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Die Grenze zwischen Arbeit und Freizeitleben verschwindet immer mehr.

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24-Stunden-Gesellschaft: Immer erreichbar, immer verfügbar

Die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit löst sich immer mehr auf. Wer will, kann rund um die Uhr konsumieren. Was ein Leben ohne Pause bedeutet.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schliefen die Deutschen im Schnitt acht bis neun Stunden. Heute sind es sieben. Und es wird fleißig daran gearbeitet, dass die Technik den Menschen noch schneller und effizienter schlafen lässt. Wenn er nach vier Stunden schon erholt genug ist, kann er länger nützlich sein, so der Gedanke. Statt im Bett zu liegen, kann er arbeiten. Kommunizieren. Konsumieren. Ist doch naheliegend, in einer 24-Stunden-Gesellschaft.

Wer möchte, kann bis Mitternacht im Supermarkt einkaufen. Manche Filialen haben rund um die Uhr geöffnet. An acht Sonntagen im Jahr ist in Berlin verkaufsoffen. Wobei im Internet sowieso alles immer verfügbar ist. Amazon bietet mittlerweile an, innerhalb einer Stunde zu liefern, was man braucht. Abends an der Kasse stehen nervt! Warum nicht eine Kochbox bestellen. Statt sich Rezepte zu überlegen und Zutaten zu besorgen, gibt es das Komplettangebot nach Haus. Wer abends auch dazu zu müde ist, ruft Lieferdienste wie Lieferando und Deliveroo an und bekommt die Gerichte vom Restaurant um die Ecke. Auch wenn es nur wenige Meter entfernt ist.

Keine Ruhe, keine Pause mehr

Zeit ist zum Luxusgut geworden. Die Menschen sind bereit, für mehr Zeit Geld zu zahlen. Eine Forsa-Studie hat kürzlich ergeben, dass die Deutschen sich einen persönlichen Assistenten wünschen. Bei einem Lottogewinn von 40 Millionen Euro würde die Mehrheit jemanden einstellen, der für sie einkaufen geht, kocht und putzt.

Es ist seltsam: Eigentlich haben die Menschen heute viel mehr Freizeit als vor hundert Jahren. Doch gefühlt haben sie keine. Jeder ist gestresst. Die Technik sollte den Alltag einfacher machen. Stattdessen sind viele überfordert. Machen „Digital Detoxing“.

Jemand, der diesen Widerspruch auflösen kann, ist Peter Walschburger, Biopsychologe an der Freien Universität Berlin. Was ihm auffällt: „Wir haben uns eine Umwelt geschaffen, die nicht mehr zu unserer ursprünglichen passt.“ Zwar habe sich die Welt über die Jahrtausende immer weiter verändert, aber nicht so sehr das Wesen des Menschen, mit seinen Emotionen und Grundbedürfnissen. Vor allem die Ruhe, die jeder braucht, habe die Gesellschaft seit der Industrialisierung mehr und mehr vernachlässigt. „Die Menschen haben die Pause abgeschafft“, sagt Walschburger. Sie passt nicht zur Leistungsgesellschaft.

Immer mehr psychische Erkrankungen

Jeder Vierte arbeitet in Deutschland mittlerweile am Wochenende. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov ergab vor Kurzem, dass fast jeder Zweite nach Feierabend seine beruflichen E-Mails checkt. Etwa jeder Dritte hat in seinem letzten Urlaub mindestens einmal in den Posteingang geschaut. Die ständige Erreichbarkeit, auch nach Feierabend, wird von jedem Dritten als „eher“ oder „sehr belastend“ empfunden. Für die Mehrheit der unter 30-Jährigen ist sie schon normal geworden.

Ein Fünftel der Befragten gab in der Umfrage an, in ihren Schlaf- und Erholungszeiten beeinträchtigt zu sein. Ein Drittel fühlte sich in seinem Familienleben, seiner Freizeit, gestört. Die Folgen sind im schlimmsten Fall stressbedingter Bluthochdruck und psychische Leiden wie Ängstlichkeit, Schlafstörungen oder Depressionen. Wobei lieber Burn-out gesagt wird, was nach Überarbeitung klingt. Die Häufigkeit von psychischen Erkrankungen hat sich in den vergangenen Jahren beinahe verdoppelt. Die Krankschreibungen in Deutschland haben im ersten Halbjahr 2016 den höchsten Stand seit 20 Jahren erreicht.

Der Mensch verlernt die Langeweile

Die Grenze zwischen Arbeit und Freizeitleben verschwindet immer mehr.
Die Grenze zwischen Arbeit und Freizeitleben verschwindet immer mehr.

