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Omnipräsent. Kein Unternehmen hat Seattle so verändert wie Amazon.

© imago/ZUMA Press

Amazon: Wie der Internetkonzern uns ins reale Leben folgt

Das Amazon-Universum: In Seattle, wo Amazon zu Hause ist, führt kein Weg mehr am Unternehmen vorbei. Was sich in der Heimat des weltgrößten Onlinehändlers tut.

Es ist noch nicht lange her, da war der nördliche Rand von Seattles Innenstadt dominiert von Fabrikbauten und Lagerhallen. Ein Industriegebiet, abends wie ausgestorben, durch das Menschen allenfalls hindurchfuhren, um anderswo hinzugelangen.

Jetzt kennzeichnen ein gewaltiger Turm und drei auffällige, kugelförmige Glasbauten den Stadtteil South Lake Union. Ihre schimmernden, futuristischen Fassaden stehen symbolisch für die High-Tech-Hochburg, zu der sich das Viertel entwickelt hat. Amazons beeindruckendes neues Hauptquartier wird umgeben von immer neuen Hochglanz-Gebäuden, die den inzwischen mehr als 40 000 Mitarbeitern Raum geben.

Seattle dient als Testmarkt für Amazon

Die Verwandlung, die innerhalb des zurückliegenden Jahrzehnts erfolgt ist, hat auch zahlreiche Wohnhäuser und Szenerestaurants in die vormals karge Gegend gebracht. In enger Taktung strömen zu jeder Tageszeit Amazon-Mitarbeiter aus Bussen und über die Straßen, meist in Jeans und dunklen Sweatshirts und mit großen Rucksäcken.

Wenige Meter vom Sitz des weltgrößten Internetkonzerns entfernt befindet sich eine Filiale des Biosupermarkts Whole Foods. Seit Kurzem sind viele Produkte im Preis gesenkt – da hat Amazon offiziell die Geschäfte übernommen. Die noble Lebensmittelkette ist der jüngste Zukauf des Unternehmens.

An bunten Trucks in der Innenstadt kann man Bestelltes abholen.
An bunten Trucks in der Innenstadt kann man Bestelltes abholen.

© imago/ZUMA Press

Seattle – und South Lake Union insbesondere – dienen oft als Testmarkt für Amazon. Zuletzt bedeutete das vor allem: Für Technologien und Konzepte, die Amazons Siegeszug in der Welt des stationären Handels vorantreiben sollen.

„Menschen werden niemals nur online kaufen“

Amazon liefert Millionen Artikel von einem Tag auf den nächsten. Einige binnen weniger Stunden. Neuerdings können Kunden in Seattle bestimmte Einkäufe auch schon wenige Minuten nach der Bestellung einsammeln, etwa an einer Abholstation auf dem Uni-Campus.

„Menschen werden niemals ausschließlich online kaufen“, sagt dennoch Vibhanshu Abhishek, Technologieexperte an der US-Universität Carnegie Mellon. Manchmal brauche es die sofortige Befriedigung, etwas in Händen zu halten. Amazon weiß das – und handelt danach. Erst hat das Unternehmen eine Buchhandlung eröffnet und seine Regale dabei ebenso mit Büchern wie mit Geräten gefüllt, über die sich Bücher elektronisch lesen oder vorlesen lassen.

Dann installierte der Händler einen Spätkauf in der Nähe der Konzernzentrale, wo registrierte Amazonkunden abgepackte Mahlzeiten und Snacks finden und statt mit Bargeld oder EC-Karte über ihre Kundenkonten bezahlen können.

In Einkaufszentren stehen immer mehr Flächen leer

Die Übernahme von Whole Foods für 13,7 Milliarden Dollar, umgerechnet elfeinhalb Milliarden Euro, ist der bisher größte Deal. Der Konzern macht damit deutlich, dass es ihm ernst ist mit dem Offline-Geschäft. „Dieser Schachzug hat Amazon im Offline-Spiel wahrscheinlich fünf bis zehn Jahre vorangebracht“, sagt Branchenbeobachter Abhishek.

