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Heiligtum. Das Grab von Abbas Ibn Ali ist einer von zwei wichtigen Schreinen in Kerbela, die die Menschen während der Wallfahrt besuchen.

© Ullstein Bild

Schiitische Wallfahrt in den Irak: Größer als der Haddsch

Trotz der Bedrohung durch den IS strömen jedes Jahr Millionen Menschen zum Arbain-Fest ins irakische Kerbela. Wie unsere Autorin. Bericht von einer schiitischen Wallfahrt.

Die Sonne ist vor wenigen Minuten untergegangen. Am Rande der breiten, betonierten Straße durch die Wüste leuchtet alle 50 Meter eine Laterne. Jetzt in der Dunkelheit ist es plötzlich sehr kalt, die Blasen an meinen Füßen tun weh, ich bin müde. Doch wir haben es fast geschafft. Gleich werden wir – nach mehr als zwei Tagen und 80 Kilometern Fußmarsch durch die karge Landschaft – unser Ziel erreichen. Kerbela, endlich!

Es ist ein Tag im Herbst 2015, und wie jedes Jahr feiern Schiiten in aller Welt das Arbain-Fest. Ich bin mit acht Freunden aus Berlin in den Irak gereist, zunächst mit dem Flugzeug nach Bagdad, dann mit dem Bus nach Nadschaf. Von dort ging es weiter zu Fuß. Wir sind Studenten, Deutsche mit und ohne ausländische Wurzeln; meine eigene Familie stammt aus dem Libanon.

Und jetzt sind wir Pilger.

Kerbela liegt im Zentrum des Irak, unweit des Euphrat. Die Stadt beherbergt zwei große und wichtige Heiligtümer: den Imam-Hussein-Schrein und den Al-Abbas-Schrein. Sie zu besuchen, dafür sind wir hier. So wie tausende Leute um uns herum, die ausnahmslos in Schwarz gekleidet sind. Auch ich trage ein schwarzes Kopftuch und eine schwarze Abaya, ein langes, luftiges Gewand; meine Füße stecken in bequemen Sportschuhen.

Dieses Jahr wird Arbain Ende November stattfinden

Die Arbain-Wallfahrt gehört zu den größten ihrer Art. Mehrere Wochen um das eigentliche Fest herum (2016 wird es Ende November stattfinden) pilgern Millionen Menschen in den Irak. Im vergangenen Jahr gab es nach offiziellen Angaben 22 Millionen Besucher. Zum Vergleich: Die Wallfahrt nach Mekka ist zwar bekannter, und sie ist gleichermaßen von Bedeutung für Schiiten wie für Sunniten. Doch nach Saudi-Arabien reisten 2015 nur zwei Millionen Pilger. Die Einreise dort ist beschränkt, ein Visum für den Irak bekommt man dagegen problemlos.

Wie kann eine solche Massenversammlung funktionieren in einem Land, in dem die Infrastruktur schlecht ist, die Menschen arm sind und der IS, der auch einen Teil des Staatsgebiets besetzt hält, immer wieder Terroranschläge verübt?

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Am Rand von Kerbela holt uns Abu Mustafa mit dem Auto ab. Der zierliche Mann Ende 40 ist der Bekannte eines Freundes. Er hat sofort angeboten, uns zu helfen. Zehn Minuten sind es bis zum Haus seiner Familie, in dem wir übernachten dürfen. Im Erdgeschoss des zweistöckigen Baus liegt das Wohnzimmer, im Hof dahinter trocknet Wäsche auf einer Leine. Ich lege meinen Rucksack in die Ecke, in dem bloß das Nötigste steckt: ein kleines Handtuch, Shampoo, Pflaster, eine Packung Ibuprofen und mein Smartphone.

Wir setzen uns auf den Boden, wo eine Tischdecke ausgebreitet ist und Schälchen mit Reis und Hähnchenfleisch stehen. Es duftet nach Gewürzen. Nach dem Essen zeigt uns Abu Mustafa die Matratzen, auf denen wir schlafen können. „Ich freue mich, dass ihr hier seid“, sagt er. Eine ähnliche Gastfreundschaft haben wir schon auf dem Weg durch die Wüste erlebt.

Alles kann nur stattfinden, weil große Teile der Bevölkerung mithelfen

Größer als Mekka. Der Abbas Ibn Ali-Schrein aus der Vogelperspektive. Zum Arbain-Fest kommen mehr Pilger in den Irak als beim Haddsch nach Saudi-Arabien.
Größer als Mekka. Der Abbas Ibn Ali-Schrein aus der Vogelperspektive. Zum Arbain-Fest kommen mehr Pilger in den Irak als beim Haddsch nach Saudi-Arabien.

