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Privat. Mitterrand mit seiner Frau Danielle im Garten von Latche.

© Konrad R. Müller

Erinnerungen an François Mitterrand: Zwei Tage im Juli

Der Fotograf Konrad R. Müller hatte alle Bundeskanzler vor der Kamera – und den Präsidenten François Mitterrand. Tagebucherinnerungen zum 100. Geburtstag des französischen Politikers.

16. Juli 1983

Mit gemischten Gefühlen stehe ich auf dem Rollfeld des Flughafens von Biarritz. 21 Grad Celsius, verhangener Himmel. Einerseits ideale Voraussetzung für die Arbeit an einem Titel-Porträt, andererseits hindert mich dieses sanfte Grau daran, zu fotografieren, was François Mitterrand bei meiner Arbeit über ihn bislang vermisst: ein strahlendes Sommerlicht. Weitere Defizite seien Blumen, Tiere, das Beisammensein mit seiner Frau.

Danielle Mitterrand ist es, die mir später, nach einer langen Taxifahrt zum Haus des Präsidenten, eröffnet, dass ihr Mann kurzfristig nach Paris geflogen sei. Man rechne noch heute Nachmittag mit seiner Rückkehr. Während ich mich auf dem Anwesen zurechtfinde, macht Madame eine Radtour in Begleitung von zwei sportiven Sicherheitsbeamten. Ich erfahre, dass man mich nicht erwartet hat für diesen Tag. Sämtliche Termine seien abgesagt.

Ich begleiten ihn zu einem Treffen mit Kohl

Ich bin also zurück in Latche. Ein erstes Mal war ich hier am 12. Dezember des vergangenen Jahres. Für einen Nachmittag. Zum Bäumepflanzen.

Gegen 14 Uhr fährt ein Wagen vor, wenig später kommt mir der Präsident über den Rasen entgegen. Er ist erstaunt, mich hier zu sehen. Ein Fehler seines Büros.

Es wird zu Tisch gebeten unter einem Ahorn, einige Bilder entstehen. Das Ehepaar Mitterrand versteht es, mich immer wieder in das Gespräch miteinzubinden. Ich äußere mich über den neuen deutschen Kanzler. Zu meiner Verblüffung lädt mich der Präsident ein, ihn am folgenden Dienstag zu einem Treffen mit Herrn Kohl in die Vogesen zu begleiten.

Den Kaffee nehmen wir einige Meter vom Haus entfernt ein bei einer Ansammlung von Gartenmöbeln. Mitterrand fragt, was ich an Deutschland liebe. Ich entgegne, die Beantwortung der Frage, was ich an Deutschland nicht liebe, würde mir viel leichter fallen.

Während über alles Mögliche gesprochen wird, fallen mir aber immer wieder liebenswerte Gestalten und Dinge ein, die ich zur Kenntnis bringe: Heinrich Böll, das Essen am Oberrhein, der schwierige Willy Brandt, meine Geburtsstadt Berlin, das oberbayerische Land. Der Präsident bedauert, Bayern überhaupt nicht zu kennen.

Wir streiten über Bäuche

Ich bitte um einen Spaziergang am wenige Kilometer entfernten Atlantik, ahnungslos, was sich dort an Menschenmassen jetzt versammelt. Mitterrand erfährt, dass immer mehr Leute teilweise oder gänzlich nackt dort anzutreffen seien. Es wird ein Streit über Bäuche.

Ich beharre darauf, dass die Deutschen unansehnlicher seien und besonders schamlos aufträten, auch wenn sie es aus ästhetischen Gründen besser nicht täten.

Später zieht sich der Präsident in sein Refugium, die Bergerie, zurück. Ich liege in der Sonne. Ein Angestellter des Elysée bringt Tee, Pfirsiche und Pflaumen. Während ich esse, erinnere ich mich der lustvollen Gebärde, mit welcher der Präsident soeben bei Tisch die Früchte seines Gartens verzehrte.

Der Präsident an einem kleinen See in der Nähe von Latche.
Der Präsident an einem kleinen See in der Nähe von Latche.

© Konrad R. Müller

Gegen 18 Uhr erscheint der Herr des Hauses mit einer Gartenschere. Wir sind allein. Eine milchige Sonne steht noch immer viel zu hoch am Himmel. Ich wälze, wie gewohnt, seit Stunden einen Pfirsichkern im Mund. Der Präsident erschrickt, fragt, ob ich krank sei und deutet auf meine dicke Backe. Es folgt eine umständliche Erklärung meinerseits.

Auf dem Weg zu den Bäumen reden wir über das Landleben. Ich sage: „35 Jahre Berlin sind genug.“ Er sagt, er verbringe manchmal gesamte Nachmittage damit, sich seinen Bäumen zu widmen, während seine Gedanken große Reisen unternähmen. Es wird ein Gespräch über kreative Faulheit. Ich schwinge mich zum Experten in dieser Disziplin auf.

Eine Biene in Mitterrands Haar?

Später betreten wir einen Waldweg. Da steht ein Koloss von einem Gendarm, seit zwei Tagen hier abgestellt zur Bewachung des Grundstücks. Der Präsident macht mir die Freude und redet mit ihm. Der Mann läuft rot an und vergisst das Atmen, gleich fällt er um. Noch Minuten später ist er wie gelähmt, das Erlebnis wird er zu berichten wissen. Wir stehen jetzt vor einigen Aluminiumkästen, in denen sich um uns schwirrende Tiere mehrerer Bienenvölker aufhalten. Der stolze Züchter bittet um ein Bild. Es geschieht.

