zum Hauptinhalt
Tausende Moskauer haben in den vergangenen Tagen gegen die kontroversen Pläne der Stadtverwaltung protestiert.

© Pavel Golovkin/dpa

Russlands missglückte Stadtplanung: Warum die Moskauer keine Neubauwohnungen wollen

In der russischen Hauptstadt sollen die „Chruschtschowki“-Sozialbauten verschwinden. Der Plan von Präsident Wladimir Putin stößt auf unerwarteten Widerstand.

Sie wirken, als sei die Zeit rückwärts gelaufen. Gar nicht weit vom Moskauer Stadtzentrum, oftmals gleich neben den gigantischen Wohntürmen, die zum Wahrzeichen für die neue, boomende Weltstadt geworden sind, stehen Viertel mit eher unansehnlichen Wohnblocks. Fünf Etagen hoch, sieben bis zehn Aufgänge breit. Die Blocks sind wie Lego-Klötze in Abständen nebeneinander angeordnet. In ganz Russland heißen diese Bauten „Chruschtschowki“, weil sie um das Jahr 1960 während der Amtszeit von Parteichef Nikita Chruschtschow in großer Eile errichtet worden sind. Industrieller Wohnungsbau sollte die gewaltige Not lindern, die durch den massenhaften Drang der Landbevölkerung in die Städte entstanden war.

In Moskau sollen die „Chruschtschowki“ verschwinden. Das haben Wladimir Putin, der russische Präsident höchstselbst, und der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin im Februar verkündet. Sie versprachen den Bewohnern der Wohnblocks moderne, helle Neubauwohnungen an anderem Ort. Das Programm zur Beseitigung der „Chruschtschowki“ gibt es schon seit vielen Jahren. Jetzt sollte es beschleunigt werden. Von der „großen Umsiedlung“, wie sie Bürgermeister Sobjanin nannte, wäre jeder fünfte Moskauer, rund zwei Millionen Menschen, betroffen. Das Land steht vor Präsidentschaftswahlen, im März nächsten Jahres wird abgestimmt. Da helfen selbst in Russland positive Nachrichten, wenn man wiedergewählt werden will.

Dass ausgerechnet ein Wohnungsbauprogramm gefährlich werden könnte, kam den Mächtigen zu keiner Sekunde in den Sinn. Sie rechneten fest damit, dass die Pläne begeistert aufgenommen werden. Die „Chruschtschowki“ sind verschlissen und nur mit gewaltigem Aufwand zu modernisieren. Durch die Fugen der Ziegel und Betonplatten pfeift oftmals der Wind, Wärmedämmung ist kaum vorhanden, die Wohnungen sind klein, die Räume niedrig. Wer sollte nicht froh sein, aus einer solchen Umgebung wegzukommen?

Angst vor Umzug nach Neu-Moskau

Doch statt Freude brach Panik aus. Ausgelöst wurde sie durch dubiose Listen mit den angeblich vom Abriss bedrohten Gebäuden, die Immobiliengesellschaften ins Netz gestellt hatten. Die Behörden reagierten nicht darauf, was zwangsläufig zu wilden Spekulationen führte. Dann brachten Moskauer Abgeordnete einen Gesetzentwurf zur Umsiedlung in die Duma, das russische Parlament, ein. Der war so schludrig gemacht, dass er die Ängste der Betroffenen noch steigerte. Sie hingen nicht unbedingt an den alten Häusern, aber es grauste ihnen vor der Vorstellung, womöglich nach Neu-Moskau umgesiedelt zu werden, eine gerade entstehende Satellitenstadt. Heute haben die Bewohner der „Chruschtschowki“ die nächste Metro-Station praktisch um die Ecke. Von Neu-Moskau wäre es eine halbe Stunde Busfahrt bis zum Endpunkt der nächsten Metro.

Die „Chruschtschowki“-Bauten stammen aus den 60er Jahren.
Die „Chruschtschowki“-Bauten stammen aus den 60er Jahren.

© imago stock&people

Während die Moskauer Stadtverwaltung schwieg, fühlten sich die Menschen immer mehr in einer kafkaesken Situation: Ihr Schicksal befand sich in den Händen eines nebulösen „Gesetzes“, das von irgendwelchen subalternen Beamten willkürlich ausgelegt werden konnte. Die Vorstellung, der Bewohner der „Chruschtschowki“ würde noch immer auf seinem durchgelegenen post-sowjetischen Sofa ruhen und warten, was da komme, zeige, wie weit sich die Macht von den Menschen entfernt habe, meint der Politologe Alexander Baunov vom Moskauer Carnegie Center. Offenbar sei man „oben“ davon ausgegangen, die Menschen würden in der sprichwörtlichen russischen Apathie verharren: „Der Staat hat diese Wohnung gegeben, jetzt gibt er eine andere.“

Tausende demonstrierten in Moskau

Doch so lief es diesmal nicht. Es geschah etwas Außergewöhnliches. Nachbarn, die sich seit Jahren schon noch nicht einmal „Guten Tag“ an der Tür wünschten, redeten wieder miteinander. Sie diskutierten über die Pläne des Bürgermeisters. Sie bildeten Initiativgruppen, um Eingaben an die Behörden zu formulieren, und sie verständigten sich mit Gleichgesinnten aus anderen Vierteln und Bezirken der Stadt. Bei Informationsveranstaltungen quellen die Säle über. Wer keinen Platz bekommt, ist bereit, auf den Fluren oder bis hinaus auf die Straße zu stehen. Praktisch aus dem Nichts entstand spontan eine Bürgerbewegung von unerwartetem Ausmaß, ein horizontales Netzwerk. Etwas, das nicht vorgesehen ist einem Land, in dem Putins Machtvertikale der Bürokraten den Anspruch erhebt, alles zu regeln. Kürzlich gingen 20000 Menschen im Zentrum Moskaus auf die Straße, um für den Erhalt der „Chruschtschowki“ zu demonstrieren. Wenigstens aber wollten sie erreichen, dass sie an den Planungen für die Veränderungen beteiligt werden.

Bürgermeister Sobjanin versprach nun, die Meinung der Moskauer werde berücksichtigt. Die Duma-Abstimmung über das Gesetz wurde in den Frühsommer verschoben, im Internet läuft bis Mitte Juni eine Volksbefragung. Doch viele Betroffene zweifeln daran, dass die Verantwortlichen ihre Entscheidung noch einmal überdenken werden. Gerade wurde eine Umfrage veröffentlicht, laut der zwei Drittel der Moskauer für die „große Umsiedlung“ seien. Das scheint das Ergebnis des Referendums schon vorwegzunehmen. Gleichzeitig kursieren wieder Gerüchte. Wenn sich doch eine Mehrheit für den Erhalt der „Chruschtschowki“ finden würde, sei schon Vorsorge getroffen. Dann würden die Bauten in einem Verwaltungsakt einfach für unbewohnbar erklärt und geräumt. Abgerissen werde in jedem Fall. Ob Putin und Sobjanin diese Eskalation aber vor den Präsidentenwahlen tatsächlich suchen, ist fraglich.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false