© AFP

Rechts und links der Straße von Nadschaf nach Kerbela waren Stände aufgebaut, an denen Leute kostenlos Essen verteilten; es dampfte aus großen Kochtöpfen, am Tage wie in der Nacht, während aus den Lautsprechern Gesänge und Koranrezitationen erschallten. Manche Iraker sparen das ganze Jahr, um die Versorgung der Pilger zu übernehmen. Einmal hat mich ein Mann regelrecht angefleht, einen Teller mit Reis und Fleisch zu akzeptieren. „Ich habe keinen Hunger“, erwiderte ich, woraufhin er mir ein Glas mit heißem, stark gezuckerten Schwarztee reichte. Einige Leute waschen und bügeln die vom Wüstenstaub verschmutzte Kleidung der Pilger, andere bieten sogar Fußmassagen an.

Immer wieder bitten einen Menschen in ihr Zuhause. Für mich mit meiner deutschen Sozialisation fühlt es sich anfangs wie Wahnsinn an, sich von völlig fremden Leuten einladen zu lassen. Mawakeb – große Zelte, die auch für religiöse Zeremonien genutzt werden – bieten allen, die keine Unterkunft gefunden haben, ein Dach über dem Kopf.

Auf Bannern steht: "Unser letztes Hemd geben wir für dich, oh Hussein"

Die Wallfahrt kann offenbar nur deshalb stattfinden, weil große Teil der Bevölkerung mithelfen. Ihr Glaube macht Gastfreundschaft für die Fremden, unter denen es viele gibt, die lange Geld für ihre Pilgerreise zurücklegen mussten, zur Pflicht. Immer wieder tauchen entlang des Wegs Banner auf, auf denen es auf Arabisch heißt: „Unser letztes Hemd geben wir für dich, oh Hussein.“

Hussein ist eine zentrale Figur für Schiiten, und seine tragische Geschichte ist der Ursprung von Arbain. Wörtlich übersetzt bedeutet der Name des Fests „vierzig“. Denn 40 Tage lang wird in der islamischen Tradition um Verstorbene getrauert, und bei Arbain gedenkt man eben des Todes Husseins. Deshalb auch die schwarze Kleidung.

Hussein war ein Enkel des Propheten Mohammed und starb 680 in der Schlacht von Kerbela; das machte ihn zum Märtyrer. Er hatte dem Kalifen Yazid – ein übler Verschwender und Tyrann – den Treueeid verwehrt. Während Arbain für Schiiten ein Hochfest ist, hat es für Sunniten keine derartige Bedeutung.

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Die Schiiten bilden die Mehrheit im Iran wie auch im Irak. In den meisten muslimischen Ländern sind sie jedoch in der Minderheit und wurden oft verfolgt. So gilt ihnen, und ich bin da keine Ausnahme, Hussein als Symbol für Gerechtigkeit und für den Widerstand gegen Unterdrückung. Auch für manche Nicht-Muslime war er eine Inspiration, etwa für Mahatma Gandhi, der einmal sagte „Ich lernte von Hussein, wie man einen Sieg erlangen kann, während man unterdrückt wird.“ Aus Solidarität laufen bei der Arbain-Wallfahrt immer wieder einzelne Sunniten, Zoroastrier (Anhänger einer alten Religion, die vor allem im Iran Bedeutung hat) und sogar Christen mit. Nadschaf ist Teil der Pilgerroute, weil dort Husseins Vater Ali begraben liegt. Den Schiiten gilt Ali als erster Nachfolger des Propheten. Von seinem Grab aus laufen die meisten los.

Während der Herrschaft von Saddam Hussein, die von Ende der 1970er Jahre bis zum amerikanischen Einmarsch 2003 dauerte, war die Arbain-Wallfahrt verboten. Der Diktator, dessen Baath-Partei national und sozialistisch orientiert war, ließ 1991 einen Aufstand der schiitischen Bevölkerungsmehrheit brutal niederschlagen. Gleich nach seinem Sturz wurde die Arbain-Tradition wiederbelebt, seitdem schnellen die Besucherzahlen von Jahr zu Jahr weiter in die Höhe.

Keiner schreit, keiner murrt lautstark

Am Morgen nach unserer nächtlichen Ankunft stehen wir früh auf. Gleich im Anschluss an das Frühstück führt uns Abu Mustafa zu Fuß in die Altstadt. Mit jeder Minute, die wir den zwei großen Heiligtümern, deren goldene Kuppeln schon von weitem in der Sonne glänzen, näher kommen, desto enger wird es auf den Straßen. Der Boden ist bedeckt mit einem feinen Film von Wüstensand. Nach 20 Minuten stehen wir inmitten so vieler Menschen, dass es kaum noch voran geht. Körper an Körper. Doch keiner, der schreit oder lautstark murrt. Dazu sind die Leute zu mitgerissen von der positiven Stimmung. Die meisten wirken in sich selbst versunken, erschöpft und dennoch voller Kraft. Um mich herum höre ich alle möglichen Sprachen: Arabisch natürlich, mit seinen Dialekten, Englisch und oft auch Persisch, wegen der vielen iranischen Pilger. Wir treffen sogar eine Gruppe aus Münster. Ich sehe Pilger, die Stoffbanner in die Höhe halten, auf denen „Hussein“ steht oder „Abbas“.

