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Oldtimer in der Autostadt. Die Sammlung des Automobilmuseums beinhaltet mehr als 260 Fahrzeuge.

© Nils Hendrik Müller

Stadtrundgang in Wolfsburg: Gute Nachrichten aus der Stadt des Dieselskandals

Die Fußgängerzone gleicht einer Autobahn. Die Kinder spielen Fahrschule. VW bestimmt viel in Wolfsburg, doch nicht alles. Das sind unsere Tipps für die Autostadt.

Ist das nun Ironie – oder Zukunft? Ausgerechnet die Stadt, die auf Autos gebaut ist, hat einen 1a-Zuganschluss. Vom Hauptbahnhof aus ist es nur einen Hüpfer übers Wasser rüber zum Volkswagenwerk, für das und um das herum Wolfsburg entwickelt wurde. Erst von den Nazis, dann von den Wirtschaftswunderdeutschen. Und nu? Totalschaden.

Hier zu wohnen muss etwas Klaustrophobisches haben. Überall Kollegen, überall VW. 123 000 Einwohner hat die Stadt, 54 000 Mitarbeiter das hiesige Werk. Etliche von ihnen pendeln – mit der Bahn nach Berlin. Eine gute Stunde dauert das. Wenn nicht gerade Baustelle ist. Für einen Tagesausflug in umgekehrter Richtung die perfekte Distanz. Zu Besuch in einer Stadt, aus der so viele Katastrophenmeldungen kommen.

ZUM LESEN

Augen zu und durch. Auch das gehört zur Ironie dieser Stadt, dass auf der Porschestraße, der zentralen Erschließungsmeile der Innenstadt, niemand mit 200 Stundenkilometern entlangbraust, man sich stattdessen in Schrittgeschwindigkeit bewegt. Das Auto wurde hier schon in den 70er Jahren weitgehend verbannt. Wobei Kritiker finden, dass die Fußgängerzone dennoch wie eine Autobahn angelegt ist, so breit. Mit Hindernissen. Im Slalom umschifft der Passant merkwürdige Pavillons.

Plötzlich glaubt man den Beweis entdeckt zu haben, dass die Krise voll in Wolfsburg angekommen ist. „Kaufe Zahngold“, wirbt da ein Laden in Großbuchstaben, „auch mit Zähnen“. Dann stellt sich heraus, dass es das Angebot schon vor zehn Jahren gab. Wer noch eigene Zähne hat, sollte auf der anderen Straßenseite das Brot von Bäcker Gaues probieren – eine Wucht. Bei Metzger Gmyrek nebenan kauft man den Wurstbelag. Die Wolfsburger stehen Schlange.

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Unter Ästheten hat die Porschestraße einen legendär schlechten Ruf. Fairerweise muss man sagen: Sie sah schon mal schlimmer aus. In diesem Jahrtausend wurde sie für einige Millionen überholt. Seitdem kann man dank eines omnibusbahnhofsähnlichen Dachs selbst bei Regen auf dem Trockenen sitzen.

Und sie ist nun mal der kürzeste Weg zu einigen der Hauptattraktionen. Nummer (1): das Alvar-Aalto-Kulturhaus. Etwas trostlos wirkt das Foyer auf den ersten Blick, die Garderobe liegt verlassen da, die Decke hängt ganz schön tief. Jetzt bloß nicht kehrtmachen! Man muss nur genau hingucken, dann entpuppt sich das Haus, dessen Hauptmieter die Stadtbibliothek ist, als Schlaraffenland für architektonische Feinschmecker. Man mag es kaum glauben – Fensterbänke, Bronzegriffe, Messinghandläufe, Holzhocker, kobaltblaues Wandporzellan, alles original Alvar Aalto! Alles zum Anfassen. Der Finne, einer der berühmtesten Vertreter der gerade wieder so angesagten skandinavischen Moderne, hat großen Wert auf die haptischen Qualitäten seiner Bauten gelegt. Auf keinen Fall verpassen sollte man neben dem zentralen, lichten Bibliothekssaal die Studierstube mit ihren ledergepolsterten Tischen, den alten Lampen und der Abteilung „Heimatkunde“.

