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Eins der vielen religiösen Feste Nepals: Angehörige der Newar-Minderheit beten beim Jatra-Fest den Gott Bhimsen an.

© Prakash Mathema / AFP

Nepal: Im Kreis der Energie

Man erwartet Zerstörung und findet Stille. In Nepal kann jeder Tag ein spirituelles Erlebnis bringen. Zu Besuch in einem Land, das nicht nur für die Götter früh aufsteht.

Von Julia Prosinger

Nebel legt sich über die Tempelanlagen aus Terrakotta, Hühner picken zwischen Pflastersteinen und Nirusha Sainju kniet vor ihrem schmalen Backsteinhaus, um den Boden zu segnen. Die 21-Jährige mit dem langen, seidigen Haar legt eine gelbe Blüte vor die Schwelle und tupft eine Tika auf die Erde. Die Farbe für das Segenszeichen rühren sie hier selbst an, aus Joghurt, Reis und rotem Puder. Es soll Glück für den Tag bringen und böse Geister fernhalten.

Nepal steht früh auf. Besonders in den Dörfern, wo die Elektrizität nicht zuverlässig funktioniert, beginnt das Leben bei Sonnenaufgang. Auch hier in Panauti, der 10.000-Einwohner-Stadt bei Kathmandu, in der Nirushas Familie vom Werkzeugladen ihres Großvaters lebt.

Nirusha und ihre Schwester tragen westliche Röhrenjeans und knipsen Selfies für Facebook – schwer vorstellbar, dass sie morgens um fünf aufwachen, die schmale Holzleiter aus ihrem Zimmer hinaufklettern, um die kleine Nische vor der Küche zum Minitempel zu erwecken. Oder dass sie leichtfüßig auf dem Wellblechdach balancieren, wo sie Magnolien und würzig riechende Ringelblumen ernten. Anbau für den eigenen Bedarf. Und wer hätte gedacht, dass sie dann die goldfarbenen Gottestatuen waschen, sie wie die Straße mit der roten Paste und den taufrischen Blüten segnen? Und anschließend Baumwollbausche in duftendes Öl tauchen und anzünden?

Die grünen Plastikarmreifen und smaragdfarbenen Fingernägel tragen sie auch nicht aus modischen Gründen, sondern huldigen damit Shiva, ihrem höchsten Gott.

Nur Jerusalem ist religiöser als Nepal

Dies ist kein Ort für jene, die Angst vor Spiritualität haben. Nur Jerusalem ist religiöser als Nepal. Kaum ein Monat vergeht, an dem nicht ein bedeutendes Fest gefeiert wird. 82 Prozent der Nepalesen sind Hindus, doch viele, wie auch die angesehene Volksgruppe der Newar, zu der Nirushas Familie gehört, leben eine Mischung aus Buddhismus und Hinduismus.

Wer in diesen Tagen nach Nepal reist, wenige Monate nach dem Erdbeben der Stärke 7,9 – mehr als 8000 Menschen kamen ums Leben, etliche Kulturdenkmäler wurden beschädigt – , hat sich auf Zerstörung eingestellt. Doch ihn erwartet vor allem Stille. Er hat asiatisches Gewusel befürchet und findet Ruhe. Und tut kaum einen Schritt ohne spirituelles Erlebnis.

Zum Beispiel jetzt. Eine enge Gasse in der Hauptstadt am frühen Morgen: Mopeds schmiegen sich an Frauen in roten Saris vorbei, ein Stau bildet sich. Ein hölzerner Karren steht mitten auf der Straße, darauf eine meterhohe Reisigpyramide. Die Mopeds stoppen, ihre Besitzer halten die Handflächen aneinander und neigen die Stirn zum goldenen Abbild eines Gottes. Das soll Regen und eine gute Ernte bringen. Hier zieht, und man gerät zufällig mitten hinein, gerade einer der vielen hinduistischen Götter von seiner Sommer- in die Winterresidenz um. Mit Beginn der Regensaison wechselt der Rato Machhendranath die Tempel.

