zum Hauptinhalt
Frühe Ernte. Inselbewohnerin Viki unter Pistazienbäumen.

© Ahrens

Mastix-Ernte auf Chios: Die Tränen der Pistazie

Auf Chios duftet es nach Fenchel, Thymian – und nach Mastix. Die griechische Insel ist seit Jahrhunderten für ihr Baumharz berühmt.

Morgens um sieben steht die Sonne noch tief zwischen den Hügeln von Chios. Weich dringt ihr Licht durch das ledrige Blätterdach der Pistazienbäume und überschüttet Viki und Nikos, als sei es flüssiges Gold. Wie viele andere Bauern auf der griechischen Insel knien die beiden in den Morgenstunden im weißen Kalk, den sie einem frischen Tafeltuch gleich unter ihren Bäumen ausgeworfen haben. Mit geübten Fingern klauben sie kleinere und größere Brocken des von den Stämmen getropften Mastixes auf und lassen sie vorsichtig in eine Obstkiste rutschen. So lange, bis die Sonne zu heiß brennt und sie mit ihrer Beute nach Hause fahren.

Pistacia Lentiscus var. Chia – nur die im Süden auf Chios gedeihende ursprungsgeschützte Pistazienvariante lässt Mastix wie silberne Tränen aus dem Stamm quellen. Niemand weiß, warum das so ist. Ist es der Boden? Das spezielle Mikroklima? Oder zahlt sich die Sorgfalt der jahrhundertealten Kultivierung aus, für die die Unesco die Auszeichnung verlieh? Die Pistazie an sich wächst ja reichlich im mediterranen Raum, und ihre Früchte stecken die Chioten seit jeher in die heimische Wurst. Nur der Mastix ist einmalig auf der Welt. Sultane, Scheichs und Genueser Eroberer versuchten seiner habhaft zu werden. Seit Jahrhunderten werden sein Duft, sein Geschmack und seine heilende Wirkung geschätzt. Mastix war das Kaugummi der Antike.

Die nördliche Ägäis. Die türkische Küste und den Hafen von Çesme südlich von Izmir kann man zehn Kilometer weit übers Meer im Dunst liegen sehen. Chios war schon in der Antike bewohnt. Es wurde von Erdbeben verwüstet, von Piraten überfallen, von den Venezianern erobert und von den Genuesern eingenommen, bis die Osmanen es sich einverleibten und dort 1822 ein Massaker verübten, bei dem fast 150 000 Menschen ums Leben kamen. Chios war ein Unruheort und auch wegen des Mastix immer umkämpft. Erst vier Jahre ist es her, dass die Türkei die Visumspflicht für einige ihrer Bürger lockerte und darum immer mehr Nachbarn die griechische Insel besuchen. Zurzeit beherbergt auch Chios tausende Flüchtlinge, die übers Meer kamen und auf Asyl oder auf eine Weiterreise nach Westeuropa hoffen.

In der Bar am Strand gibt's Caipirinha mit Mastix

Chios ist keine Ansammlung weiß geschlämmter Gassen und Häuschen mit blitzeblauen Fensterläden, vor denen feuerrot Geranientöpfe lodern. Chios ist gebirgig und wenig besiedelt im Norden, fruchtbar in seiner Mitte und im Süden über und über mit Pistazienbäumen bewachsen. 24 mittelalterliche Örtchen bilden die Mastichochoria, das sind die Orte, in denen die Menschen hauptsächlich vom Mastix leben. Da ist Pirgi mit seinen grafisch schwarz-weiß strukturierten Häusern, vor denen dekorativ die Tomaten trocknen, bis sie haltbar und zuckersüß sind. Oder das schmucke Mesta mit seinen Tunnelsystemen und rundum schützenden Mauern. Drinnen blühen Bäume auf kleinen Plätzen, und Frauen in schwarzen Witwenkleidern oder geblümten Kittelschürzen sitzen in den engen Gassen und verlesen sorgsam die Mastixernte.

Mastix-Likör ist eine original griechische Spezialität.
Mastix-Likör ist eine original griechische Spezialität.

