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„Maid of the Mist“. Das alte Schiff kämpft sich wie eh und je durchs aufgewühlte Wasser.

© Patrick Escudero/hemis.fr/laif

Kanada: Blondine am Abgrund

Marilyn Monroe machte die Niagarafälle berühmt. Vor 60 Jahren kam der legendäre Film ins Kino. Nun lockt das Ehedrama auch Honeymooner.

Die „New York Times“ war begeistert: „Den sieben Weltwundern hat Hollywood soeben zwei weitere hinzugefügt: die Niagarafälle und Marilyn Monroe.“ So enthusiastisch beginnt die Zeitung am 22. Januar 1953 ihre Kritik nach der Premiere des Films „Niagara“. Der Mix des Streifens ist ebenso simpel wie attraktiv: Die atemberaubend schönen, aber zugleich stets unheilvoll rauschenden und beängstigend tosenden Wasserfälle dienen als quietschfarbene Technicolor-Breitwand-Kulisse.

Darin dient jeder Meter Weg, jede Treppe als Laufsteg für ein bis dato weitgehend unbekanntes blondes, verführerisches Gift in unterschiedlichen hautengen Kleidern. Manchmal trägt sie auch gar nichts, ist nackt unter einer locker fallenden Bettdecke. Sogar die brave katholische Filmkritik konnte sich der Wirkung des infernalen Duos Niagara plus Monroe damals nicht entziehen und urteilte – wohl unfreiwillig – zweideutig: „Amerikanisches Ehedrama mit geschickter Verwendung von Naturschönheiten.“

Am einstigen Drehort auf der kanadischen Seite der Niagarafälle muss man heute nicht lange nach Marilyns Spuren suchen. Das Filmplakat, ein Bildband, der Film auf DVD – alles liegt dutzendfach parat in den Souvenirläden.

Nach dem Blick auf schwarz-weiße Promotionfotos für „Niagara“ gibt’s an der River Road entlang des bis zu 330 Meter breiten gigantischen Natur-Whirlpools ein schönes Déjà-vu: Manch älteres Semester mit betonierter Dauerwelle posiert noch heute wie Marilyn vor 60 Jahren am verschnörkelten Promenadengeländer: Brust raus, Zahnpastalächeln anknipsen, die blonden Locken herausfordernd in den Nacken werfen.

Wer im Touristengetümmel Weitwinkel-Panorama-Aufnahmen der hufeisenförmigen, kanadischen Niagarafälle machen will, kann schier verzweifeln. Ständig ist irgendwer im Bild. Eine Hand, ein Ohr oder gar ein breiter Rücken schieben sich in die Optik, als man gerade abdrücken will. Da hilft nur geduldig den einen „freien“ Moment abzuwarten oder sich beherzt zwischen Monroe-Doubles und Busreisegruppen zu drängeln.

Nur ein paar Gehminuten flussabwärts, schon ist der Besucher mittendrin im Filmset. Hier beginnt der „Niagara“-Thriller: Polly Cutler und ihr Mann Ray wollen ihre Flitterwochen nachholen, in einem eigens für den Dreh errichteten Bungalow mit Niagarafälle-Blick. Doch die Unterkunft ist noch belegt von Rose Loomis (Marilyn Monroe) und ihrem Mann George. Rose bittet, den Bungalow behalten zu dürfen, ihrem vom Korea-Krieg traumatisierten Mann gehe es schlecht. Die Cutlers sind einverstanden.

Posing in den Pausen - Hunderte Fotos entstehen.
Posing in den Pausen - Hunderte Fotos entstehen.

© Niagara Falls (Ontario) Public Library

Doch Polly Cutler sieht Rose wenig später in inniger Umarmung mit einem anderen Mann bei den Niagarafällen. Beide küssen sich leidenschaftlich. Auch Roses Ehemann George schöpft offenbar Verdacht. Er folgt seiner Frau am nächsten Tag zum sogenannten „Scenic Tunnel“. Der führt – feucht und 46 Meter lang – noch heute aus einem Felsen heraus hinter die gut 50 Meter in die Tiefe rauschende Wasserwand. Ein beklemmendes Gefühl. Nirgends kommt der Besucher den Wasserfällen so nahe wie auf dieser Aussichtsplattform. Sie wurde ein Jahr vor dem „Niagara“-Dreh eröffnet – und avancierte schnell zur Touristenattraktion der frühen fünfziger Jahre. Ein idealer Showdown-Schauplatz für Roses Liebhaber und ihren eifersüchtigen Ehemann.

Während drehfreier Stunden genießt Marilyn Monroe ihren wachsenden Star-Status. Sie gibt Autogramme auf der Niagara-Promenade und bricht zur schönsten, freiwilligen Regendusche der Welt auf, einer Schiffstour mit der „Maid of the Mist“, dem seit 1848 durch Gischt und aufgewühltes Wasser dampfenden Ausflugskahn. Die „Maid of the Mist“ existiert noch immer. Sie kämpft sich nach wie vor stündlich mit hunderten Touristen an Bord bis auf wenige Meter an die breite Sturzflut heran.

