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Donna Leon in Venedig. Hier ermittelt Commissario Brunetti nun zum 25. Mal.

© Gaby Gerster/Diogenes Verlag

Zwischen der Schweiz und Italien: Donna Leon in den Bergen

Venedig ist nur noch das Zuhause für ihre Krimis. Die Schriftstellerin lebt längst in der Schweiz. Über Touristen, Airbnb und das Gärtnern.

Frau Leon, gerade ist Ihr 25. Krimi mit Commissario Brunetti erschienen, für Ihre Fans ist Ihr Name ein Synonym für Venedig. In Wirklichkeit sind Sie halbe Schweizerin, leben in Graubünden, auf dem Dorf. Was hat Sie denn da hingezogen?

Es ist das Gegenteil von Venedig. Da fahre ich weiter jeden Monat hin, doch ich war gleich bezaubert von diesem Dorf mit 300 Menschen und 300 Kühen. Als kleines Kind habe ich auf der Rinderfarm meines Großvaters in New Jersey gelebt, das hat mich geprägt. Ich liebe Kühe, sie sind so friedlich. Vor ein paar Wochen wurden sie von der Alp runtergebracht, auf dem Kopf diese Kronen aus Blättern und Blüten.

Sie sind mit den Tieren auf du und du?
Weil ich häufiger dort oben wandern war, habe ich sie gleich erkannt. 30 Kühe müssen das gewesen sein, ich war überwältigt. Es waren nur Dorfbewohner dabei, keine Touristen. Die Tiere wurden auf eine Wiese geführt, die seit Monaten nicht gemäht worden war, sie haben ihre Zungen um die langen Halme geschlungen, und nicht mal hochgeguckt, nur gegrast und gegrast. Sie waren im siebten Himmel! Das fand ich unglaublich berührend. Ich mag Tiere.

Sie sind vor den Touristen in Venedig geflohen. Haben Sie Ihre Wohnung behalten?
Nein. Wenn ich hinfahre, um Leute zu treffen, zu gucken, welche Themen ich in einem Buch aufgreifen kann, übernachte ich bei Freunden. Ich bin zu Hause, sobald ich... Das heißt, ich bin eigentlich nirgendwo richtig zu Hause. Auch nicht in der Schweiz. Venedig war ein Ort, den ich geliebt habe und nach wie vor liebe, und der mir sehr vertraut ist. Ich spreche die Sprache, dort ist alles sehr einfach und entspannt für mich. Aber mein eigenes Land habe ich vor 50 Jahren verlassen. Das Konzept von Zuhause ist mir abhanden kommen.

Sie haben nie darüber nachgedacht, in die USA zurückzukehren?
Undenkbar! Nie.

Und warum nicht?
Weil es dort 265 Millionen Waffen in privater Hand gibt. Und weil wir möglicherweise Donald Trump wählen. Sehen Sie: Ich sage automatisch wir. Weil ich mich als Amerikanerin betrachte.

Sie sind noch US-Bürgerin?
Ja, das werde ich immer bleiben. Und ich gehe wählen. Meine Mama hat mir beigebracht: Wenn du deine Stimme einem Republikaner gibst, landest du in der Hölle. Das ist eine Todsünde. Sie hat recht.

In Venedig haben Sie sehr gute Freunde. Und auf Ihrem Dorf?
Zwei, drei.

Die haben Sie dort hingelockt?
Nein, ich habe in der „Neuer Zürcher Zeitung“ eine Anzeige entdeckt. Das Haus aus dem Jahr 1678 gehörte einem alten Paar. Sie suchten jemanden, der das Haus respektiert, es liebt. Und das tue ich.

Mit Garten?
Ja. Andere Menschen machen Yoga, ich grabe. Ich mag die Berge, die Erde. Ich glaube nicht an Meditation, aber Gärtnern, das ist wie Bügeln: Man macht etwas, am Anfang ist es ein Kuddelmuddel, und wenn man fertig ist, ist es: zeigt stolz ihre Bluse vor. Ich liebe das! Es ist so stumpfsinnig. Als Schriftsteller muss man die ganze Zeit denken.

Gärtnern, bügeln – und schreiben?
Das kann ich überall. Selbst in einer Telefonzelle. Ich muss nur, weil ich so viel reise, wissen, dass ich acht, neun Tage am Stück am selben Ort bin.

Sie haben Ihre Krimis nicht ins Italienische übersetzen lassen, weil Sie unbehelligt in Venedig leben wollten. In Ihrem Schweizer Dorf ist das anders: Zumindest theoretisch können alle die Krimis lesen.
Machen sie aber nicht.

Trotzdem sind Sie bekannt.
Ja, aber ich könnte eine Tennisspielerin sein oder sonst was. Doch da ich mich nicht wie eine Prominente aufführe, haben die meisten das vergessen. Ich bin einfach eine nette Frau, die alle grüßt.

"Ich würde Airbnb loswerden"

Kuh und Kultur. Rinder liebt Donna Leon so sehr wie Barockmusik.
Kuh und Kultur. Rinder liebt Donna Leon so sehr wie Barockmusik.