Die Lebensmittel-Boten mit den hellgrünen Amazon-Fresh-Taschen sind in Seattle allgegenwärtig.
Die Lebensmittel-Boten mit den hellgrünen Amazon-Fresh-Taschen sind in Seattle allgegenwärtig.

© Reuters

Das bringt traditionelle Händler zunehmend in Schwierigkeiten. In Seattles Einkaufszentren stehen immer mehr Flächen leer. Unlängst hat der Elektronikhändler RadioShack Konkurs angemeldet – bereits zum zweiten Mal binnen zwei Jahren. Kaufhäuser mit langer Geschichte, so wie Macy's, JC Penney oder Sears, schließen in den USA hunderte von Standorten.

Der weltgrößte Supermarktbetreiber Wal-Mart ist eine Partnerschaft mit Google eingegangen. Andere Händler überall auf der Welt, so wie die Drogeriekette Rossmann in Deutschland, schließen sich Amazon an, um sicherzustellen, dass ihre Produkte weiterhin zum Kunden finden (siehe Text links).

Supermarkt ohne Kassen

Vergleichsweise gut schlägt sich da noch die ebenfalls in Seattle ansässige Warenhauskette Nordstrom – hauptsächlich dank des erfolgreichen Ausbaus ihrer Internet-Aktivitäten und wachsender Online-Umsätze. Amazon freilich bleibt der uneinholbare Online-König: 2016 entfielen 53 Prozent des Wachstums im Bereich E-Commerce auf Amazon.

Der Wert stationärer Läden dürfte für Amazon auch in der Vernetzung mit seinen umfangreichen Online-Datenbanken liegen. In einem kleinen Geschäft in South Lake Union hat der Konzern einen Supermarkt unter dem Namen „Amazon Go“ eröffnet. Bisher ist er Angestellten vorbehalten. Wenn sie den Laden verlassen, werden die gewählten Produkte automatisch über die Amazon App erfasst und die Preise vom online hinterlegten Konto abgebucht. Schlange stehen muss keiner – es gibt keine Kassen.

Das Modell erlaubt es dem Konzern, Rückschlüsse auf Vorlieben und Einkaufsgewohnheiten der Verbraucher zu ziehen und darauf basierend Kaufempfehlungen zu geben. „Es hilft Amazon, die Mechanismen eines physischen Einkaufs zu verstehen“, sagt Handelsexperte Abhishek. Er glaubt, dass Teile dieser Technologie mittelfristig auch in den Märkten von Whole Foods eingeführt werden könnten. Wie lange wird es dort noch Kassierer geben? Bei Amazon heißt es, der Konzern habe diesbezüglich keine Pläne. „Im Zuge der Übernahme ist kein Stellenabbau vorgesehen.“

Auch eine stationäre Buchhandlung betreibt Amazon in Seattle.
Auch eine stationäre Buchhandlung betreibt Amazon in Seattle.

© AFP

In Seattle belegt der Konzern ein Fünftel aller Büroflächen

Wal-Mart experimentiert ebenfalls mit dem kassenlosen Einkauf. In einigen Filialen können Kunden die auf den Waren befindlichen Barcodes scannen und per App bezahlen. Allerdings wollen Mitarbeiter, die am Ausgang stehen, dann doch noch kurz die Quittung sehen.

Auch im Lebensmittelgeschäft verbindet Amazon zunehmend Online- und Offline-Welt. Der in Berlin vor vier Monaten gestartete Lieferdienst Fresh hat in Seattle bereits reichlich Wandel durchlebt. Viele stellen ihren Einkauf nunmehr im Internet zusammen und holen die fertig gepackten Tüten auf dem Nachhauseweg an einer Drive-In-Station ab.

19 Prozent aller Büroflächen in Seattle, hat die Zeitung „Seattle Times“ ausgerechnet, sind bereits von Amazon besetzt. Das entspreche in Summe fast 800 000 Quadratmetern.