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Einige Konzerne haben inzwischen Konsequenzen gezogen: Der Vorstand der Deutschen Telekom hat angeordnet, dass leitende Angestellte ihren Mitarbeitern nach Dienstschluss, am Wochenende und im Urlaub keine Nachrichten mehr schicken. „Jeder kann sich darauf berufen“, sagte ein Telekom-Sprecher. „Erholzeiten sind Erholzeiten.“ Bei BMW und Volkswagen räumen spezielle Regelungen den Beschäftigten ein Recht auf Nichterreichbarkeit ein. VW hat schon vor einigen Jahren eine Mail-Sperre eingerichtet. So können Nachrichten im Feierabend weder empfangen noch gesendet werden. Daimler stellt seinen Mitarbeitern frei, eingehende E-Mails während des Urlaubs löschen zu lassen.

Alleinverdienermodell existiert nicht mehr

Dass die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben aufgeweicht wird, ist problematisch. Andere Arbeitszeiten wünschen sich aber nicht nur die Kunden, die rund um die Uhr Erwartungen haben. Es wünschen sich auch Arbeitnehmer, damit sie Beruf und Privatleben besser miteinander vereinbaren können. Warum nicht zu Hause arbeiten, wenn die Kita geschlossen hat. Warum nicht mal am Wochenende arbeiten, um unter der Woche zum Arzt zu gehen. Die Telekom will bald Techniker am Samstag schicken. Die Deutsche Post bietet einen Wunschtermin am Abend da. Wer ist tagsüber schon zu Hause, wenn es klingelt?

Anders als noch vor hundert Jahren arbeitet heute die Mehrheit der Männer und Frauen. „Das Alleinverdienermodell existiert quasi nicht mehr“, erklärt Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Der normale Bürotag von acht bis 17 Uhr scheint wie aus der Zeit gefallen.

Flexibere Zeiten und Homeoffice

Über flexiblere Arbeitszeiten diskutieren im Moment Betriebe, Gewerkschaften und die Politik. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) will die gesetzlichen Arbeitszeitvorschriften für Unternehmen lockern. Unter der Bedingung, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber dafür mehr tarifvertragliche Regelungen treffen. Bei Daimler haben sich Betriebsrat und Management jetzt auf Eckpunkte für mobiles Arbeiten geeinigt. Noch in diesem Jahr soll eine entsprechende Betriebsvereinbarung den Mitarbeitern das Recht auf flexible Arbeitszeiten einräumen. Die Arbeitgeberseite ist schon lange dafür. Die gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit von elf Stunden sei viel zu starr! Zeitgemäßer sei es, von einer Tageshöchstarbeit zu einer Wochenarbeitszeit überzugehen.

Gewerkschaften fürchten, dass Arbeitnehmer – ohne ganz klare Regelungen – noch mehr in ihrer Freizeit arbeiten werden. Mit Blick auf die zunehmenden psychischen Erkrankungen sagte Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes, vor Kurzem: „Wir brauchen eine umfassende und vor allem verbindliche Anti-Stress-Politik.“ Eine gesetzliche Verordnung hatte Nahles vor zwei Jahren angekündigt.

Wichtige Rhythmen werden zerstört

Mit flexibleren Zeiten und Homeoffice werden Rhythmen zerstört, die lange wichtig waren: Zwischen Schlafen und Wachen, Woche und Wochenende. Es gibt nicht mehr den Feierabend, oder den Sonntag, wo alles geschlossen hat und niemand etwas tut. „Dafür, dass wir die Ruhe vernachlässigen, zahlen wir einen hohen Preis“, sagt Walschburger. „Wie viele fühlen sich nicht müde, gereizt?“ Der Chronobiologe Till Roenneberg spricht vom „sozialen Jetlag“. Wer sein Schlaf- und Erholungsbedürfnis ständig ignoriere, immer gegen seine innere Uhr arbeite, leide irgendwann an einer chronischen Erschöpfung, die den Folgen eines Langstreckenflugs über Zeitzonen gleicht.

Materiell, sagt Walschburger, geht es uns besser als früher. Glücklicher seien wir aber nicht. Bei all den geschaffenen Möglichkeiten verlernen die Menschen zu warten, zu verzichten. Sich zu langweilen. Jeder, sagt Walschburger, wolle aktiv sein, müsse so viel wie möglich erleben, seine Zeit maximal ausnutzen. Und klagt dann über Freizeitstress.

Was Zeit raubt, ablenkt, ist außerdem das Smartphone. Der Durchschnittsnutzer entsperrt es 80-mal am Tag. Um abends im Bett noch eine Mail vom Chef zu lesen. Oder um Schuhe zu kaufen, weil die nächsten Tage zu verplant sind, um in ein Geschäft zu gehen. Die Erwartung von permanenter Verfügbarkeit ist für den Arbeitnehmer belastend. Als Privatperson schafft er sie gleichzeitig selbst.

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