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Rot. Zwei Familien haben Platz in dem ehemaligen Bauernhaus aus dem 16. Jahrhundert. Immer in Sichtweite: der See.

© Brita Sönnichsen

Ferien in Südschweden: Unser Bullerbü

Elchspuren und Birkenpilze: Viele Deutsche zieht es nach Schweden, nicht erst seit Astrid Lindgren. In einem Holzhaus am See begreift man, warum das so ist.

Unsere beiden Kinder hüpfen in vielen kleinen Sprüngen über den Öresund, die ganzen fünf Kilometer vom dänischen Helsingør hinüber zum schwedischen Helsingborg. Die Hände fest an der Reling der Fähre, hüpfen und hüpfen sie, ihre Vorfreude ist wie ein straff gespanntes Trampolin. Vor uns liegt ein Urlaub mit unseren Freunden Brita und Knut und deren beiden Kindern in einem Haus in Südschweden. Ach was, nennen wir es doch gleich beim Namen: ein Urlaub in Bullerbü.

„Wir ziehen in den Mittelhof!“, jubelte unser siebenjähriger Sohn, als ich ihm einige Wochen vor den Sommerferien Fotos unseres Ferienhauses zeigte. Als wir nun dort ankommen, nach einer 400 Kilometer langen Fahrt quer durch Südschweden, fühlt es sich tatsächlich an, als beträten wir eine dieser idyllischen Zeichnungen, mit denen Ilon Wikland die Bullerbü-Geschichten illustriert hat.

Das Holzhaus ist schwedenrot mit weißen Fensterrahmen und liegt in der Provinz Östergötland, nicht weit von Astrid Lindgrens Heimatregion entfernt. Es ist Mittelpunkt einer dreiteiligen Bauernhofanlage aus dem 16. Jahrhundert. Links liegt eine Pferdekoppel voller Wiesenblumen, rechts der Wald, vor der Tür ein grasweicher Garten. Von dort führt ein Pfad hinunter zum See Yxningen, der sich dunkelblau auf mehr als 30 Quadratkilometern durch die Landschaft schlängelt. „Mama“, fragt unsere dreijährige Tochter ungeduldig, „wo ist das Lamm Pontus?“

„Es gibt kein Land der Welt, in dem meine Kinder noch nicht gewesen sind und von dem sie so viele positive Bilder im Kopf haben wie von Schweden“, stellte Berthold Franke erstaunt fest, als er vor einigen Jahren mit seiner Familie nach Stockholm zog, um dort das Goethe-Institut zu leiten. In einem Essay für die schwedische Zeitung „Svenska Dagbladet“ gab er der Liebe vieler Deutscher zu Schweden einen Namen: Bullerbü-Syndrom. Der schwedische Sprachrat nahm das „Bullerbysyndromet“ der Deutschen offiziell in seinen Wortschatz auf. Es ist ein Syndrom, das schon Drei- oder Siebenjährige träumen lässt: von Geheimgängen im Heuboden und Weidezäunen, auf denen man balancieren kann. Davon, sich mit Geschwistern und Freunden barfuß durch den Tag zu spielen.

Franke schreibt von einer „tiefen deutschen Sehnsucht“, die seit mehr als einem halben Jahrhundert genährt wird von Astrid Lindgrens Kinderbüchern, allen voran von ihren Bullerbü-Bänden.

Ab 1954 erschienen sie erstmals auf Deutsch: Eine intakte kleine Bauernhofsiedlung wird dort geschildert, darin frei laufende Tiere und lauter fröhliche Spielkameraden, drumherum nur Wald und Weiden. Gerade Deutsche, meint Franke, erinnere diese Idylle an ihre Heimat – in ihrer ursprünglichen, noch nicht zugebauten und begradigten, globalisierten und gehetzten Form. Der ehemalige schwedische Kulturbotschafter in Berlin, Aris Fioretos, drückte das einmal sehr treffend aus: „Wir sind gewissermaßen das, was die Deutschen am liebsten morgens im Spiegel sehen würden: sich selbst minus die Geschichte des 20. Jahrhunderts.“

