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Ulrich Wickert im Interview: „Man traut den Deutschen sogar Humor zu“

Ulrich Wickert hatte auf Strauss-Kahn als Präsidenten gewettet – und verloren. Ein Gespräch zur Wahl in Frankreich über Käse, Swinger-Clubs und eine rosa Brille.

Herr Wickert, hatten Sie eine geruhsame Nacht?

Ja, warum?

Weil Sie gerade Vater wurden – von Zwillingen.
Meine Frau und ich haben das ganz gut organisiert. Ich hatte meine sieben Stunden Schlaf. Aber das soll bitte nicht unser Thema sein. Sie wollten mit mir über Frankreich reden.

Sie halten es mit Ihrem Privatleben also wie die französischen Politiker: Das geht die Medien nichts an.
Eine der wichtigsten französischen Tugenden nennt sich „discrétion“. Das finde ich wunderbar. Man rückt dem anderen privat nicht zu nahe. Dass sich Nicolas Sarkozy im Urlaub auf der Yacht eines Industriellen und nach seiner Hochzeit mit Carla Bruni in Disneyland fotografieren ließ, fanden die Franzosen empörend. Inzwischen hat Sarkozy das kapiert und behält sein Privatleben für sich.

Als Bill Clinton wegen seiner Affäre mit einer Praktikantin unter Druck geriet, sagte der ehemalige französische Premierminister Michel Rocard: „Meine Güte – da müsste bei uns ja das komplette Kabinett zurücktreten.“
In den 70er Jahren, als ich noch Paris-Korrespondent war, besuchte ich manchmal auf dem Nachhauseweg meinen Freund Claude Angeli, den Chefredakteur der Satirezeitschrift „Canard Enchaîné“. Eines Tages zeigte er mir einen Stapel Fotos: Ein französischer Politiker höchsten Ranges mit einer Dame des öffentlichen Gewerbes in einer Jagdhütte im zentralafrikanischen Dschungel. Ich fragte Claude: Mensch, was machst du jetzt damit? Nichts, sagte er. Wenn die Frau eine israelische Spionin wäre, wäre es eine Geschichte. Alles andere ist sein Privatleben.

Die Franzosen haben es sogar hingenommen, dass François Mitterand eine Zweitfamilie hatte.
Schon Jahre bevor Mitterand gewählt wurde, wusste ich, dass er jeden Sonntagmittag um zwölf mit einem Baguette unterm Arm in die Rue Jacob Nummer 46 ging, da lebte seine Geliebte mit dem gemeinsamen Kind. In der Nummer 48 wohnte eine Bekannte von mir, die hat es mir erzählt.

Als Paris-Korrespondent hätten Sie daraus eine Riesen-Story machen können!
Nein. Weil man das einfach nicht tat.

Sie sind kein Franzose, Sie hätten sich an diese Regel nicht halten müssen.
Trotzdem. Würde ich nie machen.

Und wenn Sie über das Privatleben von Dominique Strauss-Kahn informiert gewesen wären?
Naja, das war etwas anderes als ein Schäferstündchen in einer Jagdhütte. Wegen Strauss-Kahn habe ich eine Wette verloren. Ende 2010 saß ich mit einer französischen Bekannten beim Abendessen, wir spekulierten, wer Präsidentschaftskandidat der Sozialisten wird. Ich sagte: Strauss-Kahn, klarer Fall. Nie im Leben, sagte meine Bekannte, der Typ ist unglaublich. Sie erzählte mir, dass er sich in Swinger-Clubs rumtreibt und all solche Sachen, sie meinte: Eines Tages wird das auffliegen, und dann ist er futsch. Quatsch, sagte ich, ich kenne doch die Franzosen. Jetzt schulde ich ihr ein Mittagessen.

Bei der heutigen Wahl treten die Sozialisten mit François Hollande an, einem blassen Bürokraten.
Viele Franzosen sagen über ihn: Il ne fait pas le poids. Er hat nicht das „Gewicht“, das man in Frankreich von einem Präsidenten erwartet. Mitterrand hatte das, Chirac hatte es, Strauss-Kahn hätte es gehabt, Sarkozy hat es durch seine Dynamik zumindest vorgetäuscht.