Entlang unseres Wegs gibt es mehrmals Straßensperren

Auf dem Markt von Kerbela.
Auf dem Markt von Kerbela.

© Reuters

Abbas Ibn Ali, für den eines der zwei großen Heilgtümer errichtet wurde, war Husseins Halbbruder. Zu Lebzeiten der beiden war Kerbela bloß ein Fleck irgendwo in der Wüste. Heute hat die Stadt geschätzt um die eine Million Einwohner. Die Wirtschaft profitiert von den Pilgern, von denen viele auch außerhalb der Arbain-Wochen anreisen. Die meisten Häuser im Zentrum entstammen der Zeit zwischen 1910 und 1930: Es sind ein- oder zweistöckige Bauten, braun verputzt, mit kleinen vergitterten Fenstern zu den Gassen hinaus. Sie wirken sehr schlicht, fast so, als sollten sie den sakralen Gebäuden keine Konkurrenz machen.

Die 1200 Jahre alte Stadtmauer ist nicht mehr sichtbar, aber noch immer von Bedeutung. Nur wer auf dem Gebiet innerhalb der historischen Mauern lebt, gilt als echter Bewohner Kerbelas. Die Zuwanderer, die über die Jahrhunderte hier siedelten, ließen sich meist auf der anderen Seite nieder. Seit dem Aufstieg des Islamischen Staats sind mehrere zehntausend Menschen aus dem Norden des Irak nach Kerbela geflüchtet, darunter Christen, die auf einem Grundstück in der Provinz Kerbela eine Kirche bauen durften.

2013 tötete eine Autobombe 20 Pilger

Entlang unseres Wegs gibt es mehrmals Straßensperren. Die Männer werden von Sicherheitsleuten abgetastet, mich als Frau geleitet man in einen kleinen Verschlag, wo mich eine Beamtin mit einem Detektor untersucht. In den vergangenen Jahren gab es mehrmals Anschläge auf die Arbain-Prozession. Zum Beispiel 2013, damals tötete eine Autobombe 20 Pilger. Im Jahr darauf kamen bei einem Selbstmordanschlag 36 Pilger ums Leben. Für Extremisten, nicht zuletzt für den Islamischen Staat, sind die schiitischen Wallfahrer Ketzer, die mit Gewalt bekämpft werden müssen.

Habe ich Angst? Nein, auch wenn ich weiß, dass etwas passieren könnte, fühle ich mich inmitten der anderen Gläubigen geborgen. Meine ganze Konzentration richtet sich darauf, meine Freunde nicht zu verlieren. Gar nicht so leicht in diesem Ozean aus schwarz gekleideteten Menschen. Tote durch eine Massenpanik, wie es sie schon beim Haddsch gegeben hat, sind bei Arbain bisher nicht vorgekommen.

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Nun sind wir auf dem Platz zwischen den beiden Schreinen angekommen, dem Baynol Haramayn, 150 Meter lang. Ich versuche jemanden anzurufen, doch das funktioniert nicht, die Handynetze sind natürlich überlastet. Vor dem Schrein Husseins dauert es sehr lange, die Schuhe abzugeben. Wir gelangen schließlich ins Innere. Ich blicke auf die mit bunten Mosaiksteinen bedeckten Wände, auf Marmorböden, riesige Holztüren und kristallene Kronleuchter. Und dann: das Grab. Es wird von einem metallenen Gerüst überdacht. Alle Besucher strömen auf dieses Ziel zu. Dort angekommen, werfen sie Stoffstreifen auf das Dach des Gerüsts, um etwas von sich an diesem heiligen Ort zurückzulassen. Sie sprechen mit Hussein, der für sie scheinbar lebendig ist, vergießen Tränen und berühren die Metallstäbe, als wären diese das Gesicht eines für lange Zeit vermissten Freundes.

Auch mich überkommt ein Gefühl tiefer Trauer und gleichzeitig von Glück, weil ich so nahe bei Hussein sein darf. Mir imponiert die Menge um mich herum, Menschen unterschiedlichster Ethnien und Schichten. Sie nehmen nicht nur den weiten Weg auf sich, sondern trotzen auch der Gefahr für Leib und Leben. Arbain, das ist in diesen Tagen ein Symbol der Aufopferung, aber auch des Widerstands gegen den Terror.

Nemi El-Hassan

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