Das Bullerbü-Syndrom mag nur ein anderer Name für Schweden-Kitsch sein, im Familienurlaub hat es aber durchaus seine Vorteile. Vor allem, als wir unsere Kinder am Tag nach der Ankunft zum Waldspaziergang locken wollen. „Lasst uns doch ein bisschen die Gegend erkunden“, versucht es mein Mann David. Die Schnuten der Kinder bewegen sich keinen Millimeter. Knut springt ihm zur Seite: „Wir finden bestimmt Pilze und Blaubeeren.“ Keine Regung. Ich lege einen drauf: „Vielleicht sehen wir ja sogar Elche!“ Ein leichtes Zucken geht über ihre Gesichter. Aber erst als Brita sagt „und Rumpelwichte und Dunkeltrolle, Graugnome und Wilddruden“, schnüren sie ihre Stiefel zu und flitzen los. Für Ronja Räubertochter und Kalle Blomquist, Pippi und Michel ist auch noch Platz in Bullerbü.

Kühl. Der See Yxningen lässt sich per Motor- und per Ruderboot erkunden.
Kühl. Der See Yxningen lässt sich per Motor- und per Ruderboot erkunden.

© Brita Sönnichsen

Die Rumpelwichte und Wilddruden verstecken sich vor uns, aber dafür finden die Kinder Elchspuren im Schlamm; als wir zurück zu unserem Mittelhof kommen, ist unser Korb voller Birkenpilze und Maronen, und selbst wir Erwachsenen haben an den Hosen Kletterflecken.

Noch mehr als unsere Kinder sind wir selbst befallen vom Bullerbü-Syndrom. Die Kleinen können schließlich auch auf den Spielplätzen zu Hause toben und klettern, wir können es erst hier wieder, in den Blaubeerlichtungen, auf den mit Moos gepolsterten Steinen, in dem Labyrinth aus Birken und Fichten. Am Abend machen wir ein Feuer im Kamin und lesen unseren Kindern unsere eigenen, leicht vergilbten und zerlesenen Astrid-Lindgren-Bücher vor. Am nächsten Morgen ziehen unser Sohn und sein Freund zum Glück nur ihre Kuscheltiere am Fahnenmast hoch – und nicht, wie Michel, ihre kleinen Geschwister.

So sehr die Kinderbuch-Autorin unsere Sehnsucht nach dem Norden angestachelt hat, die Erste war sie nicht. Bereits um 1900 entwarf der schwedische Künstler Carl Larsson die bis heute typischen Idealbilder seiner Heimat. Auf den Aquarellen vom Sommerhaus seiner Familie zeigt er seine Kinder bei der Apfelernte und beim Erbsenschälen, beim Spielen unter dem Esstisch oder an der Kaffeetafel im Garten. Als sein Buch „Das Haus in der Sonne“ 1909 in Deutschland erschien, verkaufte es sich bereits in den ersten Jahren etwa 200.000 Mal. Larssons Idyll prägte hier so sehr das Bild Schwedens, dass Kurt Tucholsky feststellte: „Es gibt kein deutsches Normalgehirn, das bei dem Gedanken ,Schweden’ andere als angenehme, freundliche, gute Gedanken hätte.“

Schon Larsson malte einen Wunschtraum und nicht die Realität; zu seinen Lebzeiten machte die Armut im bäuerlichen Schweden Hunderttausende zu Auswanderern. Auch heute denken wir bei Schweden nicht an Arbeitslosigkeit oder Wohnungsnot, sondern an Birken, Bäche, Badeseen. Bullerbü ist eine Idee und kein Ort. Wir scheinen sie im Moment mehr denn je zu brauchen, die Zahl der deutschen Urlauber in Schweden steigt und steigt.

Die Handys haben schon auf der Schotterpiste zum Haus keinen Empfang, und die wenigen Fernsehprogramme sind nur auf Schwedisch. Vor der Reise hatten wir eine Liste mit nahen Ausflugszielen zusammengestellt.

Doch die Liste verstaubt neben unseren Telefonen in den Schubladen unserer Nachttische; alles, was wir in diesem Urlaub suchen, finden wir direkt jenseits der weißen Holztür unseres Ferienhauses.

Warm. Das schwedische Jedermannsrecht erlaubt es, in freier Natur Marshmallows über dem Feuer zu braten.
Warm. Das schwedische Jedermannsrecht erlaubt es, in freier Natur Marshmallows über dem Feuer zu braten.

