dass die europäischen Zusammenschlüsse zurückgestellt oder gar aufgegeben werden."

© dpa

Ihre Besonnenheit in aller Ehren – aber Europa steht vor gewaltigen Aufgaben: Millionen Flüchtlinge drängen auf den Kontinent, die Euro-Krise ist längst nicht überstanden und die europäischen Institutionen befinden sich in einer Strukturkrise. Die Europäer haben wahrlich keine Zeit zu verlieren.

Ich verstehe Ihre Ungeduld sehr gut. Auch ich bin oft sehr ungeduldig. Aber vergessen wir nicht, dass in mehr als zweitausend Jahren europäischer Geschichte innerhalb Europas Dämme aufgeworfen worden sind, die man nicht in wenigen Monaten abtragen kann. Was sich in Europa in diesen Jahren vollzieht, ist wahrhaft revolutionär. Tief eingewurzelte Anschauungen müssen über Bord geworfen werden. Die gesamte politische Erziehung der europäischen Völker, die an der Idee der Nation als dem letzten Wert politischer Entscheidung orientiert war, muss umgestellt werden. Das geht nicht von heute auf morgen.

Dennoch, die EU durchlebt in diesen Tagen ihre größte Krise. In wenigen Monaten werden die Briten über den „Brexit“, einen möglichen Austritt, abstimmen. Würde damit nicht das Ende der europäischen Staatengemeinschaft eingeläutet?

Es wäre ein schwerer methodischer und politischer Fehler, die Frage so zu stellen, dass Großbritannien nur entweder volles Mitglied der europäischen Gemeinschaft oder Nicht-Mitglied sein könnte. Die Wahrheit ist, dass es zwischen der vollen Mitgliedschaft in der europäischen Gemeinschaft und der absoluten Nicht-Mitgliedschaft Zwischenstufen gibt, Möglichkeiten organischer Verknüpfungen der kontinentalen europäischen Gemeinschaft mit Großbritannien. Eine partielle, relative Zugehörigkeit zu unserer föderativen Gemeinschaft also; das ist es, was wir uns gewöhnt haben, mit dem Ausdruck „Assoziation“ zu bezeichnen.

Griechenland wirft Deutschland vor, die eigene Dominanz zu missbrauchen und dem Land ein Spardiktat aufzuzwingen. Adenauer sagt: "Niemand braucht das neue Deutschland zu fürchten"
Griechenland wirft Deutschland vor, die eigene Dominanz zu missbrauchen und dem Land ein Spardiktat aufzuzwingen. Adenauer sagt: "Niemand braucht das neue Deutschland zu fürchten"

© dpa

In Europa wächst allerdings auch der Unmut über die deutsche Dominanz. Während der Euro-Krise etwa warfen Politiker aus Griechenland den Deutschen vor, sie missbrauchten ihre ökonomische Stärke um den schwächeren Mitgliedsstaaten ein Spardiktat aufzubürden.

Ich weiß nicht, ob eine starke deutsche Wirtschaft Aggressionsmittel ist. Ich möchte es bezweifeln. Und nach allem, was vorgegangen ist – wir müssen das offen sagen –, ist die psychologische Einstellung der Nachbarn Deutschlands zu verstehen, wenigstens in gewissem Grade zu verstehen. Ich lasse jetzt dahingestellt, ob man in dem Misstrauen gegenüber der deutschen Entwicklung nicht zu weit geht. Ich nehme an – und ich glaube, man kann diese Annahme wohl mit Recht hegen –, dass auch hier die Zeit mildernd einwirkt. Niemand braucht das neue Deutschland, auch wenn es wieder seine Einheit und seine Freiheit besitzt, zu fürchten. Wir haben den Nationalsozialismus, seine Unterdrückung, seine Knechtschaft, seine furchtbaren Folgen, diesen schrecklichen Krieg erlebt. Wir haben so schwer darunter gelitten, und wir leiden darunter noch immer so schwer, dass wir vielleicht mehr als manche andere Völker erkannt haben, welch hohes Gut Recht ist und welch hohes Gut der Frieden ist.

Europa beschäftigen derzeit nicht nur die inneren, sondern auch die äußeren Konflikte. Russland hält der Europäischen Union und der Nato vor, die eigene Sicherheit in der internationalen Staatengemeinschaft zu bedrohen ...

Die Europäische Gemeinschaft wie auch die anderen Zusammenschlüsse der freien Welt dienen ausschließlich der friedlichen Zusammenarbeit und tragen rein defensiven Charakter.

Sie können also nicht nachvollziehen, wenn manche einen sanfteren Kurs in der Russland-Politik fordern?

Soll ich denn eine Politik der Schwäche wollen? Dann liefen wir doch den Russen in die geöffneten Arme geradezu herein. Und so weit ich die russischen Machthaber kennengelernt habe, imponiert denen eine Politik der sogenannten Stärke viel mehr als eine Politik der Schwäche. Vielleicht wird sich in Russland eine innere Entwicklung allmählich anbahnen, vielleicht eine innere Entwicklung, die zu besseren Verhältnissen führt. Auf alle Fälle wird diese Entwicklung eine sehr lange Zeit brauchen. Und jeden Augenblick kann die Entwicklung wieder einen anderen Lauf nehmen. Und wenn ich nun einmal verurteilt bin, zu wohnen neben einem Lande, neben einem ungeheuer starken Lande, das für sich in Anspruch nimmt, die Welt beherrschen zu wollen, da muss ich doch, bei Gott, auf der Hut sein, damit ich nicht der Erste bin, der gefressen wird.

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