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Die Avantgarde der Radlerbewegung fährt am autofreien Sonntag durch das Zentrum von Mexiko-Stadt.

© Oliver Gerhard

Verkehr: Fahrradrevolte in Mexiko-Stadt

In dieser Metropole dauert die Rushhour 24 Stunden: Fünf Millionen Autos quetschen sich durch die Avenidas. Die "Bicitekas" wollen das ändern – auf zwei Rädern.

Plötzlich ist der Streifenwagen da. Keine Hupe, keine Sirene. Ohne die roten und blauen Lichter, die von den Wänden der Häuserschluchten reflektieren, wäre er den Radlern vielleicht gar nicht so schnell aufgefallen. Die mexikanische Polizei hat nicht den besten Ruf, heute jedoch wird keiner nervös. Wenn die Fahrradaktivisten von Mexiko-Stadt Mittwochnachts unterwegs sind, fahren die Beamten Begleitschutz.

„Paseo“, Spazierfahrt, nennen die Mitglieder der Organisation Bicitekas ihre Ausfahrt. Dabei gleicht sie eher einem Flashmob, der die Verkehrsachsen der Hauptstadt zeitweise lahmlegt. Die Aktivisten wollen damit nicht nur für mehr Radwege und Sicherheit demonstrieren, sondern auch unerfahrenen Radfahrern mehr Selbstbewusstsein vermitteln.

Mexiko-Stadt ist eine Autostadt. Zur Rushhour quetscht sich der Verkehr im Schneckentempo durch die breiten Avenidas der Metropole mit ihren mehr als 20 Millionen Einwohnern. Die Luft ist zum Schneiden dick, das Atmen fällt schwer. Knapp fünf Millionen Fahrzeuge sind in der Hauptstadt gemeldet, die Autofahrer legen damit dreimal so viel Kilometer zurück wie noch vor 20 Jahren.

Fußgängerampeln, Zebrastreifen und Radfahrer werden ignoriert

Punkt 22 Uhr haben sich etwa 300 Radler unter dem zentral gelegenen Angel de la Independencia versammelt, dem Wahrzeichen, das an die Berliner Siegessäule erinnert. Rund um die Radfahrer tost der Autoverkehr auf dem achtspurigen Paseo de la Reforma, einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte. Die meisten Teilnehmer kennen sich, begrüßen sich mit Handschlag und Schulterklopfen.

„Wir fahren heute 30 Kilometer“, kündigt Roberto Rivera Ordoñez per Megafon an. Die Regeln sind einfach: Gehwege sind tabu, rote Ampeln dagegen nicht. Die Gruppe soll sich nicht auseinanderreißen lassen. Es gilt das Prinzip der „Critical Mass“: Die Radler wollen die Grenze überschreiten, ab der sie nicht mehr als einzelne Verkehrsteilnehmer, sondern als homogene Menge wahrgenommen werden.

Dann geht es los. Ordner mit Funkgeräten setzen sich an die Spitze. Roberto, der junge Ingenieur, legt jedes Jahr rund 5000 Kilometer auf dem Rad zurück. „Bis vor Kurzem war Radfahren bei uns viel zu gefährlich“, erzählt er. Auf den Straßen herrsche eine Diktatur der Motorisierten. Fußgängerampeln und Zebrastreifen werden überwiegend als Dekoration betrachtet, Radfahrer weitgehend ignoriert. Eine verlässliche Zahl tödlich verunglückter Radler gibt es nicht. Die Regierung spricht von 18 im Jahr 2015, doch die Dunkelziffer ist hoch. So tauchen Opfer in keiner Statistik auf, wenn sie im Krankenhaus an den Folgen eines Unfalls sterben.

Mit dem nächtlichen Paseo wollen die Aktivisten ihre Mitbürger sensibilisieren. Inzwischen gibt es immerhin in fast jedem Stadtviertel Fahrradvereine, geführte Touren und regelmäßige Demonstrationen.

"Die meisten Mexikaner haben das Radfahren nie richtig gelernt"

„Reifenpanne!“, ruft plötzlich jemand von hinten und bringt die gesamte Kolonne zum Halten. Während zwei Helfer den Platten flicken, verkauft ein Radler Empanadas aus seinem Anhänger, ein anderer Fahrradlampen, ein dritter hat pulque im Angebot, frisch vergorenen Agavensaft. Die mit zehn Jahren jüngste Teilnehmerin macht einen Handstand auf ihrem Rad, im Hintergrund dudeln Songs der Disko-Ära aus einer Musikanlage.