© AFP/ARIS MESSINIS

Der Südwind auf Chios kündigt nicht nur den Regen an, sondern trägt auch den harzigen Duft der Mastixbäume zusammen mit dem der wild wachsenden Kräuter über die Insel. Mastix und Fenchel, Thymian und Oregano ergeben einen herrlich grünen Cocktail. Schon über die Nase schmeckt man sich rein in das typische Aroma, denn überall wird man ihn kosten können: Mastix im Likör, als Bonbon, als Kaugummi oder im feinen Lokum, im Osterbrot oder in der Tunke zum geschmorten Huhn. Nach einem Glas mit Mastix versetztem Mineralwasser fühlt man sich ausgesprochen erfrischt. Mastix schmeckt wie Chios: würzig wie der Wald, rustikal und etwas rau.

Christos und Despina servieren in ihrer Bar am Strand von Komi einen Caipirinha mit Mastix, und Maria in ihrer Taverne am Hafenrund von Emporios verköstigt Gäste erst mit ihren ofenfrischen, knisternden Baklava und dann mit Lokum, das mit Bergamotte, wilden Zentifoliarosen und Mastix versetzt ist. Sogar Eiscreme mit Mastix lässt sich finden. Mastix gehört zum täglichen Leben auf Chios, und noch mehr davon findet man in den diversen speziellen Mastix-Shops der Inselhauptstadt, wo ganze Kollektionen von Süßigkeiten, Kosmetik und Zahnpasta zum Kauf angeboten werden und auch ein köstlicher Aperitifwein aus Volissos, der auf der Basis von Mastix hergestellt wurde.

Früher war die Ernte ein soziales Ereignis

Tröpfchenweise. An Bäumen wie diesem werden auf Chios jedes Jahr bis zu 130 Tonnen Mastix geerntet.
Tröpfchenweise. An Bäumen wie diesem werden auf Chios jedes Jahr bis zu 130 Tonnen Mastix geerntet.

© Ahrens

Von Juli bis Ende September rinnt das kostbare Harz aus den mit Messern eingeritzten Schnitten in der Rinde des Pistazienbaums. Wie schimmernde Perlen. Die größten der sich im Laufe der Tage verfestigenden Lachen werden Pita genannt, weil sie an ein Fladenbrot erinnern. Manche haben das Format eines Weinbergpfirsichs. Die meisten sind allerdings kleine Bröckchen. Am Ende der Erntezeit streichen die Bauern die noch am Stamm hängenden Tropfen mit einer Art Löffel vorsichtig herunter. Auf diese Weise werden jedes Jahr auf Chios von 2,5 Millionen Bäumen bis zu 130 Tonnen Mastix geerntet.

Bevor die etwa 2000 Mastix-Bauern ihren Ertrag in der Kooperative abliefern, haben sie in mühsamer Arbeit mit einem winzigen Messer die glasigen, federleichten elfenbeinfarbenen Krumen von Schmutz und kleinen pflanzlichen Partikeln befreit, die sich mit dem noch weichen Harz verbunden hatten. Früher war diese Arbeit ein soziales Ereignis. Man saß mit den Nachbarinnen in der warmen Sonne vorm Haus und plauderte. Heute bietet oft das Fernsehen die einzige Unterhaltung. Von Dezember an, wenn der Mastix ganz ausgehärtet ist, wird er in der Kooperative weiterverarbeitet. Alle Pistazienbäume sind seit Generationen in privatem Besitz, und alle Bauern arbeiten für die Kooperative.

Die Kooperative befindet sich in der Inselhauptstadt Chios. Frauen in hellblauen Kitteln und weißen Hauben nehmen die Endkontrolle des Mastix vor, der haufenweise wie Rohdiamanten vor ihnen liegt. Die Bauern liefern ihre Ernte nämlich in sehr unterschiedlichem Zustand ab. Für die allerreinste und sauberste Qualität bekommen sie pro Kilogramm 80 Euro. Ist sie sehr verschmutzt, gibt es nur die Hälfte. Am Ende werden die sauberen Krumen gemahlen und als Puder zum Würzen von Speisen verkauft. In Kapselform eingenommen soll es allerlei Magen- und Darmbeschwerden lindern und sogar Bluthochdruck mindern. Ein großer Teil wird zu Kaugummi verarbeitet. Das ist durch und durch biologisch und schmeckt prima. Das Wort Mastix kommt von Kauen. „Ich habe immer ein wenig puren Mastix im Kühlschrank“, erzählt der Leiter der Kooperative, Ilias Smyrniades.

