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"In the Mood for Love". In Wong Kar-Wais Film finden Chow (Tony Leung) und Li-zhen (Maggie Cheung) zueinander.

© imago

Tagesspiegel-Filmredakteur Jan Schulz-Ojala: Meine Filme für immer

Seit 1997 ging er für den Tagesspiegel ins Kino – in Cannes war er Stammgast. Unser Autor Jan Schulz-Ojala ist in den Ruhestand gegangen. Zum Abschied präsentiert er Filme aus seiner Ära, die bleiben werden.

1997: DER GESCHMACK DER KIRSCHE

Mein erstes Cannes – und gleich dieses Meisterwerk von Abbas Kiarostami. Dabei stand der Titel nicht mal im Katalog, so knapp hatten die iranischen Zensoren dem Export zugestimmt, und ein paar Tage später holte die schmale, vitale Geschichte um einen Lebensmüden die Goldene Palme. Sein Grab hat der Mann schon ausgehoben, und nun fährt er durch karges Hügelland und bietet zeitweiligen Passagieren viel Geld, damit sie anderntags den Leichnam mit ein paar Schaufeln Erde bedecken. Das Auto in der Landschaft, die Anwerbegespräche, sonst geschieht fast nichts. Wer da die Geduld nicht verliert, gewinnt.

1998: DIE TRUMAN SHOW

Der größte Regie-Erfolg des Australiers Peter Weir, gruselig großartig: Jim Carrey spielt den jungen Truman, aufgewachsen und gefangen in einem extra für ihn erbauten Kulissenstädtchen, umgeben von Familie und Nachbarn, die angeheuerte Schauspieler sind. Jeden Tag ist das, was er für sein Leben hält, live im Fernsehen, und Ed Harris spielt den Regie-Gott an den Reglern von Trumans armseliger Existenz. Nur ein einziges, unvergessliches Mal habe ich diesen Film gesehen, der nebenbei die existenzielle Frage stellt: Und wenn wir alle Truman sind, und alles bloß Show, erfunden für uns?

1999: EYES WIDE SHUT

Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“, vom Wien der Jahrhundertwende verlagert ins New York der Jahrtausendwende: Fast verdeckt durch seine noch größeren Werke wirkt heute dieses Vermächtnis Stanley Kubricks, in dem er, besessen genau, die Eifersuchtsfremdheit zwischen Ehemann und Ehefrau ausmisst und überhaupt die Planetenferne zwischen Männern und Frauen. Nicole Kidman und Tom Cruise, damals miteinander verheiratet, spielen die einsamen Zwei, die von jeweils eigenen Träumen verschlungen werden. Hypnotisch.

Er hat den Überblick: Jan Schulz-Ojala war 20 Jahre lang Filmredakteur des Tagesspiegels.
Er hat den Überblick: Jan Schulz-Ojala war 20 Jahre lang Filmredakteur des Tagesspiegels.

© Kai-Uwe Heinrich

2000: IN THE MOOD FOR LOVE

Wovon sprechen die beiden? Sprechen sie überhaupt? Ist nicht alles stilles Zeichen in diesem Hongkong von 1962, Blickwechsel, ein Schlafwandeln durch enge Räume – ein zartes Einanderanschweigen zweier Seelen, wenn da der alles überwölbende Zeitlupenwalzer von Shigeru Umebayashi nicht wäre? Tony Leung und Maggie Cheung sind das von seinen Ehepartnern hintergangene Paar, das zueinander findet und nicht findet in Wong Kar-Wais Film für die Ewigkeit. Sagte ich Film? Ein Gemälde, ein Gefühl, ein Schmerz, in Bilder aufgelöst.

2001: LA CIÉNAGA

Sommerferien im Norden Argentiniens, zwei Familien in einer runtergerockten Farm am Tümpelpool: Hier siedelt, deutscher Filmtitel, „Der Morast“ unter dauergrauem Himmel – mit der Generation 50 plus, die ihre Lebensresthoffnungen im Rotwein ersäuft, und Halbwüchsigen, die der Langeweile in böses Spielen entfliehen. Nie wieder habe ich tropische Trägheit, Aggression und Desillusion so überscharf ineinanderverknäult gesehen wie in Lucrecia Martels Debüt, das die Berlinale schmückte wie ein Collier aus Schlamm und anderthalb Jahre später für ein Mini-Gastspiel in unsere Kinos kam.