Nach zehn Minuten geht es weiter. Die Ordner sind im Dauereinsatz. Sie warnen laut vor Bodenwellen, halb versunkenen Gullys und Schlaglöchern. Und sie helfen gestürzten Radlern auf. „Die meisten Mexikaner haben das Radfahren nie richtig gelernt“, sagt Roberto.

Inzwischen hat der Umzug das angesagte Stadtviertel Condesa erreicht. Staunend bleiben Passanten stehen, einige winken, andere erheben sich von den Stühlen in den Restaurants. Wenn eine Ampel auf Rot schaltet, blockieren Ordner die Kreuzung. Die Reaktionen der aufgehaltenen Autofahrer reichen von finsteren Blicken über wütendes Hupen bis zu angetäuschten Auffahrversuchen. Die Radler kontern mit Pfeifkonzerten.

„Uns fehlt noch eine Kultur im Straßenverkehr“, sagt Iván Sandoval. Der 38-Jährige, der regelmäßig am Paseo teilnimmt, arbeitet seit sechs Jahren als Fahrradkurier in Mexico City. „Ich bin jeden Tag unterwegs, bisher unfallfrei – wenn man einmal von glimpflich verlaufenen Zusammenstößen mit Autotüren absieht, die achtlos geöffnet werden.“ Gegen Mitternacht erreichen er und die anderen Radfahrer das Ziel am Platz der drei Kulturen. Hier stehen Ruinen aus aztekischer Zeit, eine Kathedrale der spanischen Eroberer und Plattenbauten im Marzahn-Stil einträchtig nebeneinander.

Die Spazierfahrten zwingen Politiker zum Handeln

Bürgermeister Marcelo Ebrard rief mit "Ecobici" ein Fahrrad-Verleihsystem ins Leben.
Bürgermeister Marcelo Ebrard rief mit "Ecobici" ein Fahrrad-Verleihsystem ins Leben.

© Oliver Gerhard

Die nächtliche Tour ist nicht die einzige Aktion der Fahrradpioniere, mehr als 60 wöchentliche Ausfahrten gibt es inzwischen in Mexiko-Stadt: einen „Paseo für alle“, an dem viele Familien mit Kindern teilnehmen, einen „Paseo für Blinde“, bei dem Sehbehinderte auf Tandems mitradeln. Roberto nahm schon an einem „Paseo des Hustens“ teil, bei dem alle mit lautem Röcheln auf die schlechte Luft hinwiesen. Den „Paseo der Nackten“ kennt er nur vom Hörensagen – eine besonders provokante Demonstration für die Rechte von Radlern.

Möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen, ist umso wichtiger, als die Entschlossenheit der Politik immer wieder nachlässt: Vor sechs Jahren ließ der damalige Bürgermeister Marcelo Ebrard Radwege bauen und rief mit „Ecobici“ ein Fahrrad-Verleihsystem ins Leben. Etwa 30 000 Mal pro Tag werden heute Räder ausgeliehen – überwiegend für den Weg zur Arbeit. Areli Carreón, die Gründerin von Bicitekas, merkt an, dass der versprochene Ausbau der Radwege ins Stocken geraten ist: „Allein für die letzten drei Jahre schulden sie uns noch 150 Kilometer.“

Bicitekas hat sich inzwischen zur wichtigsten Lobby der Fahrradbewegung entwickelt. In den vergangenen zwölf Monaten konnte Areli Carreón einige Erfolge vermelden: Die Stadt erließ neue Verkehrsregeln zur Verbesserung der Sicherheit, mit Handyverbot und Mindestabstand zu Radlern. Sie gab die Spuren der Schnellbusse für Radler frei. Und sie legte erstmals in ihrer Geschichte einen Infrastrukturfonds für Fußgänger und Radfahrer auf.

Inzwischen kann man sich auch als Tourist in den Verkehr wagen. Die Leihräder von Ecobici sind an 444 Stationen erhältlich. Es gibt ausgewiesene Fahrradrouten durch das Zentrum und im größten Park der Stadt, dem Bosque de Chapultepec.