François Mitterrand vermutet eine Biene in seinem Haar. Ich sehe keine. Er bittet mich auf zehn Zentimeter heran. Nichts. Wir reden von einem möglichen Buch über Papst Johannes Paul II. Zurück bei den Häusern, bittet mich der Präsident in die Bergerie. Unmöglich zu arbeiten, es gibt nicht ausreichend Licht. Später fährt er weg, macht einen Besuch in der Umgebung.

Gegen 21 Uhr essen wir zu Abend. Danach verabschiede ich mich. Der Tag klingt aus bei einigen Gläsern in der „Auberge du Soleil“ im wenige Kilometer entfernten Azur. Frankreich, wie ich es liebe. Nachts sorgt ein gewaltiges Gewitter für die ersehnte Abkühlung.

Der Präsident im morschen Kahn

Entspannen - mit der Lektüre der deutschen Militärgeschichte.
Entspannen - mit der Lektüre der deutschen Militärgeschichte.

© Konrad R. Müller

17. Juli 1983

Gegen 11 Uhr bringt mich der Chauffeur von Madame Mitterrand zurück nach Latche. Blitzblanker Himmel, sehr hartes Licht, denkbar schlechte Arbeitsbedingungen.

Ich finde den Präsidenten, ausgestreckt auf einer Liege unter Bäumen, lesend. Der Titel des Buchs überrascht: L’Histoire de l’Armée Allemande 1914- 1946. Nach der Begrüßung mache ich einige Aufnahmen. Bis zum Mittagessen geschieht nichts mehr. Danielle Mitterrand macht eine Radtour, später wird sie schwimmen gehen.

Während des Essens erfahre ich, dass der Präsident selbst fotografiert. Es existieren mehrere Alben. Nach dem Kaffee mache ich meine Bilder in der Bergerie. François Mitterrand bleibt für längere Zeit allein zurück.

Eine Exkursion mit Mücken

Um 17 Uhr bittet mich der Hausherr, meine Kamera zu holen. Wir rüsten uns für eine Exkursion. Mitterrand selbst chauffiert den kleinen Geländewagen. Es geht auf schmalen Waldwegen dahin, vorbei an ärmlichen Häusern, deren unsichtbare Bewohner die Nachbarn des Präsidenten sind. Die Sicherheitsbeamten haben Mühe, uns zu folgen.

Es gibt nur einen Zugang zum See, auf dessen Ufer wir zustreben. Bis auf einen Maisbauern keine Seele weit und breit. Schnell wird klar, warum.

In der Sekunde, in der wir den geschlossenen Wagen verlassen, stürzen sich Tausende von bissigen Insekten auf uns. Gedanken an Hitchcock, ans nackte Überleben. Der Präsident bedeutet mir, mich nicht so anzustellen – das sei eben etwas anderes, als die zivilisierten Seen in Berlin.

Zu Besuch beim Maisbauern

Dennoch, die Arbeit macht Spaß! Ich sehe den ersten Mann im Staate alsbald in einem morschen Kahn, mache die entsprechende, besorgte Bemerkung. Auf dem Rückweg halten wir beim Maisbauern. Der artikuliert, soweit sein lückenhaftes Gebiss es erlaubt, seine Freude und Überraschung über den Besuch.

Zurück in Latche mahne ich die versprochene Porträtsitzung für das Titelbild an, bitte zur Entkrampfung um einen Gesprächspartner. François Mitterrand ruft nach seiner Frau und bittet sie, ihm gegenüber Platz zu nehmen.

Es entsteht kein einziges, verwendbares Bild. Nachdem ich meine Sachen beisammen habe, bedanke ich mich beim Ehepaar Mitterrand für die Gastfreundschaft. Stunden vorher waren wir übereingekommen, den dritten und letzten Tag für Fototermine zu streichen.

Mitterrand erzählt vom Blitz

Wir sehen uns in Biarritz, kurz vor dem Rückflug nach Paris. Der Himmel ist schwarz, ähnlich wie im letzten Dezember, nur nicht so friedfertig. Noch ehe wir in der Luft sind, fegt ein Unwetter über die Rollbahn. Wir starten dennoch, versuchen bis zur Landung gegen Mitternacht auf einem Militärflughafen bei Paris den sich immer neu aufbauenden Gewittern auszuweichen. Vergebens. Die vom Stewart gereichten Getränke werden wieder abgetragen.

François Mitterrand erzählt die lustige Geschichte von einem Blitz, der vor Jahren durch die Maschine knallte, die Lichter löschte und fauchend durch das Heck verschwand. Im Bordbuch, vor dem Start geschrieben, liest sich die Wettervorhersage so: ciel clair, vent faible.

Auf dem Weg zum Wagen, der ihn in seine Wohnung, Rue de Bièvre, bringen wird, versuche ich mit dem Präsidenten über weitere Termine zu sprechen. Ich bin nicht sicher, ob er mir zugehört hat. Paris, das Amt, die Last des Amtes, sie haben ihn vorerst wieder.

Vom 30. Oktober bis zum 13. November gibt es eine Ausstellung zum 100. Geburtstag von François Mitterrand mit 60 Fotos von Konrad R. Müller. Ort: Espace 24 Beaubourg (Rue Beaubourg 24) in Paris.

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