Ein Hammer von Film aus Deutschland

"Lost in Translation". Bob Harris (Bill Murray) und die hübsche Charlotte (Scarlett Johansson) erforschen gemeinsam die japanische Metropole Tokyo.
"Lost in Translation". Bob Harris (Bill Murray) und die hübsche Charlotte (Scarlett Johansson) erforschen gemeinsam die japanische Metropole Tokyo.

© dpa

2002: DER MANN OHNE VERGANGENHEIT

Quicklebendig sind die Toten und mausetot die Lebenden in Aki Kaurismäkis neuzeitlichem Märchen um einen Namenlosen, der am unteren Rand der Gesellschaft eine zweite Chance erhält. Zu Tode getrampelt von Fremden auf dem Bahnhof von Helsinki, springt er topfit von der Bahre, nur das Gedächtnis hat er verloren. Aber wozu Vergangenheit, wenn es die Gegenwart gibt? Und einen Schutzengel für immer, gespielt von Kaurismäkis göttlicher Dauerheldin Kati Outinen.

2003: LOST IN TRANSLATION

Zauberaugenblicke ohne Ende in diesem Tokio-Traumstück von Sofia Coppola: Wie der Blick von Scarlett Johansson plötzlich tiefer wird, als Bill Murray in der Karaoke-Szene „More Than This“ singt. Oder das Schweigen der beiden danach in dem Nebenraum, sein Zug an ihrer Zigarette, ihr Kopf an seiner Schulter. Und erst der Abschied: Was er ihr da wohl ins Ohr flüstert? Einmal habe ich, für ein Stadtmagazin, dabei mitgeraten, und einmal sogar, für eine Fotostrecke mit Kritikerkollegen, wie Bill Murray im Bademantel auf einer Hotelbettkante posiert – skrupellos! Was man nicht alles macht für einen Film, den man liebt.

2004: GEGEN DIE WAND

Fatih Akin war erst 30, als er seinen bereits vierten Kinofilm drehte, seinen radikalsten bis heute, lebenssüchtig und selbstzerstörungswütig zugleich. Birol Ünel und Sibel Kekilli geben in diesem rasenden Reigen um Suizidversuche, eine Scheinehe, Totschlag, schüchtern keimende Liebe und extreme Verwahrlosung alles. Befeuert wird das mit dem Goldenen Berlinale-Bären belohnte Melodram besonders durch die fundamentale Rebellion der jungen Frau gegen ihre konservativen türkischen Eltern. Ein Hammer von Film aus Deutschland, und bleibend aktuell.

2005: DER WALD VOR LAUTER BÄUMEN

Im Erstling der derzeit so vielgefeierten Maren Ade steckt schon alles, was ihre bisher drei Filme antreibt: Einsamkeit, das Fremdeln mit dem gesellschaftlichen Funktionierenmüssen und die Einladung zur Stellvertreterscham. Peinigend folgerichtig macht die von Eva Löbau verkörperte schwäbische Junglehrerin Melanie Pröschle so lange alles falsch, weil sie immer alles richtig machen will, bis sie jeden beruflichen und privaten Anschluss verliert. Und das stille Ende bleibt mir für immer.

2006: CAPOTE

Seine erste Hauptrolle gab der längst erwiesen geniale Nebendarsteller Philip Seymour Hoffman zwar schon als spielsüchtiger Bankangestellter in „Owning Mahowny“. Der fistelstimmige Dichter-Dandy Truman Capote in Bennett Millers Porträt aber war die – bald oscarprämierte – Rolle seines Lebens. Eitel und einsam, abstoßend und anrührend geht der Held durch die Jahre der Recherche für „Kaltblütig“, und mühelos verschmilzt sein Alter Ego alle Widersprüche zu einer kohärenten Figur. Vor drei Jahren ist Philip Seymour Hoffman an einer Überdosis gestorben, mit 46, ein Unsterblicher des Kinos.