© imago

Können Sie sich vorstellen, einen Roman zu schreiben, der in der Schweiz spielt?
Nein! Ebensowenig wie in Berlin. Weil ich keine Ahnung von diesen Orten habe.

Sie haben doch viel Zeit in der Schweiz verbracht!
Ja. Aber: Wenn ich in Venedig etwas über jemanden wissen möchte, reichen ein paar Anrufe, weil ich so viele Leute kenne, die so viele Leute kennen.

In Venedig können Sie jederzeit ausgehen. Was machen Sie denn abends auf dem Dorf?
Einen Spaziergang. Weil ich mich bewegen muss, ich habe so viel Energie. Dann esse ich was – wenn ich ins Restaurant will, Italien ist nur sieben Kilometer weg –, gehe früh ins Bett und lese. Einen Fernseher habe ich nicht.

In Venedig gehen Sie am liebsten zu später Stunde aus.
Weil es dann angenehmer ist. Tagsüber ist das Zentrum völlig überfüllt. Abends steht einem niemand im Weg.

Haben Ihre eigenen Bücher nicht dazu beigetragen, dass Venedig so populär ist?
Ja. Ja. Ich glaube allerdings, dass sie von Menschen gelesen werden, die Venedig ohnehin lieben. Davon gibt es Millionen und Abermillionen. Vielleicht kehren sie nach der Lektüre der Bücher häufiger als früher zurück. Vielleicht auch nicht.

In Ihren Krimis greifen Sie oft aktuelle Themen auf. Im neuen, „Ewige Jugend“, geht es darum, dass Venedig von Touristen überrannt wird, die Einheimischen aus der Stadt rausgedrängt werden.
Es gibt nur noch 50 000! Wie in Australien, wo die Aborigines aus ihrer Heimat vertrieben werden, weil die so schön ist. Die venezianischen Familien leben da schon ewig. Neulich habe ich eine Freundin gefragt, und sie sagte: seit dem 12. Jahrhundert. Ich finde, sie haben ein moralisches, sentimentales Recht, in ihrer eigenen Stadt zu leben. Ihre Toten zu besuchen, ihnen Blumen zu bringen.

Wenn Sie Bürgermeisterin von Venedig wären, was würden Sie machen?
Ich würde mir angucken, wo das Geld hinfließt. Das MO.S.E.-Projekt, das Sturmflutsperrwerk, hat schon Milliarden Euro gefressen und läuft noch immer nicht.

Und wofür würden Sie Geld ausgeben?
Für Wohnraum. Auf Giudecca stand eine riesige Getreidemühle Jahrzehnte lang leer. Es hieß, die Stadt würde dort Wohnungen einbauen. Jetzt sind dort ein Hilton Hotel drin und ein paar – so sagt die Gerüchteküche – sagenhaft teure Eigentumswohnungen. Ich würde alte Häuser suchen und Wohnungen reinsetzen für junge venezianische Familien. Es gibt so viele verlassene Gebäude, die der Stadt oder der Kirche gehören, mit denen man das machen könnte. Aber sobald das Thema aufkommt, sagt die Stadt, sie hat kein Geld. 30 Millionen Touristen – und kein Geld. Außerdem würde ich auf jeden Fall versuchen, Airbnb loszuwerden.

Was haben Sie gegen Airbnb?
Wenn Leute bereit sind, in einer Stadt zu leben, wo die Mieten eh höher sind, sollten sie die Möglichkeit haben, eine Wohnung zu finden, die bezahlbar ist, in der sie sich langfristig niederlassen können. In der Welt von Airbnb wird das zunehmend unmöglich. Teilweise besitzen Ausländer Dutzende von Ferienwohnungen in Venedig. Und das ist noch nicht alles. In „Il Gazzettino di Venezia“ habe ich gerade gelesen, dass im vergangenen halben Jahr zehn Palazzi verkauft wurden, die zu Hotels umgebaut werden sollen.

Also werden Sie jetzt Schweizerin?
Seit neun Jahren bin ich Einwohnerin, sobald ich kann, werde ich den Pass beantragen. Ich würde mich sehr geehrt fühlen, Schweizerin zu werden. Es ist ein Land, das ich enorm bewundere. Sie mischen sich nicht in die Politik anderer Länder ein, kümmern sich um ihre eigenen Angelegenheiten.

Donna, reiß dich zusammen

Das Festival in der Dorfkirche von Ernen, an dem Donna Leon jedes Jahr teilnimmt.
Das Festival in der Dorfkirche von Ernen, an dem Donna Leon jedes Jahr teilnimmt.

© Raphael Hadad

Aber sie sind auch ziemlich konservativ, gerade, wenn es um Ausländer geht.
Das ist etwas, was ich nicht verstehe: Alle haben diese mythischen Vorstellungen von der Schweiz. Sie hat einen Ausländeranteil von 25 Prozent! Kann Deutschland das von sich sagen? Großbritannien? Nein! Und trotzdem gibt es diese Idee, dass es ein xenophober Monsterstaat ist. Ich versteh’s nicht. Ich glaube, es ist Neid. Weil sie eine Demokratie haben.

