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Mitglieder der ersten nationalen Freiwilligen-Brigade bei ihrer Suche nach Verschwundenen.

© Sandra Weiss

Tausende spurlos verschwunden: Mexiko - ein riesiger, geheimer Friedhof

Jeden Tag verschwinden in Mexiko rund 14 Menschen spurlos. Da der Staat wenig unternimmt, suchen nun Angehörige nach Massengräbern.

Der Horror hat viele Gesichter in Mexiko, und manchmal versteckt er sich hinter der alltäglichsten Kleinigkeiten. Wie bei Tranquilina Hernández. Der 13. September 2014 war ein Samstag wie immer in Cuernavaca, eine Stunde Autofahrt südlich von Mexiko-Stadt. Ein fruchtbarer Flecken Erde mit mildem Klima. In den vergangenen Jahren ist es unruhiger geworden, seit der örtliche Drogenkartellchef von Marinesoldaten exekutiert wurde und sich junge Killer um seine Nachfolge streiten. Es gab Schießereien, Geschäftsleute klagten über Schutzgelderpressungen und Entführungen, Geschichten über Kinderkiller gingen durch die Presse. Aber das waren "Angelegenheiten der Bösen", dachte die 38-jährige Hernández damals – bis ihre 18-jährige Tochter Mireya an diesem Tag unweit der Wohnung spurlos verschwindet.

Jetzt steht Hernández 300 Kilometer entfernt vor einem zwei Meter tiefen Loch in einem Zuckerrohrfeld und schluchzt. Die Umstehenden haben sich an den Händen gefasst und beten das Vaterunser im Chor. "Wo sind sie? Du kannst der Nächste sein. Komm her, es könnte dein Kind sein!", schallt es aus zwei Dutzend belegten Kehlen. Aus dem frisch gegrabenen Erdloch hat die Gruppe gerade verkohlte Knochenreste geborgen. Ein Stück Schädel, Schienbeine, ein relativ unversehrter Oberschenkelknochen. Es hatte Warnungen gegeben, sie sollten da besser nicht hingehen. Die Gruppe machte sich trotzdem an die Arbeit. Ausgerüstet mit Schaufeln und Hacken – und dem Willen derjenigen, die sich nicht länger vom Staat vertrösten lassen wollen. Leute wie Alma Rosa Rojo, die seit sieben Jahren ihren Bruder sucht. Oder Hausfrau Rosa Neris, 52, aus Coahuila, deren Schwager mit zwei Brüdern vor sechs Jahren spurlos verschwand.

Alle paar Minuten wechseln sie sich beim Schaufeln ab

Barkeeper Mario Vergara aus Guerrero, für dessen Bruder die Familie nicht schnell genug Lösegeld aufbringen konnte. Die Brüder José-Luis und Miguel-Angel Herrera, die vier Geschwister vermissen. "Da, wo es längliche Bodensenken gibt und der Eisenstab ohne Widerstand ins Erdreich dringt, da können Überreste liegen", sagt Vergara. Als sei es das Natürlichste der Welt, geheime Massengräber aufzuspüren. Alle paar Minuten wechseln sie sich beim Schaufeln ab. Es ist schwül, die Kleider kleben am Körper. Sie haben einen Crashkurs hinter sich, organisiert von Menschenrechtsorganisationen oder dem Bürgerverein für Forensik.

Jeden Tag verschwinden 14 Menschen spurlos, die Hälfte davon jünger als 30. Offiziellen Statistiken zufolge werden 27.659 Mexikaner vermisst. Inoffiziell könnte es ein Vielfaches sein, sagt Juan López Villanueva von der Nationalen Menschenrechtskommission. "Viele Familien zeigen die Tat nicht an, weil sie Angst haben. Die Behörden arbeiten schlampig, Akten verschwinden, und die Register sind nicht harmonisiert." Villanueva ist neben zwei gelangweilten Bundespolizisten der einzige Staatsvertreter, der die erste nationale Freiwilligen-Brigade auf ihrer Suche nach Verschwundenen im Bundesstaat Veracruz begleitet.

Tranquilina Hernández zeigt ein Foto ihrer Tochter Mireya, die im September 2014 spurlos verschwand.
Tranquilina Hernández zeigt ein Foto ihrer Tochter Mireya, die im September 2014 spurlos verschwand.