Sobald die Kumari zur Frau wird, ist sie frei

Oder jetzt. Hinter einem unauffälligen Tor regiert die Kumari. Ein siebenjähriges Mädchen, in der, nach Glauben der Hindus, eine Göttin lebt. Man sieht ihr an, dass sie lieber mit den Stofftieren aus der verstaubten Glasvitrine spielen würde, statt Touristen und Gläubige zu den Besuchszeiten – als wäre sie eine Bibliothek – für 100 Rupien (etwa ein Euro), mit einer Tika zu bedenken. Ihre rot lackierten Fußnägel zappeln unter dem purpurfarbenen Sari hervor, ihre Augen verdreht sie hinauf zur niedrigen Decke.

Die Kumari ist auserwählt, die Hülle der Göttin Taleju zu sein.
Die Kumari ist auserwählt, die Hülle der Göttin Taleju zu sein.

© Wolf Radtke

Ein Komitee älterer Männer hat das Mädchen vor zwei Jahren als Hülle der hinduistischen Göttin Taleju ausgewählt. 32 Eigenschaften muss die jeweils Auserwählte dafür erfüllen. Es gilt, die symmetrischsten Gesichtszüge, die edelste Herkunft, die absolute Furchtlosigkeit zu bestimmen. Misswahl auf nepalesische Art. Sobald die Kumari zur Frau wird, wird die Göttin in einen anderen Kinderkörper einziehen. Und das Mädchen wird frei sein.

Es ist, als habe man mit der Ankunft in diesem Land einen Schalter umgelegt. Auf Stille. Liegt es an der feuchten Luft, die den Blick trübt, dass alles ruhiger ist, als man es von einer 3,5-Millionen-Stadt wie Kathmandu erwartet? Wie durch einen dämpfenden Filter sieht man Kabel gordisch zwischen Masten verknotet, an denen Affen ungestört klettern. Händler transportieren langsam Körbe voller Bananen und Birnen auf ihren Köpfen. Frauen waschen gemächlich Wäsche an Brunnen und hängen sie zwischen wenigen Maisstauden hinter den Häusern auf. Ziegen lugen aus Fensteröffnungen. Als heilig verehrte Kühe dösen in Straßengräben.

Oder liegt es daran, dass die Menschen hier mit etwas anderem beschäftigt sind, als damit, Geld zu verdienen?

Der Pashupatinath-Tempel liegt unversehrt am Bagmati-Fluss

Frömmigkeit durchdringt den Alltag in Nepal. Diese Frau betet an der großen Stupa in Bodnath, einem Vorort von Kathmandu.
Frömmigkeit durchdringt den Alltag in Nepal. Diese Frau betet an der großen Stupa in Bodnath, einem Vorort von Kathmandu.

© Wolf Radtke

Viele Wanderer sagten ihre Touren ab. Die Regierung hatte bis vor Kurzem ihre größte touristische Einnahmequelle, den Mount Everest, gesperrt. Aus Angst vor Lawinen. Das Tal, in dem Kathmandu und die anderen ehemaligen Königsstädte Patan und Bhaktapur thronen, gehört seit 1979 zum Unesco-Weltkulturerbe. Kulturreisende glauben nun, die gesamten Sehenswürdigkeiten lägen in Scherben. Entsprechend leer sind Hostels und Restaurants in Kathmandu. Hin und wieder bedankt sich jemand herzlich für den mutigen Besuch in seinem Land.

Doch wüsste man nichts von dem jüngsten Erdbeben, man würde die wenigen mit weißen Tüchern umwickelten Türme der Tempelanlagen für ein Zeichen regulärer Instandhaltungsarbeiten halten. Immerhin stammen viele dieser Bauwerke in der Hauptstadt aus dem 17., eines gar aus dem 12. Jahrhundert. Nur in Bhaktapur, der Stadt, die für ihren gesüßten Büffeljoghurt und die traditionelle Töpferkunst bekannt ist, wird die Katastrophe sichtbar. Männer schichten Steine unter orangefarbenen Planen auf, hunderte Tonvasen sind zerbrochen. Man könnte die – wenigen – Risse in den Häusern für normalen Verfall in einem armen Land halten.