2009: Mein Blockbuster-Jahr

"Wolke 9". Inge (Ursula Werner) und Karl (Horst Westphal) genießen Liebe und Sexualität in vollen Zügen.
"Wolke 9". Inge (Ursula Werner) und Karl (Horst Westphal) genießen Liebe und Sexualität in vollen Zügen.

© Senator

2007: COUSCOUS MIT FISCH

35 Jahre hat Slimane auf der Werft im südfranzösischen Sète gearbeitet, jetzt ist er verbraucht und entlassen, und sogar die erwachsenen Söhne wünschen ihn weg in seine fernvergangene tunesische Heimat. Da schmiedet Rym (die wunderbare Hafsia Herzi in ihrer ersten Rolle), die Tochter seiner Wirtin, für ihn den Plan, auf einem ausgemusterten Kutter ein Restaurant zu betreiben, und das Eröffnungsfest geht fast schief. Meine Lieblingsszene dieses in überwältigende Wärme ausufernden migrantischen Familienfilms, der den Franzosen Abdellatif Kechiche weltberühmt gemacht hat: nicht Ryms berühmter Bauchtanz, sondern ein schmerzhafter Augenblick mit ihr davor.

2008: WOLKE 9

In Cannes wurde für diesen Film sogar eine neue Auszeichnung geschaffen, der „coup de cœur“, frei übersetzt: der Frischverliebtheitspreis – so leidenschaftlich hatte sich die Jury in diese Geschichte einer Altersliebe verguckt. Andreas Dresen schickt, zärtlich und grausam präzis, die seit 30 Jahren verheiratete Inge in ein unvermutetes Glück mit Karl, und Werner muss gehen. Buchstäblich nackt ist diese Leidenschaft, verletzlich und unwiderstehlich, und Ursula Werner, Horst Westphal und Horst Rehberg spielen das so, wie Dresen es liebt: als ginge es um ihr Leben.

2009: INGLOURIOUS BASTERDS

Mein Blockbuster-Jahr: James Camerons „Avatar“, dieser damals technisch unerhört neue Science-Fiction-Film mit Seele, war umwerfend. Aber Quentin Tarantinos Wahnsinnsfantasie mit echten Menschen hat einfach mehr: ein Gemetzel mit Sinn! Ein Anschlag im besetzten Paris 1944, und ein Kino mit ein paar hundert Nazi-Bonzen inklusive Adolf H. verwandelt sich in ein Krematorium. Tarantino war nie besser, Christoph Waltz ebenso. Moral der Unmoral: Geschichtsfälschung im Kino kann höchst erlösend sein.

2010: BLUE VALENTINE

Erst die Nacht der Frischverliebten mit Ukulele und Stepptanz irgendwo zwischen Schaufenstern. Und ein paar Jahre später die Nacht der aneinander müde gewordenen Eheleute in einem scheußlichen Sex-Motel. Der Amerikaner Derek Cianfrance lässt in seinem Debüt die Zeitebenen der Geschichte zwischen Geburt und Tod einer Liebe so herzzerreißend ineinander verschwimmen, dass zwei ganze Leben darin aufzugehen scheinen. Michelle Williams und Ryan Gosling waren davor schon ziemlich berühmt. Danach: unabweisbar.

2011: MIDNIGHT IN PARIS

Kann ich hier Woody Allen auslassen, der zuverlässig jedes Jahr einen neuen Film dreht? Ausgeschlossen. Also auf in die Sehnsuchtsstadt der Amerikaner, mit dem romantischen Hollywood-Drehbuchautor Gil und seiner arg bodenständigen Verlobten. Wie schön für ihn, dass Zeitmaschinen nicht immer nur in die Zukunft düsen: Prompt landet er bei Hemingway, Picasso, Man Ray und anderen illustren Pariser Kreativtouristen und verliebt sich in ein Maler-Modell. Muss es aus einem solchen Retro-Paradies zurückgehen in die Realität? Ach was.