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In Cuernavaca ging Hernández 2014 zur Polizei. Die sagte, sie solle in den Kliniken und im Leichenschauhaus nach Mireya suchen und in 72 Stunden wiederkommen. "Auch nach der Anzeige passierte nichts", sagt sie. "Als habe der Erdboden Mireya verschluckt." Wo ist sie? Wird sie schlecht behandelt? Lebt sie überhaupt noch? "Diese Fragen bringen dich um den Verstand. Es ist, als würde man jeden Tag ein bisschen sterben."

Solche Geschichten erzählen sie alle. Geschichten von DNA-Proben, die verloren gehen, von nicht zuständigen oder gelangweilten Behörden, von Ermittlern, die falsche Hoffnungen schüren oder ihrerseits ermordet werden, von unidentifizierten Leichen, die in anonymen Massengräbern auf Friedhöfen verscharrt werden. "Ich habe sieben Jahre lang versucht, meine Brüder mit Hilfe des Staates zu finden, bin in Akten versunken und dem Verwirrspiel auf den Leim gegangen. Die treiben das so lange, bis sie dich zermürbt haben", erzählt der Goldschmied Juan Carlos Herrera. "Der Staat will die Verschwundenen nicht finden, und die Täter nicht zur Rechenschaft ziehen, denn dann müsste er ja gegen sich selbst ermitteln", sagt der Mann, der die Brigade organisiert hat. Er sagt, staatliche Sicherheitskräfte seien in die meisten Fälle verwickelt. "Wir Familien müssen aktiv werden, wenn wir jemals wissen wollen, was mit unseren Angehörigen passiert ist. Von Gerechtigkeit reden wir schon gar nicht mehr."

Bislang wurden mehr als 1200 Leichen gefunden

"Mexiko ist ein riesiger geheimer Friedhof", sagt Pfarrer Julián Verónica aus Amatlán, bei dem die Brigadisten Unterschlupf finden. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft wurden bislang mehr als 1200 Leichen in solchen Erdlöchern gefunden; nur elf Prozent wurden identifiziert. Verónicas Pfarrhaus liegt unweit der Gleise, auf denen seit Jahrzehnten mittelamerikanische Flüchtlinge durch Mexiko reisen, um in die USA zu kommen. "Mit den Migranten begann es schon vor vielen Jahren", erzählt der Pfarrer. "Wir haben ein Netz von kirchlichen Herbergen entlang der Strecke, aber von Herberge zu Herberge wurde die Zahl der Ankömmlinge weniger, und sie erzählten uns von Bewaffneten, die den Zug anhielten und Menschen verschleppten." Die Drogenbanden zwangen Frauen zur Prostitution, Männer wurden als Drogenkuriere oder Killer zwangsrekrutiert, Kinder für Pornografie oder Organentnahme entführt, andere waren Geiseln, um den Verwandten in den USA Lösegeld abzupressen. Die Migranten waren ideales Freiwild: anonym, arm, rechtlos. Die Kirche schlug Alarm, doch erst 2011 verabschiedete der Kongress ein Migrationsgesetz. Eines gegen gewaltsames Verschwindenlassen gibt es bis heute nicht. Regimegegner zu entführen, zu töten und die Leichen verschwinden zu lassen war Teil des Staatsterrors der südamerikanischen Militärdiktaturen und kam auch in Mexiko gegen linke Guerrillagruppen zum Einsatz.

In der zweiwöchigen Mission fand die Brigade 500 Knochen. Beim ersten Fund erklärte die Staatsanwaltschaft sofort, es handele sich um Holz und Tierknochen. Eine Aussage, die von Forensikern widerlegt wurde. "Fund 1, 20. April 2016, 12 Uhr", schreibt Alma Rosa Rojo mit Filzstift auf ein Block Papier und klebt es an einen Ast, den sie in den Boden steckt. Die Knochenfunde werden später mit der DNA-Datenbank verglichen, die die Brigade zusammen mit einer Universität aufbaut. Hernández blickt auf die rosa Schrift und kämpft mit den Tränen. "Nein, so will ich Mireya nicht wiedersehen", sagt sie. "Aber gleichzeitig weiß ich, dass hier eine Familie Frieden und Gewissheit finden wird und die Überreste eines Angehörigen bestatten kann."

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