Wer es sich leisten kann, richtet seine Tempel wieder her. Das Geld, sagen die Nepalesen, fließt jetzt von den Reichen zu den Armen, zu Handwerkern und Tagelöhnern.

Auch Pashupatinath, eine der wichtigsten Tempelanlagen des Hinduismus, liegt unversehrt am Bagmati-Fluss. Es ist der Ort, an dem die Nepalesen ihre Verstorbenen verbrennen. In einer Welt, die an die Wiedergeburt glaubt, kann jeder dabei zuschauen. Und es ist weit weniger gruselig, als es klingt. Die Toten werden an dem heiligen Fluss gewaschen und in gelbe Seide gehüllt. Dann trägt die Familie sie wenige Schritte weiter, zum öffentlichen Krematorium. Mit Stroh und Sandelholz werden die Körper verbrannt. Die Asche streuen die Angehörigen in den Fluss. Würdige Stille, auch hier.

In der Molkerei wird die Büffelmilch in kleine Tüten abgepackt

Ein jeder erzählt in diesen Zeiten Erdbebengeschichten. Nirusha und ihre Schwester Aayusha aus der kleinen Stadt Panauti beschreiben unaufgefordert, wie der Boden ruckelte, wie sie dann nach jenem Tag im vergangenen April aus Vorsicht ein paar Tage in Zelten schliefen. Es ist nichts passiert, ihnen nicht, dem ganzen Ort nicht. Vielleicht, sagen sie und kichern, haben sie ihr Haus oft genug gesegnet. Zur Sicherheit überprüften staatliche Ingenieure alle Gebäude, bevor die Familien wieder einzogen.

Die beiden Mädchen studieren an einem College Marketing und Buchhaltung, und seit ihr Vater gestorben ist, verdient sich die Familie etwas dazu, indem sie Touristen beherbergt. Wer sich darauf einlässt, kann hier erleben, wie sich Tradition und Moderne vermischen: Begrüßungstanz der geschmückten Frauen im Ort; gemeinsames Kochen, scharf gewürzte Kartoffeln, pikanter Mangold. Ganz schön schwierig, die nepalesischen Roti, kleine Pfannkuchen, in die runde Form zu bringen!

Verkleidungsspiele mit den Saris der Mutter, die eigens für die Gäste ein paar Brocken Englisch gelernt hat; indische Soaps im Fernsehen, nebenher Kartenspielen; ein nächtlicher Spaziergang zur Molkerei, die Büffelmilch in kleine Tüten abgepackt; Henna-Tattoos auf den Handflächen ... und eine eiskalte Dusche gemeinsam mit dem einzigen Huhn der Familie, das dort lebt, wo das Wasser tropft. Niemand geht ohne eine Kette aus orangenen Studentenblumen um den Hals, die die Töchter früh morgens aufgefädelt haben. Niemand geht ungesegnet.

Die jungen Männer arbeiten auf den Baustellen der Golfstaaten

Immer diese falschen Erwartungen! Nepal, das sind doch die höchsten Berge der Welt, hier erhebt sich, an klaren Tagen aus Kathmandu oder Pokhara, der zweitgrößten Stadt des Landes, zu bestaunen, der Himalaya in weißer Pracht. Macht Lust auf Abenteuer, weckt Sehnsucht nach Gefahr. Everest, Kangchenjunga, Dhaulagiri oder Annapurna, das tückischste Gebirgsmassiv von allen. Doch sie liegen in diesen Monsun-Monaten unerreichbar hinter dicken Wolken.

Stattdessen geht es Richtung Chitwan Nationalpark, Python-Urwald, Nashorn-Seen. Der Blick verliert sich im endlosen Grün der Reispflanzen, hängt manchmal an den Farbklecksen, den gekrümmten Rücken der Frauen, die in den Feldern arbeiten. Oder sind es weiße Kuhreiher, die dort nach Nahrung gründeln?