Was hat Sie in die Schweiz gebracht?
Vor allem mein Verlag. Seit 25 Jahren habe ich Erfahrungen mit Schweizern und respektiere sie sehr. Weil man ziemlich sicher sein kann, dass sie ehrlich sind, dass der Arzt, zu dem man geht, Medizin studiert hat, Ihr Anwalt Sie nicht belügt.

Und die Schweizer Zuverlässigkeit...
... man wird abhängig davon, verwöhnt. Gestern habe ich in Zürich ein Seminar gegeben. Mir wurde gesagt, wenn ich die Straßenbahn Nummer 5 um 12.32 Uhr nehme, kann ich am Kunsthaus um 12.54 umsteigen in die 3 und komme pünktlich an. Als es 12.34 wurde, dachte ich: Was ist los?! Sollte ich besser ein Taxi nehmen? Ich bin in Panik geraten, weil die Tram zwei Minuten Verspätung hatte! Da hab ich mir gesagt: Donna, reiß Dich zusammen. Wenn die Leute sieben Minuten auf dich warten müssen, ist das okay.

Sie schwärmen von Ihrem ruhigen Leben auf dem Dorf, aber reisen unentwegt – zu Lesungen, zu Freunden nach Venedig, zu Musikfestivals, jetzt zu den Premieren des Films, den Sie mitproduziert haben.
Über Florence Foster Jenkins, eine Frau, die nicht singen konnte, und trotzdem eine der berühmtesten Sängerinnen war.

Und warum produzierten Sie den Film?
Warum nicht? Der Regisseur, ist ein Freund von mir, er ist enorm begabt.

Sie scheinen eine sehr gute Freundin zu sein.
Na, das will ich doch hoffen. Ich mag Menschen! Sie faszinieren mich, weil sie so verschieden sind. Wir leben ja immer in unseren kleinen Köpfen. Und dann treffen wir jemanden, der völlig anders ist. Und mögen ihn. Lieben ihn.

Bei Reisen, wie jetzt in Berlin, übernachten Sie offenbar auch lieber bei Freunden zu Hause als im Hotel.
Nein, das mache ich nur bei denen, die ich lange kenne. Ich rufe nicht an und sage, hallo, ich bin am Bahnhof, kann ich bei Euch schlafen? Das kann man machen, wenn man 18 ist, nicht mit 74. In London gehe ich immer ins Hotel, das ganz zentral liegt. Immer ins selbe. Ein altmodisches Georgian town house, ich kenne die Mitarbeiter seit 25 Jahren. Sie sind so freundlich, auf englische Art.

Auf der ganzen Welt gehen Sie in die Oper. Warum in Venedig so gut wie nie?
Sie spielen keine Barockmusik. Oder wenn, dann mit einem modernen Orchester, und das interessiert mich nicht. Ich bewundere La Fenice, weil sie machen, was sie sollen: das Haus füllen. Und die Leute sind glücklich.

Durch Ihre Beziehungen zur Zürcher Oper sind Sie in das Musikdorf Ernen im Wallis gekommen...
... Ada Pesch, eine der ersten Geigerinnen in Zürich, hat mich vor 15 Jahren eingeladen. Ich unterrichte ein Seminar dort, das macht mir so viel Spaß, dass ich jedes Jahr wieder hinfahre. Und ich gehe dort jeden Tag ins Konzert, die Musiker sind ausgezeichnet. Das Ganze hat was von einem Sommerferienlager, nur mit besserem Essen. Das Restaurant ist fast komplett vegetarisch, himmlisch.

So viel wie Sie reisen – machen Sie je das, was man Urlaub nennt?
Ja. – Ich hab’ mal irgendwo Ferien gemacht. Nein. – Mein Leben ist Urlaub. Ich führe ein sehr privilegiertes Leben, ich gehe, wohin ich will, und mache, was ich will. Also – ich weiß nicht. Ich würde gern nach Sizilien fahren. Aber dann muss ich die Musiksaison bedenken und habe schon alle möglichen Termine vereinbart, und dann lasse ich es bleiben.

Tipps für Reisewillige und Krimifans

VENEDIG

Wer die Schauplätze der Krimis mit eigenen Augen sehen will, bekommt Anregungen für Spaziergänge in Toni Sepedas „Mit Brunetti durch Venedig“ (Diogenes) und bei Elisabeth Hoffmann und Karl-L. Heinrich, „Auf den Spuren von Commissario Brunetti“ (Verlag Volker Harms).
MUSIKDORF ERNEN
Jeden Sommer findet in dem kleinen Dorf bei Brig im Schweizerischen Wallis ein internationales Musik- und Literatur-Festival statt; zentraler Festspielort ist die Barockkirche. Donna Leons Literaturseminar 2017 ist schon ausgebucht (musikdorf.ch).

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