Der Präsident soll immer noch der König sein?
Da haben Sie recht. Das Bürgertum hat den Adel gestürzt, aber nicht, um dessen Privilegien abzuschaffen, sondern um sie zu übernehmen. Der Politologe René Remond erzählt in einem seiner Bücher die Geschichte eines Bauern, der gefragt wird: Bist du für die Revolution und für die Republik? Und der antwortet: Klar – Hauptsache, Napoleon ist König. Als ich François Mitterrand nach seiner Wiederwahl mit diesem Satz konfrontierte, sagte er: „Ah, sehen Sie, so sind die Franzosen: Sie wollen immer einen König!“ Er fügte dann natürlich eilig hinzu, er selbst sei kein König. Aber der Satz steht für sich.

Will deshalb jeder französische Junge Präsident werden?
In den 70er Jahren gab es mal ein Werbeplakat einer Versicherung, da sah man einen französischen Vater mit Baskenmütze, und neben ihm seinen kleinen Sohn, der sagte: „Papa, je veux devenir président!“ Valéry Giscard d'Estaing schrieb in seinem Abituraufsatz: Berufsziel Präsident. Sarkozy soll sich das jeden Morgen beim Rasieren gewünscht haben, auch von Hollande heißt es, er habe als Junge gesagt: Ich werde Präsident.

Deshalb haben die auch alle an denselben Pariser Elitehochschulen studiert.
Netzwerke sind in Frankreich sehr wichtig. Das gilt für Eliteschulen wie die Pariser ENA und die Sciences Po genauso wie für die klassische französische Großfamilie. Man sorgt füreinander, man verhilft sich gegenseitig zu Jobs. Selbst in der Politik sind Studienfreundschaften oft wichtiger als die Parteizugehörigkeit.

Sie lächeln, als hätten Sie Verständnis für diese Art von Gekungel.
Habe ich auch. Auch wenn es natürlich ein Kastendenken ist, das selbst den Franzosen manchmal zu viel wird. Sarkozy war der erste Präsidentschaftskandidat, der im Wahlkampf stolz verkündete: Ich war nicht auf der ENA! Und alle haben gesagt: Oh là là, jetzt kommt mal ein ganz anderer!

"Ich wollte nie im Leben Journalist werden"

Die Begeisterung hat nicht lange gehalten: Hollande, der an der ENA studiert hat, lag zuletzt in den Umfragen deutlich vor Sarkozy.
Er macht seinen Wahlkampf nach der Devise: Bloß nicht auffallen. Die Leute wollen Sarkozy abwählen, also werden sie mich wählen – ich darf nur nichts tun, was sie ärgern könnte.

Ist er der mutige Reformer, den Frankreich in der Krise bräuchte?
Auf den ersten Blick nicht. Aber sehen Sie sich Sarkozy an, der hat nach seinem Amtsantritt gesagt: Ich drehe ganz Frankreich um, ich reformiere alles in Grund und Boden! Was ist daraus geworden? Ein bisschen Bildungs-, ein bisschen Rentenreform, sonst nichts. Die wirklich schmerzhaften Veränderungen kann in Frankreich vielleicht nur ein Linker durchsetzen, ähnlich wie in Deutschland, wo die Agenda 2010 von einem sozialdemokratischen Kanzler kam.

Hollande ist kein Schröder.
Wissen wir es?

Sie vielleicht!
Nein, ich weiß nur, dass sich bisher fast alle französischen Präsidenten anfänglich von Deutschland distanziert haben, um später dann doch zu merken, dass es ohne Deutschland nicht geht. Das war bei Sarkozy nicht anders. Im Dezember letzten Jahres hat er Gerhard Schröder empfangen und gesagt: Fantastischer Mann, großartig, wir machen jetzt auch eine Agenda 2010. Und in einem Interview verwendete er 27 Mal das Wort „Deutschland“: l’Allemagne, l’Allemagne! Inzwischen können die Franzosen diese ständigen Deutschland-Vergleiche nicht mehr hören. Deshalb hat Sarkozy nun auch Frau Merkel als Wahlkampfhelferin wieder ausgeladen.