Nepal exportiert Tee, Kaffee, Ingwer. Den Reis braucht das Land selbst. In vielen Regionen sieht man nur Frauen, Kinder und Alte winken – die jungen Männer arbeiten auf den Baustellen Indiens, Malaysias oder in den Golfstaaten, um Geld heim zu senden. 2013 machte das etwa ein Viertel des Bruttoinlandproduktes aus.

Kaum einer will heutzutage noch freiwillig Mönch werden

Wie so oft in Nepal sind im Tempelkomplex Swayambhunath bei Kathmandu buddhistische und hinduistische Elemente verschränkt: Oben die buddhistische goldene Stupa, unten zwei hinduistische Löwen, traditionell Reittiere von Göttinnen.
Wie so oft in Nepal sind im Tempelkomplex Swayambhunath bei Kathmandu buddhistische und hinduistische Elemente verschränkt: Oben die buddhistische goldene Stupa, unten zwei hinduistische Löwen, traditionell Reittiere von Göttinnen.

© Wolf Radtke

So flach kann dieses Land der 8000er Berge sein, dass ausgedehnte Radtouren möglich sind. Oder gemeinsames Reispflanzen auf weiten Terrassen. Man muss dafür nur so früh aufstehen wie Nirusha und Aayusha. Oder wie die Mönche des Neydo Klosters. Guru Rinpoche, Padmasambhava, der Lotosgeborene, eine Inkarnation Buddhas und der Gründer des tibetischen Buddhismus, soll hier in der Nähe in einer Höhle Erleuchtung erfahren haben. Trompetenbäume und Farn umgeben das Gebäude, darüber am Hang beginnen die Kiefernwälder.

Ein warmer Gong weckt die Schlafenden um fünf Uhr morgens. Dann beginnen die Rituale. 200 Mönche in weinroten Roben lernen hier. Manche von ihnen sind noch im Grundschulalter. Vor dem Unterricht erzählen sie. Kaum einer will heutzutage noch freiwillig Mönch werden. Viele von ihnen kommen aus niederen Kasten, haben einige Geschwister, und nur als Mönchsschüler können sie überhaupt lesen und schreiben lernen.

Das Morgenritual: Im Uhrzeigersinn, im Kreis der Energie um die weiß getünchte Stupa, die heilige Grabstätte, herumgehen. Immer und immer wieder. Besucher können mitmachen. Sanft flattern die ausgeblichenen Gebetsfahnen. Am Fuß der Stupa schläft ein Deutscher Schäferhund. Er trägt einen roten Fleck auf der Stirn. Die Nepalesen segnen sogar ihre Hunde.

Tipps für Nepal

ANREISE

Am schnellsten, in knapp zwölf Stunden, mit Turkish Airlines über Istanbul nach Kathmandu (Ende September ab etwa 850 Euro). Alternativ mit Air Berlin /Etihad über Abu Dhabi in 15,5 Stunden (ab 640 Euro).

EINREISE

Deutschen wird bei der Einreise ein Touristenvisum erteilt, die Gebühr beträgt 40 US-Dollar; ein Passfoto ist am Flughafen vorzulegen.

VERANSTALTER

Nepal ist ein klassisches Ziel für Studienreisende, entsprechend groß ist die Nachfrage. Bei Studiosus beispielsweise sind erst im kommenden Jahr wieder Termine frei. Gebeco bietet im Oktober eine zehntägige Tour „Nepal zum Kennenlernen“ an. Inklusive Flug und Rundreise ab 1575 Euro. Auskunft im Reisebüro.

Individualtouren lassen sich über Royal Mountain Travel buchen. Das einheimische Unternehmen arrangiert auch „Family Stays“, vermittelt jedoch ebenso Unterkünfte vom Boutique Hotel bis zum einfachen Hostel.
Internet: royalmt.com.np

Unterkünfte bei Familien in verschiedenen Ortschaften lassen sich auch mühelos übers Internet bei einer gemeinnützigen Organisation buchen unter: communityhomestay.com

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