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Tänzerin Manuela Carrasco auf der Flamenco Biennale in Sevilla.

© Eduardo Abad, p-a

Reise: Klang der Seele

In Andalusien wurde der Flamenco geboren. Nirgends wird er so berührend zelebriert wie hier.

Sie zieren spanische Postkarten und deutsche Reisekataloge: schwarzhaarige Spanierinnen in spitzenverzierten Kleidern, deren Volants sich im Drehen über der Tanzfläche übereinandertürmen wie die sturmgepeitschten Wellen in der Meeresenge von Gibraltar. Diesem schmalen Meeresstreifen zwischen den Kontinenten, aus dem in sternenübersäten Sommernächten der heiße Atem der Sahara strömt und die Bewohner Sevillas auf die Straßen treibt, wo sie ganze Nächte auf Stühlen sitzen und reden und trinken oder singen und tanzen – bis zur ersten, kühlenden Morgenbrise.

Vielleicht ist es eine dieser legendären Nächte der Schlaflosigkeit gewesen, in der der Flamenco geboren wurde, in denen die Frauen, wild von der Hitze und dem ekstatischen Klatschen und Rufen der Männer, erstmals nach dem Saum ihrer langen Kleider griffen und die Wellen aus Stoff über den Knien zusammenrafften, ihre Schenkel entblößten und zu steppen begannen. Was genau geschah, das weiß keiner der Männer mehr, deren Augen längst tränen vor Glück und deren Hände schmerzen vom vielen Klatschen, mit dem sie seit Stunden die Tänzerinnen anspornen. Sie kennen die Lieder, sie kennen all diese Worte von den heißen Sommern, vom Korbflechten und der Feldarbeit, von der Liebe und vom Tod, der Familie und den Freunden.

„Der Flamenco ist der Blues Spaniens“, sagt Severo Fernandez Mendoza, der ehemalige Schmied von Utrera, einem Bergdorf südwestlich von Sevilla. Mendoza hat dicke Schweißperlen auf der Stirn und die dünne Maria auf den Knien. Sie hat den Kopf an die Brust des Großvaters gelegt und lutscht am Daumen. „Wenn wir am Amboss standen und mit dem Hammer auf das Eisen einschlugen, dann schlugen wir immer einen Rhythmus, und wenn wir etwas zu erzählen hatten, wenn wir etwas auf dem Herzen hatten, dann erzählten wir in diesem Rhythmus, dann sangen wir dazu. Das ist die Seele des Flamenco.“ Nicht Kastanietten, nicht Gitarren, sondern lautes Klatschen und Stampfen begleitete den Gesang.

Seit die andalusischen Reiter, die einst über die staubigen Hügel galoppierten, verschwunden sind, und der Schmied sein Glück nicht mehr mit Hufeisen macht, hat er die Esse in der Ecke abgerissen, ein paar Schemel und Tische eingeräumt und aus der Schmiede die Pena Flamenca Curro de Utrera gemacht. Sie ist eine von vielen Penas in der Provinz, diese kleinen Lokale, an deren Wänden mit dicken Filzstiften signierte Plakate berühmter Flamencotänzer kleben, Zeitungsausschnitte und Urkunden vom Ruhm der lokalen Größen künden.

130 Mitglieder zählt der Club der Tänzer von Utrera, und alle sind begeistert, wenn die alten Männer an den Wochenenden mit ihren vom Arbeiten krummen Rücken auf die Bühne steigen, ihre schweren Hände auf die schweren Herzen legen, mit flehender Geste den Arm ausstrecken, um Luft und um Worte und um Fassung ringen, bis sich endlich der erste, lang erwartete Ton aus der Kehle windet. Ein Ton, der klingt wie der feine, ockerfarbene Wüstensand, den der Regen aus Afrika in die Ritzen des Straßenpflasters spült, den dieser warme Wind auf die Dächer der andalusischen Häuser, in die Seelen der Flamencosänger legt.

„Aber noch wichtiger als die Sänger sind die Gäste!“, sagt Senior Mendoza. „Wenn die nicht in Stimmung sind, passiert gar nichts.“ Heute feuern sie ihre Sänger an: die alte Frau in ihren klobigen Männerstiefeln, an denen noch der Lehm der Felder klebt, und den Sänger mit der großen, altmodischen Brille, die seit Jahrzehnten auf der langen Nase sitzt und dort eine tiefe Kerbe hinterlassen hat.