Früher sagten französische Mütter zu ihren Kindern: Iss schön auf, mach deine Hausaufgaben, sonst musst du Ferien in Deutschland machen.
Der Deutsche ist nicht mehr der „boche“, dieses Schimpfwort kennt kaum noch jemand. Die deutsche Einheit hat die Wahrnehmung sehr verändert. Berlin ist inzwischen ein Magnet für Tausende junger Franzosen, viele Künstler und Schriftsteller leben dort, seit der Fußball-WM traut man den Deutschen sogar Humor zu, wegen Tokio Hotel wollten Schüler in Frankreich wieder Deutsch lernen.

Sie selbst haben Ihr Leben lang zwischen beiden Kulturen vermittelt. Wir haben mal Ihr journalistisches Erstlingswerk ausgegraben: eine Reportage über den Eiffelturm, erschienen 1956 auf der Kinderseite der „Rhein-Neckar-Zeitung“. Da schreiben Sie als 14-Jähriger: „Die erste Etage ist genau 50 Meter hoch, deshalb hat man auch noch nicht einen so guten Überblick über die Sehenswürdigkeiten wie von den oberen Etagen. Auf diesem Stockwerk gibt es aber ein erstklassiges Restaurant, in dem alle feinen Pariser essen, damit sie den Turm selber nicht mehr sehen müssen. Die Preise sind natürlich furchtbar hoch – wie alles auf diesem Turm.“
Damals war ich mit meiner Familie gerade von Heidelberg nach Paris gezogen, wir wohnten im Vorort Meudon, auf einem Hügel. Von meinem Schlafzimmer aus sah ich abends das Licht des Eiffelturms, also war klar: Das wird das Thema meines ersten Artikels. Später schrieb ich dann für die deutsche Kinderzeitung „Rasselbande“, ich war sozusagen der Frankreich-Korrespondent. Da bekam man sogar Geld! Manchmal 50 Mark für einen einzigen Artikel, eine irre Summe.

Sie wollten schon immer Journalist werden?
Nein, das war nur ein Hobby. Journalist wollte ich nie im Leben werden! Eher Diplomat, wie mein Vater. Es war der einzige Beruf, den ich kannte, und ich fand sein Leben klasse. Er kam rum, traf interessante Leute, wir lebten in den schönsten Ecken der Welt. Tokio zum Beispiel, wo ich geboren wurde.

Wann merkten Sie, dass Sie doch kein Diplomat werden wollten?
Beim Studium in Amerika. Mir wurde klar: Mensch, die Welt ist zu groß und zu schön, um in einem Beamtenapparat zu sitzen. In Deutschland hatte ich neben dem Studium immer mal wieder was geschrieben, für Studentenzeitungen und so. Durch einen Bekannten bekam ich dann die Chance, ein Radio-Feature für den Hessischen Rundfunk zu machen. Ein paar Monate später klingelte bei mir der Geldbriefträger, ich hatte damals noch kein Konto. Der brachte mir 1500 Mark! Und bei jeder Wiederholung des Features bekam ich noch mal 750 Mark! Ich habe mir sofort ein Telefon in meine Studentenbude legen lassen und mir einen gebrauchten VW Cabrio gekauft, und es war immer noch Geld übrig. Sensationell!

Vom Hörfunk kamen Sie schnell zum Fernsehen.
Ich war immer noch ganz high wegen des Erfolgs beim Hessischen Rundfunk und ließ mir einen Termin beim Fernsehdirektor des WDR geben, den ich erstaunlicherweise auch bekam. Ich sagte ihm: Hören Sie, ich schreibe Radio-Features, ich könnte doch für Sie auch mal was schreiben. Der Mann runzelte die Stirn und sagte: Schreiben? Junger Mann, wir machen hier Fernsehen, Sie haben ja überhaupt keine Ahnung. Hatte ich auch nicht. Damals hatte ich lange Haare und trug eine große, rosa getönte Plastikbrille. Psychedelic! Ich nahm die Brille ab, drückte sie dem Fernsehdirektor in die Hand und sagte: Sehen Sie da mal durch – das wird Ihr Leben verändern.

