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Gläubige lJuden beten an der Klagemauer in Jerusalem.

© imago stock&people

Ultraorthodoxe in Israel: Mit Filzstift und Klebeband gegen eine freiere Gesellschaft

Mit befremdlichem Verhalten versuchen Anhänger der Charedim in Israel die Liberalisierung in den eigenen Reihen aufzuhalten.

Gerade, als die Zuschauerinnen unterhalb der Bühne zu tanzen beginnen, schnappt sich Musiker Yonatan Razel schwarzes Klebeband und drückt es sich über die Augen. Dann spielt er blind weiter auf dem Keyboard und singt. Die Menschen im Publikum singen mit, klatschen. Die bunten Lichter wippen im Takt – genauso wie die Frauen vor der Bühne. Die aber will der Musiker bei seinem Konzert in Jerusalem auf gar keinen Fall sehen. Denn Yonatan Razel ist einer der Charedim, also der Gottesfürchtigen, ein Mann mit Kippa und Bart, der die 613 strengen jüdischen Gesetze einhält, die Mitzwot, der also am Shabbat nicht arbeitet oder elektrische Geräte bedient, der koscher isst und der es vermeidet, fremde Frauen anzublicken – erst recht, wenn diese tanzen.

Das kurze Video des Auftritts machte in den sozialen Netzwerken die Runde, israelische Medien berichteten darüber – denn wieder einmal, so schien es, waren die Ultraorthodoxen auf der Extremismus-Leiter eine Stufe weiter nach oben geklettert. Die Säkularen schüttelten den Kopf. Ihnen können im Sommer die Jeanshosen nicht kurz genug sein, am Strand flirten sie hemmungslos. Für so viel Züchtigkeit haben sie kein Verständnis.

Frauenbilder auf Geldscheinen übermalt

Doch immer wieder machen die Charedim damit auf sich aufmerksam. So tauchten vor wenigen Wochen Geldscheine auf, die mit schwarzen Stiften übermalt wurden. Und das, obwohl die Scheine gerade erst in Umlauf gebracht wurden. Auch hier waren die Gottesfürchtigen am Werk: Die neuen 20- und 100-Schekel-Scheine zeigen Abbilder der beiden Schriftstellerinnen Leah Goldberg und Rachel Blustein. Für die Streng-Religiösen ein Skandal: Unzüchtig wäre es, die beiden Frauen beim Bezahlen anblicken zu müssen.

Das Fatale: Lediglich eine kleine radikale Gruppe unter den Charedim sorgt für derartige Schlagzeilen und schafft es damit, Verwunderung und Ärger auf alle rund 950000 Charedim in Israel zu lenken, die mittlerweile gut elf Prozent der Bevölkerung ausmachen. Das Verhalten der Radikalen ist eine Art Gegenrevolution – gegen Öffnung, Liberalisierung und Modernisierung der charedischen Gesellschaft, die in den vergangenen Jahren begonnen hat. „Wie bei anderen kulturellen Wandeln auch, so gibt es auch hier eine Widerstandsbewegung“, erklärt Amiram Gonen, emeritierter Professor der Hebräischen Universität, der die charedische Gesellschaft noch heute am Jerusalem Institute for Policy Research untersucht. „Eine kleine Minderheit terrorisiert und versucht, die anderen einzuschüchtern.“

Auch Charedim wollen ihre Lebenssituation mittlerweile verbessern

Bislang führten die Charedim ein Leben ohne Luxus. „Das charedische Lebensmodell ist ein Armutsmodell. Sie idealisieren Armut geradezu“, erklärt Gonen. Die Gottesfürchtigen sehen ihre Lebensaufgabe darin, die Mitzwot einzuhalten – Luxus würde davon nur ablenken. Lange Zeit arbeiteten ultraorthodoxe Männer in Israel nicht, sondern besuchten ganztags die Thoraschulen. Frauen waren für die Kinderbetreuung zuständig, arbeiteten höchstens als Kindergärtnerinnen oder Lehrerinnen – züchtige Berufe also, mit denen sich nur wenig Geld verdienen lies. „Doch immer mehr Charedim wollen ihre Lebenssituation verbessern“, ist Gonen überzeugt.

Um sich also auch mal was leisten zu können – neue Kleidung, Schmuck, ein Auto oder eine Reise – müssen sie arbeiten. Um einen Job zu finden, brauchen sie einen Abschluss. All das holt die oftmals isolierten Charedim nach und nach aus ihrer Abgeschiedenheit. Mittlerweile entstehen sogar neue Ausbildungsgänge für Charedim und Studiengänge, von Psychologie bis Computerwissenschaften. Sogar Start-ups gründen sie heute.

Es ist wie eine Gegenbewegung innerhalb der Ultraorthodoxen

Das wiederum macht einigen unter ihnen Angst – erst recht jetzt, da Internet und Smartphones in der charedischen Welt Einzug erhalten. Die Gegenbewegung greift zu immer radikaleren Mitteln: In Beit Shemesh, einer Stadt zwischen Jerusalem und Tel Aviv gelegen, gingen die Ultraorthodoxen sogar so weit, dass sie Straßenschilder aufstellten, die den Geschlechtern den Weg zum richtigen Gehweg weisen: Frauen auf der einen, Männer auf der anderen Straßenseite, damit sie sich auch ja nicht auf dem Gehweg begegnen. Das freilich betraf wiederum die Lebenswelt der Säkularen in der Stadt so stark, dass sie auf die Barrikaden gingen. Das Oberste Gericht entschied nun, dass diese Schilder wieder abgehängt werden müssen.

Dass nun ausgerechnet der erfolgreiche ultraorthodoxe Musiker Yonatan Razel zur Gruppe der Radikalen zählt, verwundert, hat doch gerade er einen Beruf, der so überhaupt nicht ins Klischee der traditionellen Charedim passt. Gerade Razel steht für den Wandel und die Öffnung: Seine Texte sind zwar religiös, die Klänge meist aber recht weltlich, er gibt Konzerte. Doch eben genau das könnte der Grund für den Klebebandauftritt sein, glaubt Amiram Gonen: „Er will sich und den anderen Charedim zeigen, dass er noch immer dazugehört, sich noch immer an die Regeln hält und keine fremden Frauen anschaut, auch wenn er Musik macht und das nicht Teil der charedischen Kultur ist.“

Doch selbst in ultraorthodoxen Kreisen hat man den Aufritt Razels mit einem Klebeband vor den Augen verwundert wahrgenommen. Das kann auch Razel selbst nicht entgangen sein. Und so berichteten israelische Medien, dass ein Sprecher den Vorfall später herunterspielte: Yonatan Razel sei schon oft vor Frauen aufgetreten und respektiere sie. Sein Verhalten beim Konzert sei folglich nicht von größerer Bedeutung.

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