Der autofreie Sonntag ist inzwischen ein gigantisches Happening

Wer an der wachsenden Popularität des Radfahrens unter den Mexikanern zweifelt, kann sich jeden Sonntag vom Gegenteil überzeugen. Pünktlich um acht Uhr macht die Stadtverwaltung den Paseo de la Reforma für Autofahrer dicht, zusammen mit weiteren Straßen in ganz Mexiko-Stadt. Zur frühen Morgenstunde ziehen zunächst nur ein paar Jogger ihre Runden in den verwaisten Verkehrsadern, gefolgt von Rennradlern, die zu dieser Zeit noch richtig in die Pedale treten können.

Ab neun wird es richtig voll, wenn die Einwohner zu Tausenden ins Stadtzentrum strömen. Radler auf klapprigen Mühlen, Retro-Bonanzarädern und teuren Mountainbikes flitzen an prachtvollen Kolonialbauten vorbei, rollende Händler verkaufen Sandwiches und frische Säfte, für Fahrradmuffel gibt es sogar Salsa-Workshops am Straßenrand. Übergewichtige Polizisten auf quietschenden Rädern passen auf, dass nichts passiert.

Vor sieben Jahren eingeführt, hat sich der autofreie Sonntag unter dem Motto „Muevete“ („Beweg Dich“) zu einem gigantischen Happening entwickelt. Bis zu 70 000 Radler sind dann unterwegs, jeder zweite mit Helm, jeder zehnte mit Mundschutz, obwohl sich der Smog an diesem Tag in Grenzen hält.

„Dies ist eine Spazierfahrt, kein Radrennen“, versuchen Ordner per Megafon etwas Struktur in das Chaos zu bringen. Mechaniker flicken am Straßenrand kostenlos Reifen oder checken die Technik, Sanitäter stehen für den Notfall bereit.

Kurz vor 14 Uhr, dem offiziellen Ende des Events, werden die Autofahrer an den Absperrungen ungeduldig. Ein Kleinbus versucht die Ordner erfolglos beiseitezudrängen, die ersten Wagen beginnen zu hupen, während die letzten Radler noch einmal über den leer gefegten Boulevard sprinten. Dann räumen die Helfer im Eiltempo Zäune und Kegel beiseite und eine Phalanx von Streifenwagen scheucht die hartnäckigsten Radler zurück auf den Radweg – diesmal nicht als dezente Schutzengel, sondern mit wildem Hupen und Sirenengeheul.

Reisetipps für Mexiko-Stadt

ANREISE

Mexiko-Stadt ist mit KLM via Amsterdam erreichbar (ab 730 Euro) oder mit der Lufthansa über Frankfurt (ab 1000 Euro). Bei der Einreise erhält man eine „Touristenkarte“, die dem Pass beigelegt wird.

REISEZEIT

Aufgrund der Höhenlage von 2200 Metern sind die Temperaturen in Mexiko-Stadt ganzjährig angenehm, zwischen maximal 26 Grad im Mai und rund 20 Grad im Dezember.

UNTERKUNFT

Die Angebote sind günstiger als in Europa oder anderen Ländern Lateinamerikas. Das Hotel „Emporio Reforma“ im Zentrum bietet Fünf-Sterne-Komfort ab 85 Euro im DZ.

RADFAHREN

In weiten Teilen der Innenstadt findet man Stationen von Ecobici mit Mieträdern (ca. vier Euro pro Tag, 14 Euro pro Woche). Die Registrierung für das Mietsystem muss noch persönlich mit Pass und Kreditkarte erfolgen. Anlaufadressen sind zu finden unter ecobici.df.gob.mx. Auf der Website findet man auch alle Verleihstandorte sowie eine Karte mit den besten Radrouten.

AUSKUNFT

Bicitekas informiert unter bicitekas.org über ihre Aktivitäten, das mexikanische Fremdenverkehrsbüro unter visitmexico.com.

Erste Fahrradwege. Inzwischen gab die Stadt auch Spuren von Schnellbussen für Radler frei.
Erste Fahrradwege. Inzwischen gab die Stadt auch Spuren von Schnellbussen für Radler frei.

© Oliver Gerhard

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