Alvar Aalto zum Anfassen. Teile des Eingangsfoyers im Kulturhaus sind mit dunkelblauen Fliesen verkleidet.
Alvar Aalto zum Anfassen. Teile des Eingangsfoyers im Kulturhaus sind mit dunkelblauen Fliesen verkleidet.

© Stadt Wolfsburg/Lars Landmann

ZUM KUNSTSCHAUEN

Ganz schön protzig, denkt man ein paar Schritte weiter, vor dem Kunstmuseum, einem gewaltigen Neubau von 1994 (2). Aber die Füllung, hochkarätige internationale Ausstellungen moderner Kunst, kann mithalten. Im Moment ist hier die faszinierende Schau des belgischen Künstlers Hans op de Beeck zu sehen, der ein ganzes geheimnisvolles Universum geschaffen hat, das auf gespenstische Weise zur Krise der Automobilindustrie zu passen scheint. Im Dunkeln tappt man zwischen brennenden Feuertonnen und plätschernden Springbrunnen herum und findet den Ausweg nicht. Die Wärterin weist nach hinten: Da sei ein Loch im Zaun. Man hatte schon den Zaun nicht gesehen, wie dann erst das Loch?

Im vergangenen Jahr gab Ralf Beil seinen Einstand als neuer Museumsdirektor mit einer Ausstellung über „Wolfsburg Unlimited: Eine Stadt als Weltlabor“. Den Katalog gibt es im Shop noch zu kaufen. Eine klügere Einführung in die Stadt mit all ihren Facetten wird man nicht finden.

Fast überall steckt VW-Geld drin

Im Kunstmuseum ist die faszinierende Schau des belgischen Künstlers Hans op de Beeck zu sehen.
Im Kunstmuseum ist die faszinierende Schau des belgischen Künstlers Hans op de Beeck zu sehen.

© Hans op de Beeck

ZUM THEATERGUCKEN

Berliner werden sich gleich zu Hause fühlen im einzigen Theaterbau von Hans Scharoun (3). Vor allem der eschenholzgetäfelte, asymmetrische Bühnensaal erinnert an die Philharmonie. Gerade erst für 32 Millionen saniert, sieht das Theater wieder tipptopp aus. Es lebt fast ausschließlich von Gastspielen – Schauspiel, Konzert, Musical, Comedy, Lesung – und das offenbar ziemlich gut, die Auslastung gilt als eine der höchsten im Land. Das 80 Meter lange Foyer soll der Architekt extra so entworfen haben, damit die Besucher auf dem Weg in den Saal mit jedem Schritt Abstand zum Alltag gewinnen.

Man sitzt gerne auf den tiefen Fensterbänken und genießt den breiten Blick in den Park. Das Haus ist denkmalgeschützt, so wie die 50er-Jahre-Tankstelle am Fuße des Hügels, in der sich heute die VW-eMobilitystation befindet. Hier tankt man nun Strom. Als Vorbereitung auf die Zukunft ist die Station allerdings entschieden zu winzig geraten.

ZUM SPEISEN

Wer einen Wolfsburger nach einem netten Café fragt, bekommt stets die gleiche Antwort, das „Atelier“ (4). Hinter Bäumen gut versteckt, liegt es auf einer kopfsteingepflasterten dörflichen Insel im Meer der Moderne. Ein Fachwerkhaus von 1885 gilt hier fast als prähistorisch. Zum legendären Frühstücksbuffet treffen sich die Einheimischen am Vormittag, Reservierung: ein Muss. Zum Café gehört ein Hotel, dessen Name so charmant ist wie das ganze Haus – „einschlaf“.