Der Regisseur zeigt viel wippenden Hintern in Nahaufnahme

Kapuzenküsse. Im Film „Niagara“ wähnen sich die Liebenden im Glück.
Kapuzenküsse. Im Film „Niagara“ wähnen sich die Liebenden im Glück.

© p-a/obs

Um Marilyn, im schulterfreien, knallroten Kleid vor Wasserspritzern zu schützen, bietet der Kapitän ihr einen weißen Regenumhang an – üblicherweise königlichen Hoheiten vorbehalten. Die Schauspielerin lehnt ab und schlüpft in den Poncho für Normalbürger. Der ist heute blau wie ein Müllsack und einziger Schutz gegen einen Ganzkörperwasserschaden. Die „Maid“ bleibt so lange vor dem Wasserfall, bis wirklich jeder Passagier seine Niagara-Taufe hat und die Gewissheit, eine Ameise zu sein angesichts dieser schier himmelhohen Naturgewalt.

Die Hollywood-Schauspielerin war neugierig. Eingehend fragte sie den Kapitän nach den „Daredevils“, die sich die Wasserfälle todesmutig hinabgestürzt hatten. Monroe hört Geschichten von Annie Taylor (sie überlebte 1901 im Holzfass) oder dem Engländer Charles Stephens, vom dem nach dem Niagara-Sturz 1920 nur der rechte Arm gefunden wurde.

Diese und andere Draufgänger – nicht nur ein Thema im sehenswerten „Daredevil-Museum“, sondern auch im Film „Niagara“: Leichenteile eines Mannes werden angeschwemmt, Rose bricht bei der Identifizierung zusammen. Doch ihr Mann ist nicht der Tote, sondern taucht wenig später wieder auf, jagt seine Frau Stockwerk für Stockwerk den Turm der Rainbow Bridge hoch und erwürgt sie im Glockenturm. Marilyn Monroe stirbt so vor dem Filmende und ist zu diesem Zeitpunkt längst neu geboren – als neue Sex-Ikone der noch prüden fünfziger Jahre.

Und sie brilliert mit dem bis dato längsten, sinnlosen Gang der Filmgeschichte: 16 Sekunden lässt der Regisseur sie wenige Meter weit auf die Niagarafälle zugehen, zeigt sehr viel wippenden Hintern in Nahaufnahme – und sehr wenig Wasserfall. Wer die Niagarafälle in ihrer kompletten Schönheit und ohne Gedrängel auf einen Blick möchte, sollte die Vogelperspektive buchen – einen Hubschrauberflug. Der stand im Übrigen vor 60 Jahren schon im „Niagara“-Drehbuch: Polly wird aus der Luft spektakulär von einer Felsklippe gerettet, wohin sie sich vor George gerettet hat, der auf der Flucht kurz darauf mit einem gestohlenen Boot die Fälle hinunter in den Tod stürzt.

Abseits von Niagarafällen und Uferpromenade stapelt sich die Stadt Niagara Falls, in Form von Hotels, klotzig in Beton gebaut und aufdringlichen, kunterbunten Leuchtreklamen.

Damals noch nicht eingeklemmt zwischen Spielhallen und Disneyland-Verschnitt, ist das General Brock Hotel bei den Dreharbeiten wochenlang Marilyn Monroes Zuhause. Und zunehmend auch das von Jock Carroll. Der Fotograf des kanadischen „Weekend Magazines“ hat eine Woche lang nahezu ungehinderten Zugang am Set und schießt mehr als 400 Bilder von Marilyn Monroe: unter die Bettdecke gekuschelt das „Niagara“-Textbuch lesend .Im weißen Bademantel, die wasserstoffblonden Haare auftoupiert. Oder mit Maskenbildner Allan Snyder, der ihr den Lippenstift nachzieht. Sie übt, mit besonders verruchtem Gesichtsausdruck zu rauchen, rollt die Zigarette im Mund hin und her, so wie es im Drehbuch ihres nächsten Films „Blondinen bevorzugt“ verlangt wird. Heute würde der Feueralarm losheulen – Nummer 801 im heutigen Crowne Plaza ist längst ein Nichtraucherzimmer.

Carrolls Fotos erscheinen 1996 im Bildband „Falling for Marilyn“. Er zeigt nicht nur den werdenden Star, sondern auch die noch vom Massentourismus verschonten Niagarafälle – mit Holzbuden als Kassenhäuschen und ohne Blechlawinen. Doch das ändert sich rasant, als „Niagara“ in die Kinos kommt: Obwohl Polly und Ray im Film den Honeymoon-Horror erleben, avanciert Niagara Falls zur „Honeymoon-Hauptstadt“, dem Top-Ziel amerikanischer und kanadischer Hochzeitsreisender.

Es hätte aber auch ganz anders kommen können. Der „Niagara“-Film hätte im Giftschrank verschwinden und Marilyn Monroes beginnende Kinokarriere abrupt enden können: Kurz vor dem Filmstart tauchen drei Jahre alte Nacktfotos von ihr auf, in Kalendern und in der ersten „Playboy“-Ausgabe. Doch der Monroe gelingt ein ebenso unbekümmerter wie entwaffnender Befreiungsschlag. Auf lüstern-scheinheilige Journalisten-Fragen, ob sie denn gar nichts angehabt habe, antwortet sie: „Doch, hatte ich – das Radio.“

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