Mastix wird von Chios aus in die Welt exportiert

Vassilis ist vor acht Jahren aus Athen nach Chios übergesiedelt. Der erfolgreiche ehemalige Webmaster kümmert sich seitdem um die Mastix-Bäume seiner Großeltern auf Chios, die aus Mesta stammen. „Bald erkannten wir, dass irgendjemand diese alte Kultur den Gästen auf Chios nahebringen muss.“ Mit seiner Frau Roula gründete er „Masticulture“, eine ökologische Tourismusagentur, die Reisende in die Geheimnisse von Mastix einführt. Vassilis ist außerdem Mitglied der Grünen Partei.

Nach anfänglichem Befremden gewöhnt man sich bald an den Geschmack des Baumharzes. In der kleinen Inselhaupt- und Hafenstadt schlürft man bei Giannis und Stamatis Kaffee mit Mastix-Flavour. Die beiden Männer sind echte Trendsetter. Sie waren die ersten auf der Insel, die ihren eigenen Mastix-Kaffee anboten. Und zwar vermischten sie sechs verschiedene Arabica- und Robusta-Kaffeebohnen mit einer Prise Mastix. Das Gebräu hinterlässt neben der Würze des Kaffees ein Gefühl von Frische und Kühle auf der Zunge. Inzwischen gibt es bereits elf Kaffeehäuser in Chios, die Mastix-Kaffee anbieten.

In welcher Form auch immer, Mastix wird von Chios aus in die Welt exportiert. Hauptsächlich im arabischen Raum aromatisiert man damit das Essen und liebt das Kaugummi. In Mauretanien werfen die Menschen eine Prise Mastix ins Feuer, wenn Gäste kommen. Das duftet gut. Von den 160 produzierten Tonnen gehen allein 60 in den Mittleren Osten. Seine Eigenschaften finden sich aber auch in Kunstmalerfarben und in etlichen Kosmetikprodukten. Japan verwendet Mastix sogar bei der Herstellung von Medizin.

In Deutschland soll demnächst nicht nur Zahnpasta mit Mastix zu haben sein, sondern auch griechischer Joghurt mit Mastixaroma.

Reisetipps für Chios

HINKOMMEN

Flug mit Lufthansa und Aegean Airlines von Berlin nach Chios ab etwa 300 Euro. Immer mit Zwischenstopp in Frankfurt und Athen.

Fähren erreichen Chios zum Beispiel von Piräus, Thessaloniki, Samos und Rhodos. Mit dem Schiff kann man von der Insel auch weiter nach Çesme in der Türkei fahren.

UNTERKOMMEN

Das einzige Luxushotel der Insel heißt „Argentikon“ und befindet sich in einem mittelalterlichen genuesischen Gebäude mit Garten. Ein Zimmer für zwei Personen kostet ab 415 Euro pro Nacht (argentikon.gr).

Eine günstige und sehr empfehlenswerte Alternative ist das Drei-Sterne-Haus „Emporios Bay“. Es liegt in der gleichnamigen Bucht, wenige Meter vom Strand entfernt. Das familiengeführte Hotel liegt im Süden von Chios, inmitten des Mastixgebiets. Doppelzimmer ab etwa 40 Euro, kleine Apartments ab rund 50 Euro (emporiosbay.gr/de).

RUMKOMMEN

Das Byzantinische Museum in Chios-Stadt residiert in einer alten Osmanischen Moschee. Dort kann man eine Kopie von Eugène Delacroix’ berühmtem Bild „Massaker von Chios“ sehen.

Elf Kilometer südlich der Stadt liegt die wichtigste religiöse Stätte der Insel: das Kloster „Nea Moni“ aus dem 11. Jahrhundert. Es ist eines der bedeutendsten Denkmäler aus byzantinischer Zeit in ganz Griechenland und gehört zum Unesco Weltkulturerbe.

WEITERKOMMEN

Eine gute Vorbereitung für den Urlaub auf der Insel bietet Philippe Ressings Chios-Reiseführer (Michael Müller Verlag, Erlangen 2013, 19,90 Euro). Weitere Informationen zu Griechenland gibt es beim Fremdenverkehrsamt in Frankfurt: discovergreece.com

Vor Ort hilft das Tourismusbüro in Chios-Stadt weiter: chios.gr

Ökotourismus zum Thema Mastix, zum Beispiel Führungen, bietet „Masticulture“: masticulture.com

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false