Sie waren auf Drogen!
Es war einfach diese Zeit, in der man glaubte, rosa Brillen könnten das Leben verändern. Der Fernsehdirektor setzte das Ding auf, trat ans Fenster, sah hinaus – und sein Leben veränderte sich nicht. Netterweise empfahl er mir trotzdem, es beim Fernsehmagazin „Monitor“ zu versuchen, wo ich dann relativ schnell Aufträge bekam, auch wegen meiner Französischkenntnisse. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was ich werden wollte, ich habe mir gesagt: Jetzt arbeite ich erst mal als Journalist und warte auf einen ordentlichen Beruf. Der ist nie gekommen.

"Stinkigen Käse gibt es nicht"

Naja, immerhin sind Sie inzwischen „Officier de la Légion d'Honneur de la France“. Bringt das irgendwelche Pflichten mit sich?
Nein, nur zwei Privilegien. Wenn ich ins Gefängnis komme, habe ich Anrecht auf eine Einzelzelle – und ich kann mir Essen aus einem Restaurant bringen lassen. Bezahlen muss ich selber, aber das kann ich dann ja mit einer geklauten Scheckkarte machen.

Und als Ehrenmitglied der französischen Käse-Gilde dürfen Sie so viel Käse essen, wie Sie wollen?
Wenn ich ihn selbst bezahle. Ich bin nicht nur Mitglied, ich habe den höchsten Grad erreicht: Erst war ich Compagnon, dann Protecteur, jetzt Maître. Das gibt es in Deutschland nur zwei Mal: Eckhart Witzigmann und ich.

Was haben Sie dafür getan?
Das hat mit der Freundschaft mit einem Pariser Käsehändler zu tun, der inzwischen der Propst der Käsegilde ist. Ich wohnte in Paris in der Nähe seines Geschäfts, es war sehr klein, aber da standen die Leute Schlange davor, Catherine Deneuve, Madame Chirac… Ich habe mich nie da reingetraut, weil ich immer dachte, die fragen dann, was ich will, und ich sage „Käse“, da lachen die sich doch kaputt. Dann kam ich auf die Idee, einfach einen Beitrag über den Laden zu machen. Als Journalist kann man ja jede blöde Frage stellen, die einem einfällt. So entstand eine Freundschaft, und über die Jahre lernte ich, den Käse zu schätzen.

Jetzt müssen wir Sie mal testen: Was für ein Käse ist der Pouligny Saint-Pierre?
Pouligny, das ist natürlich ein Käse aus Kuhmilch.

Falsch! Laut Wikipedia ist das ein Weichkäse aus Ziegenmilch, dessen auffälligstes Erkennungsmerkmal die charakteristische Form einer…
…Pyramide ist! Jetzt fällt’s mir wieder ein.

Mögen Sie lieber die weichen, stinkigen Sorten oder die harten, würzigen?
Stinkigen Käse gibt es nicht! Es gibt nur Sorten mit starkem Aroma. Roquefort, der König, mein Lieblingskäse, der stinkt doch nicht! Wenn Sie den im Mund haben, entwickelt er ein Aroma, das in Ihren Rachen geht.

Der Roquefort soll entstanden sein, weil jemand einen Käse in einer Höhle vergessen und erst nach Monaten wiedergefunden hat.
Eine wunderbare Legende. Davon gibt es viele. Der Reblochon zum Beispiel ist der Käse des Zinsbetrugs. Früher kam bei den Bauern immer der Zinseintreiber vorbei und maß, wie viel Milch die Kuh abgibt. Da haben die Bauern die Kühe morgens zu drei Vierteln gemolken und abends, wenn der Eintreiber weg war, den Rest abgezapft. Diese cremige Milch, genannt „la rebloche“, konnten sie nicht verkaufen, also haben sie Käse daraus gemacht. Solche Geschichten habe ich bei meinen Recherchen von Käse-Bauern erzählt bekommen. Das sind oft sehr bescheidene Leute, die nicht reich werden, sondern aus reiner Liebe zum Produkt sagen: Im April muss die Herde unbedingt auf 1200 Meter Höhe grasen, nur dann wird der Käse gut. Das nenne ich Zivilisation!

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