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Thomas Mann 1954 an seinem gewohnten Arbeitsplatz.

© Kurt Schraudenbach/SZ-Photo/laif

Thomas Mann: Am grünen Tisch

Thomas Manns Weg ins Exil führte um den halben Globus – nie ohne seinen Schreibtisch. Inge Jens schrieb darüber ein Buch. Eine Begegnung.

Hauptsache, er war da, dann war die Welt wieder in Ordnung. Natürlich war nichts in Ordnung zu Hitlers Zeiten, auf Millionen von Menschen wartete ein brutaler Tod, Thomas Mann selbst hatte seine Heimat, seine Staatsbürgerschaft, sein Haus verloren. Aber der Schreibtisch, „mein großer und verlässlicher Schreibtisch“, erschien ihm wie eine Bastion der Sicherheit und Kontinuität in einer Welt, die auseinanderbrach. Als Lebenszentrum schildert Inge Jens des Schriftstellers liebstes Möbelstück in ihrem neuen Buch „Am Schreibtisch. Thomas Mann und seine Welt“. Mochte der Emigrant auch auf Mittelmeer, Schweizer Berge oder kalifornische Zitronenbäumchen gucken, er tat es von seiner soliden Münchener Warte aus. „Wo ich bin, ist Deutschland.“

Ein Mahagonischwergewicht auf Klauenfüßen, mit großen Schubladen, die sich nach beiden Seiten aufziehen ließen. Oder auch nicht. Thomas Mann behielt die Schlüsselgewalt, in seinem Tresor bewahrte er sein Kostbarstes auf, Manuskripte und Tagebuch.

Ende der 20er Jahre hatte er ihn sich gekauft, nun schleppte er ihn um den halben Globus. Natürlich ließ er schleppen, seine Frau organisierte das, wie alles in seinem Leben. Katia Mann hat es tatsächlich geschafft, den Hausstand rauszuholen und von Station zu Station zu expedieren; und wenn der Schreibtisch noch nicht angekommen war oder noch aufgemöbelt wurde, legte sie ihrem Mann grünen Filz aufs Provisorium. Schon die „Buddenbrooks“ hatte er an einem grün überzogenen Tisch geschrieben.

Inge Jens hat kein Buch über ein Möbelstück, sondern eins über das Exil geschrieben. Die Diskrepanz zwischen dem „Kaiser der Emigranten“, wie Ludwig Marcuse ihn nannte, und den vielen anderen, die allenfalls ein wackeliges Tischchen besaßen, hat sie interessiert. Wobei der Kaiser sich durchaus fürs Volk einsetzte: An seinem „Kampfplatz“ hat Thomas Mann nicht nur „Joseph und seine Brüder“ und „Lotte in Weimar“, sondern auch unzählige Bittbriefe, Petitionen und Radioansprachen für die BBC verfasst.

Wir sitzen in der Akademie der Künste am Hanseatenweg, Inge Jens’ zweitem Zuhause. Zehn aufregende Jahre lang hat sie hier mit Walter Jens gelebt, als dieser Präsident der Akademie war, in der Zeit der Vereinigung, 1988 bis ’98. Sie gehören, so Inge Jens, zu den glücklichsten ihres Lebens. Morgens ging sie zum Arbeiten ins geliebte Archiv, spätnachmittags kam sie zurück, bereitete auf den zwei Flammen Spiegelei mit Bratkartoffeln zu oder Pellkartoffeln mit Quark. Die aß das Paar, wenn es ging, „auf dem hinreißenden Balkon“. Und dann: Theater, Oper, Konzert, jeden Abend was anderes. „Traumhaft!“ Nach 50 Jahren „in der Provinz“, in Tübingen, noch mal richtig Hauptstadt.

Am Hanseatenweg hat Inge Jens Wohnrecht auf Lebenszeit, als Dankeschön: Ihr Mann habe das Amt „sine pecunia“ ausgeübt. Statt in der Präsidentensuite logiert sie nun im schlichten Gästeapartment – ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett. Das Karge gefällt ihr.

An jeder Station seines Exils stellte Thomas Mann höchstselbst all die Kästchen, Figürchen und Steinchen an ihren angestammten Schreibtischplatz, Jadebecher und Elefantenzahn, siamesischer Bronzebuddha und japanische Vase, Messingleuchter und Federschalen. War das Werk vollbracht, „durfte sich nichts rühren, nichts verändern“, so Katia Mann. Bei der Betrachtung dieses musealen Hausaltars fragt man sich: Wie konnte der Mann überhaupt einen klaren Gedanken fassen mit all dem Schnickschnack?! Er konnte es gar nicht ohne.

Das Einzige, was auf dem Schreibtisch von Inge Jens steht, ist ein Foto ihres Mannes. Und auch das nur, weil der Sohn es ihr nach dem Tod von Walter Jens im Juni dort hingestellt hat.

Groß und schlank, nach mehr als einem halben Jahrhundert im Schwabenland noch immer ganz Hanseatin, rosa Rollkragenpullover, weiße Perlenkette, hat man sich Inge Jens als ziemliches Gegenteil von Thomas Mann vorzustellen. „Ich finde in diesem Kulturgebiet alles schäbig“, schimpfte der Großschriftsteller während seiner Wanderjahre, „wackelig, unkomfortabel und unter meinem Lebensniveau.“ Inge Jens, herzlich und vergnügt, kann sich selbst über das Mineralwasser freuen, das eine Mitarbeiterin auf den Tisch gestellt hat. Manchmal hat sie „veritable Wut gepackt“ ob all der Befindlichkeiten dieses Mannes, der in eine tiefe Krise gerät, wenn die Schublade klemmt. „Was für eine Mimose!“, hat sie gedacht, „die ganze Welt liegt ihm zu Füßen, und er ist immer noch unglücklich. Was will er denn noch!“ Aber so was würde sie nie schreiben, sie verurteilt nicht.