© Brita Sönnichsen

Schon unser Frühstück tragen wir hinaus an den langen Esstisch im Garten, an einem Morgen kreist ein Seeadler-Pärchen über unseren Müslischüsseln. Die Kinder kommen da gerade zurück von ihrem Morgenbesuch auf der Pferdekoppel und im Hühnerstall. An diesem Tag backt Knut einen Stapel Blaubeerpfannkuchen als Proviant für unseren Ausflug: Wir haben uns auf dem nächstgelegenen Campingplatz zwei Motorboote gemietet, um unseren See zu erkunden.

„Seeräuber Opa Fabian trieb so manchen Schabernack kreuz und quer auf dem Ozean“, grölt bald darauf unser Sohn sein Lieblingslied von Pippi Langstrumpf im Heck des Bootes. Seine Hand liegt auf dem Steuerknüppel des Außenbordmotors. „Ich bin alleine Motorboot gefahren“, wird er nach den Ferien stolz erzählen. Wir lassen selbst unsere dreijährige Tochter ran, allerdings nur kurz: Sie ist so begeistert davon, am Steuer zu sitzen, dass sie den Knüppel fest an sich zieht – und wir endlos Kreise drehen.

Während wir kreisen, verwischt der Wald am Ufer zu einem dunkelgrünen Saum, der nur ab und an gespickt ist von rostroten Flecken. Dieses Rot ist die Farbe des Bullerbü-Syndroms schlechthin. Schon Carl Larsson hielt es auf seinen Bildern fest, Ilon Wikland wählte es für die drei Bullerbü-Höfe und Björn Berg für Haus und Schuppen von Michels Heimathof Katthult: Faluröd, Falunrot. Nahe der Kleinstadt Falun entstand als Abfallprodukt des Kupferbergwerkes jenes Rot, in dem so viele der schwedischen Holzhäuser gestrichen sind, dass wir auf der Autofahrt zu unserem Ferienhaus beim „Ich sehe was, was du nicht siehst“-Spiel irgendwann verboten haben, etwas in Rot suchen zu lassen. Die Auswahl war einfach zu groß.

Immer wieder mal wird vorgeschlagen, Falunrot statt Blau-Gelb zur Nationalfarbe zu erklären.

Faluns Kupferbergwerk ist zwar seit 1992 geschlossen, als Sehnsuchtsschmiede aber läuft es weiterhin auf Hochtouren. Die Schweden selbst lieben ihr Falunrot nicht nur, weil es mit seinen verschiedenen Mineralien das Holz ihrer Häuser besonders gut konserviert; vor allem erinnert es sie an jene Zeit, in der es zur Mode wurde. Im ausgehenden 16. Jahrhundert begannen reiche Kaufleute, ihre Häuser in dieser Farbe zu streichen. Ein Grund dafür könnte sein, dass sie somit am ehesten den Rotklinkern ihrer Kollegen in den norddeutschen oder niederländischen Städten glichen.

Was als Anbiederung begann, wurde im späten 18. Jahrhundert zum Symbol schwedischer Nationalromantik. Die einstige Großmacht war zum verarmten Bauernstaat geworden; nur die Farbe der Häuser erinnerte noch an den verlorenen Wohlstand.

Grün. Der Wald rund um das Haus ist ein herrliches Labyrinth aus Birken und Fichten.
Grün. Der Wald rund um das Haus ist ein herrliches Labyrinth aus Birken und Fichten.

© Brita Sönnichsen

Ist das Falunrot die wahre Nationalfarbe Schwedens, so sind diese kleinen Holzhütten am See, im Wald, irgendwo in der Einsamkeit das Symbol des Landes: Jeder fünfte Schwede besitzt seine eigene Sommarstuga. Scheinbar brauchen also nicht nur wir, sondern auch Lindgrens Landsleute in den Sommerferien eine kleine Auszeit in Bullerbü.

Zum Mittagspicknick legen wir auf unserer Insel an; zumindest machen wir sie für diesen Urlaub dazu. Am zweiten Tag nach unserer Ankunft hatten wir uns zum ersten Mal im hauseigenen Ruderboot die wenigen Meter über den See hierher gewagt, seitdem sind wir immer wieder zurückgekehrt. Schließlich gilt in Schweden das Allemansrätt, das Jedermannsrecht: Hier darf jeder die Natur nicht nur wie in Deutschland betreten, sondern es sich dort auch gemütlich machen – also etwa zelten oder sich um ein kleines Feuer setzen.