2016: Mein letztes Cannes

"Midnight in Paris". Gil (Owen Wilson) verbringt mit seiner Verlobten Inez (Rachel McAdams) einen Urlaub in Paris.
"Midnight in Paris". Gil (Owen Wilson) verbringt mit seiner Verlobten Inez (Rachel McAdams) einen Urlaub in Paris.

© picture alliance / dpa

2012: LIEBE

Jean-Louis Trintignant (damals 81) und Emmanuelle Riva (damals 84) sind das in seiner alten Pariser Wohnung lebende Musiklehrerpaar, das sich weder von einem Schlaganfall noch von der Aussicht auf Fürsorge im Pflegeheim und erst recht nicht vom lieben Gott höchstpersönlich seinen Begriff vom Zusammensein in Menschenwürde aus der Hand nehmen lässt. Es gab in Cannes in jenem Jahr 21 weitere Wettbewerbsfilme, aber keiner reichte auch nur ansatzweise an Michael Hanekes glasklares Meisterwerk heran.

2013: LA GRANDE BELLEZZA

Ja, jetzt könnte er seinen zweiten Roman beginnen, der Partylöwe Jep Gambardella, der nach legendären literarischen Anfängen berufslebenslang den gehobenen Klatschreporter gemacht hat und soeben in Saus und Braus auf einer römischen Dachterrasse seinen 65. Geburtstag gefeiert – furioser Start in Paolo Sorrentinos Hommage an „La dolce vita“. Nur dass der von Toni Servillo gegebene Society-Held doppelt so alt ist wie sein einst von Marcello Mastroianni ebenso perfekt verkörperter Kollege. Und der Abspann mit der wunderbar gleitenden Bootsfahrt frühmorgens unter den Tiberbrücken? Ist vielleicht die erste Szene seines neuen Romans.

2014: LEVIATHAN

Eine finstere Metapher auf Russland heute, angesiedelt in einem Fischfabrikkaff am Polarmeer: Ein Automechaniker verliert sein ererbtes Grundstück mit Holzhaus an einen mafiösen Bürgermeister, verliert seine Frau, seine Familie, seinen einzigen Freund, seine Freiheit. Der titelgebende biblische Leviathan steht für den kriminellen Staat und die orthodoxe Kirche, die gemeinsame Sache machen. Andrej Swjaginzew konstruiert den Leidensweg des einfachen Mannes so unausweichlich wie eine griechische Tragödie. Nur dass hier Menschenteufel statt der grausamen Götter am Werk sind.

2015: ZURICH

Drei Jahre zuvor hatte die junge Niederländerin Sacha Polak mit „Hemel“ ihr Debüt im Berlinale-Forum, die faszinierende Borderline-Geschichte um eine junge Frau. „Zurich“ – so heißt eine Siedlung neben einer Schnellstraße am Ijsselmeer – geht über jedwede Grenzen einer Figur und auch über die Grenzen des Erzählens. Eine Frau hat ihren Mann verloren und tritt streunend, somnambul, Schlimmes erinnernd und verschuldend aus der Welt heraus. Eine Trauerarbeit? Ein Trauertraum.

2016: PATERSON

Mein letztes Cannes: Keine Frage, „Toni Erdmann“ war toll, aber das tiefste Glück schuf die scheinbar winzigkleine Geschichte um Jim Jarmuschs Gedichte schreibenden Busfahrer Paterson, in der alles, alles, alles stimmt. Am vorletzten Tag des Festivals traf ich Jarmusch – eine 30-Sekunden-Szene, nicht länger – zufällig an einer Straßenecke, und ich musste einfach, ganz Fan, seine Hand schütteln und ihn beglückwünschen zu seiner jüngsten Erfindung. Gehört sich eigentlich nicht für distanzbewusste Kritiker – aber Ausnahmen machen Regeln erst schön.

"Leviathan". Das russische Drama von Andrej Swjaginzew erzählt die biblische Hiobsgeschichte neu.
"Leviathan". Das russische Drama von Andrej Swjaginzew erzählt die biblische Hiobsgeschichte neu.

© picture alliance / dpa

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