Außerdem ist sie an des Autors Marotten gewöhnt. Im Mann’schen Kosmos kennt Inge Jens sich besser aus als im eigenen Keller, jahrelang hat sie seine Tagebücher editiert, zusammen mit Walter Jens ein Buch über „Frau Thomas Mann“ geschrieben und ein weiteres über deren Mutter. Das hat ihr eigentlich gereicht. Nie wieder!

Das neue Buch war nicht ihre Idee. Der Rowohlt-Verlag wollte wieder was haben von ihr, aber vor allem, so schildert es Inge Jens, war das Projekt ein fürsorglicher Akt: „Die Frau braucht eine Beschäftigung“, so beschreibt sie die Idee dahinter. Der Plan ging auf. Die Arbeit hat ihr geholfen in der härtesten Phase der Demenz ihres Mannes. „Ich hatte immer etwas, wozu ich zurückgehen konnte.“ Am Ende ist das Buch auch eine Hommage an Walter Jens, der die Germanistin überhaupt zu Thomas Mann brachte.

Rowohlt-Verleger Alexander Fest gehörte in jungen Jahren zu den Stammgästen des Mittagstischs im Tübinger Hause Jens, ein-, zweimal die Woche wurden Studenten, Kinder von Freunden und Verwandten zum Essen eingeladen, keine kulinarischen Erweckungserlebnisse, so Inge Jens, dafür geistige. Ansonsten gingen die Eheleute eigene Wege, jeder hatte sein separates Arbeitszimmer, „das war sine qua non“, und waren keine Gäste da, machte jeder seins, Musik hören, lesen oder, Jens schaudert es leicht bei der Erinnerung, Strümpfe stopfen. Ihre „Hauptunterhaltungszeit“ waren die gemeinsamen Spaziergänge: ein, zwei intensive, ungestörte Stunden jeden Tag.

Munter erzählt Inge Jens weiter, von ihren jungen Ehejahren – „wir mussten heiraten“, sagt sie und lacht, sonst hätten sie die Wohnung mit Blick ins Neckartal nicht bekommen. 86 Jahre alt, muss sie nicht ein einziges Mal in ihrem Gedächtnis nach einem Namen kramen. Sie geht am Stock, Ischias, so ihre Vermutung, aber sich darum zu kümmern, dazu hat sie jetzt keine Zeit. Sie muss Kisten packen, Bücher verschenken, Vergangenheit ausmisten. Nicht mal vier Wochen sind es bis zum Auszug aus dem großen Tübinger Haus in eine Drei-Zimmer-Wohnung. „Ich lege Wert darauf, immer die Treppe hinaufzufallen“, hat Thomas Mann erklärt, der bis zu seinem Tod 1955 in großen Villen lebte. Inge Jens wirkt erleichtert, dass sie sich verkleinern kann. Ihrem Mann wollte sie das nicht zumuten: In einem Zustand, in dem ihm fast alles fremd erschien, mochte sie ihm die vertraute Umgebung nicht nehmen.

Sich zu trennen, fällt ihr nicht schwer. „Wir haben 50 schöne Jahre darin verlebt“, an die denkt sie gerne zurück, „aber nicht mit Wehmut – mit Vergnügen und Dankbarkeit.“ Es hat, wie sie findet, seine Zeit gehabt, sie möchte es nicht als tote Hülle erleben. „Ich kann mich auch aus der neuen Wohnung erinnern.“

Ihre beiden Schreibtische freilich ziehen mit um: Den einen hat ihr Mann ihr vor 60 Jahren geschenkt, den anderen, eine große Arbeitsplatte, hat sie sich für die Mann’schen Tagebücher angeschafft, um sich ausbreiten zu können. Thomas Mann brauchte seinen Schreibtisch für sein seelisches Gleichgewicht selbst dann noch, als er kaum mehr zum Arbeiten daran saß, er es sich wegen der Rückenschmerzen lieber auf dem geblümten kalifornischen Sofa zum Schreiben bequem machte. Als „Garant einer neuen Beheimatung“, so Inge Jens, „musste er ihn im Blick haben.“

Wer will, kann ihn heute besichtigen, er steht im Zürcher Thomas-Mann-Archiv, umgeben von des Meisters Bibliothek. Jens hat sich nie daran gesetzt: „Er ist er, und ich bin ich.“ Die promovierte Literaturwissenschaftlerin gehört nicht zu den Menschen, die Möbelstücke streicheln in der Hoffnung, dass etwas Goldstaub an den Händen kleben bleibt. Sie liest lieber seine Tagebücher, „da erfahre ich mehr“.

Ein paar Tage nach ihrem Umzug bricht Inge Jens zur ausgiebigen Lesereise auf, Weihnachten ist sie zurück in Tübingen. Die Einladungen ihrer Söhne hat sie ausgeschlagen. Sie möchte ihr neues Zuhause einwohnen. „Allein.“ Vielleicht wird sie in den Briefen lesen, die sie ihren Eltern als junge Studentin geschrieben hat, auf die sie jetzt gestoßen ist. „Darauf freue ich mich. Und danach schmeiß’ ich sie weg.“

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