Knut packt seine Blaubeerpfannkuchen aus einem der wasserdichten Seesäcke, dazu Kanelbullar, schwedische Zimtschnecken, eine Thermoskanne Kaffee und Apfelsaft. An manchen Tagen verbringen wir Stunden auf unserer Insel. Auf wenigen Quadratmetern ist doch jeder in seiner eigenen Welt: Während auf der einen Seite die zwei größeren Jungs an ihrer Geheimhöhle bauen und unten am Schilf Knut mit seinem zweijährigen Sohn Steine ins Wasser wirft, knien meine Tochter und ich zwischen struppigen Preisel- und Blaubeerbüschen und fühlen uns in unserem Sammeleifer wie „Hänschen im Blaubeerenwald“ von Elsa Beskow, einer anderen schwedischen Kinderbuchautorin.

Am späten Nachmittag legen wir wieder am Steg des Campingplatzes an. Die Fichten werfen schon lange Schatten auf den See, als wir Holzscheite in den Ofen des kleinen Saunahäuschens neben dem Steg schieben. Die Kinder drängen sich auf der untersten Bank; mit roten Backen warten sie darauf, ins Wasser springen zu dürfen. Zusammen juchzen und plantschen und tauchen wir. Aber als wir danach auf den noch sonnenwarmen Planken des Stegs sitzen und Himmel, Wald, See und wir selbst rosarot leuchten im Sonnenuntergang, ist es so ruhig, dass wir ab und an einen Fisch aus dem Wasser springen sehen.

An unserem letzten Abend fahren wir noch einmal auf die Insel, die wir für unseren Urlaub gekapert haben. Stein um Stein schichten wir aufeinander, bis wir einen guten Wall für unser Lagerfeuer haben. Leise brutzelt der Lachs über den Flammen, als den Kindern einfällt: „Wir brauchen noch Stöcke für die Marshmallows!“ Als die vier über die Insel wuseln, fragt Brita ein wenig bang: „Wann wir wohl wieder hierher zurückkommen?“

Am nächsten Morgen, als wir die Kofferräume unserer Autos beladen, um Bullerbü zu verlassen, weint unser Sohn Tränen in die Mähne seines Lieblingsponys. Unsere Tochter nimmt es gelassener, zunächst. Erst Tage später, als wir längst wieder in unserer Stadtwohnung angekommen sind und uns mühsam an volle Bürgersteige und hupende Autos gewöhnen, setzt sie sich beim Ins-Bett-Bringen plötzlich mit einem Ruck auf. „Mama“, sagt sie empört, „ehrlich, ich wollte nicht weg aus Schweden.“ Sie sagt das seitdem alle paar Tage einmal, im Spätsommer, im Herbst, im Winter. Manchmal fragt sie danach noch: „Wie oft muss ich noch schlafen, bis wir zurück sind in Schweden?“

Es ist sehr hartnäckig, das Bullerbü-Syndrom.

Süß. Die nächste Blaubeerlichtung ist garantiert nicht weit.
Süß. Die nächste Blaubeerlichtung ist garantiert nicht weit.

© Brita Sönnichsen

TIPPS FÜR SCHWEDEN

Anreise
Air Berlin fliegt von Berlin nach Stockholm (ab 90€) und Göteborg (ab 99€). Der häufigste Anreiseweg ist aber der mit dem Auto – über die Öresundbrücke (ab 45€ pro Pkw) oder per Fähre. Verbindungen mit Nördö Link von Travemünde nach Malmö (ab 127€, nordoe-link.se) oder mit TT Line von Travemünde (ab 43€) oder Rostock (ab 79€) nach Trelleborg (ttline.de). Scandlines fährt von Rostock bis Helsingor-Helsingborg (scandlines.de, ab 78€), Stena von Kiel bis Göteborg (ab 65€, stenaline.de).

Achtung: Aufgrund vieler eintreffender Flüchtlinge führt Schweden aktuell bis 11. November Grenzkontrollen durch. Alle Einreisenden müssen einen gültigen Ausweis oder Pass vorweisen.

Unterkunft
Vermittlungsportale wie Atraveo (atraveo.de), Holiday Insider (holidayinsider.com) und Casamundo (casamundo.de) bieten Ferienhäuser in Schweden an. Das Haus, das unser Team bewohnt hat, finden Sie bei Casamundo als Objekt Nr. 1090689.

Bilder und Text sind dem Magazin „Merian – Südschweden“ entnommen, es ist im Buch- und Zeitschriftenhandel erhältlich. Das Magazin erscheint jeden Monat mit einem anderen Schwerpunkt.

Inka Schmeling

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