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Italien: Windschief ist charmant

Das Höhlenviertel von Matera in der süditalienischen Basilikata besticht durch morbiden Charme. Wer dort ein Hotelzimmer mietet, verliebt sich sofort.

Bachs Choräle malen den Sonntag aus. So festlich klingt das in der schmucklosen Grotte, die vor langer Zeit einer Abtei als Kapelle diente, und in der jetzt das Hotel Sextantio Frühstück auf derbem grauen Leinen serviert. Wo einst Armut herrschte, werden nun Verzicht und frugale Schönheit stilvoll zelebriert. Der Tisch ist gedeckt wie fürs Abendmahl: kirschsüße Crostata, ofenwarme Focaccia mit Tomaten, reife Aprikosen und das krustige Hefebrot von Matera. Nur Josef und Maria fehlen in dieser biblischen Szenerie.

Es dämmerte bereits, als wir Matera am Vorabend erreichten. In einer kurzen Stunde von Bari her kommend, war die Stadt auf dem Hügel von ferne wie eine Erscheinung, so silbrig-grau schimmerte der aus der Erde geschlagene Tuffstein im abnehmenden Licht: die Häuser und Palazzi und darunter die in den Kalkberg geschlagenen uralten Höhlen. Bloß der schlanke Campanile des Doms stach als Scherenschnitt in den rosigen Abendhimmel. Falken und Dohlen drehten eine letzte Runde. Dann war es schlagartig dunkel. Nur die Lichter Altamuras im nahen Apulien funkelten.

Der Fahrer hatte uns im archäologischen Viertel am Fuße der Stadt Matera wohl vorm Hotel abgesetzt, den Koffer über abgewetzte Steinstufen ins Nirgendwo geschleppt und war schnell verschwunden. Wäre da nicht ein reizender Mensch aufgetaucht und hätte uns die riesige verwitterte Holztür zu unserer Schlafhöhle mit einem märchenhaft großen Schlüssel geöffnet – wir wären verloren gewesen. Nur Mauern und Steine vor uns. Kein großes Portal: Albergo Sextantio! Hinter uns bloß tiefe Felsabstürze und irgendwo diffus die Hochebene Murge.

Wir entzündeten ein paar Kerzen in unserer Grotte, inspizierten die wie eine halbe Eierschale auf dicken Erdsteinen ruhende Badewanne, den irdenen Waschtrog, ein paar bäuerliche Möbel und lauschten den letzten Grillen im Weinlaub vor der Tür. Dann wünschten wir uns gute Nacht in der stillen Stockfinsternis. Tief und fest schliefen wir unter alten handbestickten Leinentüchern, bis wir am Morgen vom Gebimmel der Kuhglocken geweckt wurden. Wir öffneten die Stalltür und schauten in die Weite einer felsigen Kalksteinlandschaft. Aus der nahen Schlucht hörten wir Frösche quaken. Diesseits des Tales und über uns schachtelte sich Matera hügelauf. Haus für Haus. Stein auf Stein. Sandfarben und aschgrau. Jetzt rächt sich, wer kein bequemes Schuhzeug dabeihat. Diese Stadt will erlaufen sein.

Aus Tuffsteinwänden drängen Kapern und Kräuter

Einzigartige Unterkunft. Im Hotel Albergo Sextantio in Matera sind die Zimmer und Suiten in großen Höhlen untergebracht. Zur Tür der Grotte passt ein schöner großer Schlüssel.
Einzigartige Unterkunft. Im Hotel Albergo Sextantio in Matera sind die Zimmer und Suiten in großen Höhlen untergebracht. Zur Tür der Grotte passt ein schöner großer Schlüssel.

© promo

Weltweit berühmt und auch berüchtigt wurde Matera durch Carlo Levis 1944 erschienenes Buch „Christus kam nur bis Eboli“, das 1978 von Francesco Rosi verfilmt wurde. Darin schildert der damals als Antifaschist in die Basilikata verbannte Schriftsteller und Maler die Wohnverhältnisse der armen Landarbeiter und Schäfer von Matera, die noch bis in die 1950er Jahre wie im Mittelalter ohne Wasser und Belüftung mit ihren Tieren im Dunkel der Grotten lebten: 15 000 Materani in 3000 Höhlen. In der Oberstadt und in den Palazzi wohnten der Adel und die Großgrundbesitzer.