Wenn Gerardo Nuñez spielt, ertönt Weltmusik

Er faltet die fleischigen Hände über dem Hemd mit den roten Punkten, ringt nach Worten, stotternd kommt er in Gang. Aber dann singt er, stemmt schamlos die Arme in die Hüften, wiegt den dicken Bauernbauch und rafft das Jackett zusammen wie ein Kleid mit Rüschen. Immer wilder wird das Zucken in seinen alten Hüften über den kurzen Beinen, bis er am Schluss, unter dem Gegröle der Zuschauer , die verschränkten Arme wiegt, als trage er ein Kind in den Armen. Und bis er wieder leiser wird: „Schlaf mein Schatz, hab’ keine Angst, meine Brust schützt Deine Händchen, die erstarrt sind vor Kälte...“

Überall in den Hügeln oberhalb von Sevilla wird der Flamenco getanzt: zwischen den mächtigen Mauern des Burghofes der Festung von Alcala del Guadaira im Tal der Mühlen am Rio Guadarira, wo das Festival von Alcala stattfindet; in Arahal, auf dessen kleiner, von Palmen umstandener Plaza vor bald 200 Jahren der amerikanische Schriftsteller Washington Irving sein Pferd anband, um ein Glas Wein zu trinken. Und wo noch heute die menschenleere Mittagsstille der Siesta herrscht, wo aber einst eine der berühmtesten Flamencosängerinnen Spaniens den Mann ihres Lebens kennen- lernte: Pastora Pavon. Ihr ist das Festival von Arahal gewidmet, ein kleines Museum erinnert an ihren legendären Auftritt im Casino und an die wenigen weiblichen Stimmen des Flamencos.

Getanzt wird auch im nahen Mairena del Alcor mit seiner Flamenco-Pena im ersten Stock über dem „Kiosco Pepe“, in dem ein altes Ehepaar den ganzen Tag darauf wartet, dass Kinder Schokolade und Erwachsene Zigaretten kaufen. Die Alten haben auch abends noch geöffnet, wenn im ersten Stock über der Plaza mit dem Schachbrettmuster die Tänzerinnen vor Wut zu stampfen beginnen, weil die Männer nicht genug klatschen. Sie sind laut, die Tänzerinnen von Mairena del Alcor, sie tragen hochhackige Schuhe, haben ihre Haare kunstvoll geflochten und die Schminke sorgfältig aufgetragen. Später, wenn die Tänzerinnen in ihren Spitzenkleidern lässig und schön an der Bar lehnen, ziehen sie die Blicke auch der stolzesten Spanier auf sich.

Auch vor dem Theatro Lope de Vega unten in Sevilla sind die Spanierinnen schön. In dem barocken Schmuckkästchen mit dem verspiegelten Vestibül und seinen samtbeschlagenen Logenreihen unter der hohen Kuppel versammelt sich alle zwei Jahre im Herbst die feine Gesellschaft aus Anlass der Flamenco-Biennale. Auf der Bühne des Theaters stehen keine Bauern und keine Hausfrauen in lehmigen Stiefeln mehr, sondern Sänger, Musiker und Tänzer in farbenprächtigen Kostümen von internationalem Ruf.

Und wenn der Gitarrist Gerardo Nuñez mit seinen Sängern, Tänzern und Percussionisten auftritt, erinnert das an die großen Konzerte von Paco de Lucia. Dann verlässt der Flamenco die Penas die kleinen Bühnen der Dörfer, vermischt sich mit Weltmusik, Jazz, dem griechischen Rembetiko sowie mit Blues und Tango. Das Festival von Sevilla ist der Höhepunkt eines langen spanischen Sommers voller Tanz und Musik. Zwei Wochen lang widmet sich das Städtchen allein dem Flamenco.

Dann kommt der Winter – endlich mit angenehmen Temperaturen. In der Stadt geht dann jeder seinem Alltagsgeschäft nach. In den Bergen jedoch wird weiter gefeiert, weiter getanzt. In Utrero sitzt die kleine Maria kichernd auf den Knien des Großvaters, die auf- und abwippen im Rhythmus des Gesanges. „Es ist egal, wie gut da vorne gesungen und gespielt wird“, sagt Mendoza, „wenn nur das Herz dabei ist.“ Und Gerardo Nuñez sagte einmal: „Es kann schon vorkommen, dass die Hände nicht mehr so wollen wie früher. Aber Musik muss man mit dem Herzen machen, und nicht mit den Fingern.“

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