Inmitten der zahlreichen Büro- und Ladenflächen hat Amazon dabei auch öffentliche Plätze und eine Obdachlosenunterkunft eingerichtet. Außerdem gibt es Stände, an denen Gratis-Bananen an Passanten verschenkt werden.

Mieten steigen, der Verkehr kollabiert

Seattle ist schon immer um seine Industrie herumgewachsen. Insbesondere als langjährige Heimat von Boeing, bevor der Flugzeugbauer seinen Sitz nach Chicago verlagerte. Auch der riesige Softwarekonzern Microsoft ist in der Region zu Hause, gibt in den Vororten mindestens ebenso vielen Menschen Arbeit wie Amazon.

Kein anderes Unternehmen aber hat die Stadt so verändert. Nicht alle, die hier leben, sind darüber froh. Die Mieten sind seit 2010 um 64 Prozent gestiegen. In einigen keineswegs luxuriösen Stadtteilen im Zentrum geben die Menschen im Durchschnitt bereits mehr als 2000 Euro fürs Wohnen aus. Der Verkehr droht zu kollabieren.

Vorerst nur für die zahlreichen Mitarbeiter eröffnete der Konzern „Amazon Go“, wo Einkäufe beim Verlassen des Ladens automatisch erfasst werden.
Vorerst nur für die zahlreichen Mitarbeiter eröffnete der Konzern „Amazon Go“, wo Einkäufe beim Verlassen des Ladens automatisch erfasst werden.

© Amazon

Die Statistiken sind das eine. Das andere ist die persönliche Wahrnehmung: Viele haben zunehmend den Eindruck, nicht länger in Seattle, sondern in Amazon-City zu leben. „Seht nur, was aus Capitol Hill geworden ist“, klagen sie. Das Viertel östlich von Amazons Kommandozentrale war früher bekannt für eine bunte Schwulen- und Künstlerszene. Jetzt sei es randvoll mit „Technikfreaks.“

Einige Anwohner widerstehen darum bis heute konsequent den bequemen Verlockungen von Amazon. Sie kaufen, wenn nicht im Geschäft um die Ecke, dann doch wenigstens bewusst in kleineren Onlineshops. Doch diese Gruppe schrumpft.

„Der größte Lotteriegewinn aller Zeiten“

Die meisten verfolgen den beispiellosen Aufstieg des Unternehmens mit gemischten Gefühlen. Geschäftsleute halten Amazon zugute, wie sehr es Seattles Wirtschaft stimuliert hat. Der Konzern zieht junge Talente aus aller Welt an, und das nicht nur in die eigenen Büros. Etliche kommen auch, um nebenan ihre eigenen Unternehmerträume zu verwirklichen. Die Start-up-Landschaft blüht.

Die überraschende Ankündigung von Amazon in der vergangenen Woche, dass ein Standort für ein zweites, gleichberechtigtes Hauptquartier an anderer Stelle in Nordamerika gesucht werde, hat wilde Spekulationen hervorgerufen. Bedeutet das, dass Amazon die Stadt langfristig räumen will? Haben sich Stadtverwaltung und die Bewohner in der Vergangenheit zu ablehnend gezeigt? Viele fühlen sich an den Tag erinnert, an dem Boeing der Stadt den Rücken kehrte – und die Mehrheit seiner Mitarbeiter zurückließ. Amazon betont, dass der neue Konzernsitz den bestehenden ergänzen, keineswegs aber ersetzen soll.

„Hoffentlich gelingt es Seattle, die entscheidenden Mitarbeiter und das Wachstum in der Stadt zu halten“, sagt der in Seattle lebende Start-up-Investor Greg Gottesman. „Wenn nicht, darf sich eine andere Stadt über den größten Lotteriegewinn aller Zeiten freuen.“

Aus dem Englischen übersetzt von Maris Hubschmid.

Lesen Sie hier, was von Amazon in Deutschland zu erwarten ist.

Rachel Lerman

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