Sassi nennt man die Höhlenviertel 400 Meter über dem Meer. Als dank Pavese alle Welt auf die Wohnverhältnisse aufmerksam wurde, galten die Grotten bald als Schandfleck. Von 1953 bis 1968 evakuierte man ihre Bewohner und siedelte sie in neu gebaute Stadtviertel um. Heute sind die Grotten der antike Kern der Stadt und seit 1993 Weltkulturerbe. Unzählige Kirchen mit wunderschönen Höhlenmalereien, aufgebracht von griechisch-byzantinischen Mönchen im 8. Jahrhundert nach Christus, kann man ebenso besichtigen wie ein Grottenmuseum, das die Lebensverhältnisse vor kaum mehr als 50 Jahren puppenstubenartig nachgestellt hat. In manchen der Höhlen haben sich Hotels und Restaurants eingerichtet, so wie das Sextantio, dessen Luxus die Einfachheit ist.

Vom Hotel weg spazieren wir auf blank getretenen aalglatten Steinen hinauf und stehen bald vor dem Dom, wo die vatikanische Flagge im Wind flattert, wie immer, wenn der Erzbischof in Matera weilt. Über eine Brüstung schauen wir auf den Stadtteil Sasso Barisano: Dach an Dach, Haus an Haus, Höhle an Grotte. Matera ist ein dicht bebauter Kegel, verbunden durch Treppchen und steinerne Wege. Wir folgen den Musikfetzen von der Piazza Sedile, die morgens ab neun einem Freiluftkonzertsaal gleicht, weil hier das Konservatorium seinen Sitz hat und die Studenten üben. Die Fenster der puderfarbenen Palazzi sind weit geöffnet. Flötentöne steigen in den Himmel. Klarinettensoli erklingen. Hörnerklang und Klaviermusik schlüpfen aus Häusern, von Balkonen. Eine herrliche Kakophonie. Nur die Glocken der Kathedrale schlagen den immer gleichen Ton.

In den kleinen Cafés am Platz lassen sich die Materani klangvoll auf den Tag einstimmen. So kann’s gehen! Ein alter Mann hat sich auf seinen Stock gestützt auf dem Rande eines Blumenkübels niedergelassen und genießt. Er sitzt noch immer da, als wir am Nachmittag wiederkommen. Jetzt treibt es uns weiter, treppauf und treppab, vorbei an Häusern mit kunstvollen Veranden, aus denen Rosen wachsen, begleitet von Duftwolken weißen Jasmins, der über mürbe Mauern stürzt. Aus Tuffsteinwänden drängen Kapern und Kräuter. Kleine Trattorien laden ein zum Verweilen, und verwitterte alte Häuser warten darauf, wachgeküsst zu werden.

Matera gleicht einer versteinerten Dornröschenwelt. Wir naschen eine Capponata und stehen gestärkt auf der autofreien Piazza Vittorio Veneto vor dem ehemaligen Convento dell’Annunziata, einem Dominikanerinnenkloster. Von dessen Dach lassen wir den Blick in die weizenblonden Hügel der Basilikata in der Ferne schweifen. Unten vorm Café Tripoli sitzen zwei alte Männer. Als wir vorbeigehen, setzt einer die Mundharmonika an und spielt Lili Marleen.

Wir folgen den verlockenden Düften, die aus der Casa del Pane (Bäckerei) strömen und kaufen krachend frische Cantucci und Pettole, das ist in Fett Gebackenes sowie ein knuspriges Weizenbrot mit saftigen schwarzen Oliven drin, in das wir schon ein riesiges Loch geknabbert haben, als wir an der Piazza Garibaldi ankommen. Schnell wegstecken und dann nichts wie rein in den Palazzo Lanfranchi, der seit 2003 das Museum für moderne und mittelalterliche Kunst ist und Carlo Levis expressionistisch anmutende Gemälde birgt, die dieser nach seinem Tod der Stadt Matera vermachte. (Giovanni, der Besitzer des Buchladens am Platz hatte es uns erzählt. Bei ihm finden wir etliche Bücher von und über den Maler und Schriftsteller.)

Zusammen mit den leckeren Backwaren und einer Flasche rotem Primitivo di Matera schlendern wir zurück über die Piazza Sedile und den Domplatz bergab zu unserer stillschönen Herberge. Vor unserer Grotte ist eine kleinere steinerne Bank in den Fels geschlagen. Ein windschiefer Tisch, eine dicke Kerze. Das genügt. Von den 60 000 Bewohnern der Stadt ist hier unten nichts zu sehen, und abends verläuft sich kein einziger Tourist hierher. Außer, er wohnt im Hotel Sextantio. Niemand, der stört.

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