ZUM TANKEN

Auch wo nicht gleich sichtbar VW draufsteht, steckt in Wolfsburg fast überall VW-Geld drin, das trifft auf den Wohnungsbau ebenso zu wie auf die meisten Kulturinstitutionen, so unterschiedlich die Organisationsformen und Summen im Einzelnen auch sein mögen. In der Autostadt (5) ist der Fall von vornherein klar: Sie wurde gebaut zur Imagepflege des Konzerns. Ein 28 Hektar großer Freizeit- und Landschaftspark für die ganze Familie mit Oldtimermuseum, Tretbötchen und schnittigem Porsche-Pavillon. Kinder können die Fahrschule besuchen, im Käfer, versteht sich. Die Kunden von morgen dürfen Pizza backen, Blumen pressen, Hocker bauen. Im Sommer gibt’s Zirkus, im Winter Schlittschuh- und Rodelbahn, im Mai ein hochkarätiges Festival für modernen Tanz im alten Heizkraftwerk, dem Wahrzeichen der Fabrik und der Stadt. Sagenhafte zwei Millionen Besucher kommen im Jahr her, die meisten Wolfsburger haben Jahreskarten.

Im Scharoun-Theater fühlen sich Berliner gleich zu Hause. Der Bühnensaal erinnert an die Philharmonie.
Im Scharoun-Theater fühlen sich Berliner gleich zu Hause. Der Bühnensaal erinnert an die Philharmonie.

© Stadt Wolfsburg/Lars Landmann

VW, das wird gern zitiert, produziert in Wolfsburg mehr Currywürste als Autos. Ja, es gibt eine eigene Fleischerei und Bäckerei, alles nur vom Feinsten, bio, wo’s geht. Die Rettung des Konzerns? Wohl kaum. Im Feinkostladen am Eingang kann man fünf Currywürste, eingeschweißt zum Mitnehmen, für 7,75 Euro kaufen. Ein Golf bringt ein bisschen mehr ein. Dafür ist die Wurst ehrlicher.

Gleich verzehren kann man sie im Tachometer, einem von 13 Restaurants auf dem Gelände, das berühmteste ist Sven Elverfelds Drei-Sterne-Restaurant „Aqua“ im Ritz Carlton. Während man seine Wurst verspeist (und man muss sagen, sie schmeckt), sieht man zu, wie eine Etage drunter eine Familie ihr neues Auto übernimmt und sich feierlich daneben fotografieren lässt. Das Bild hat etwas Rührendes, Erinnerung an eine ferne Zeit, als es noch keine Lügen, keine Skandale, keine Krisen gab – oder noch niemand von ihnen wusste. In der Autostadt herrscht weiter heile Welt, alles picobello. Man kann zugucken, wie die Wagen, die in zwei gläsernen Türmen gestapelt warten, von einem robotergesteuerten Aufzug rausgeholt werden.

Was man hier, mehr noch als sonst in der Stadt, erleben kann: Mit Autos lässt sich verdammt viel Geld verdienen.

Es flattert, klingelt, klappert und kracht

Abhängen im Allerpark. Hier gibt es neben einem Hochseilgarten auch Golfparcours, Bowlingbahn und vieles mehr.
Abhängen im Allerpark. Hier gibt es neben einem Hochseilgarten auch Golfparcours, Bowlingbahn und vieles mehr.

© Wolfsburg AG/Frank Bierstedt

ZUM KLETTERN

Durchatmen. Rüber zum Allerpark (6), in dessen Zentrum der Allersee liegt, so künstlich wie die ganze Stadt, in den 60er Jahren angelegt. Noch ein Erlebnispark, mit Badeland und Golfparcours, Festplatz und Hochseilgarten, Wasserski, Bowlingbahn und VfL-Fußballwelt. Im Allerpark liegt auch das Stadion des Teams, das Volkswagen Arena heißt. Wie sonst.

Gleich dahinter dann doch noch was Altes, das Schloss, das der ganzen Stadt ihren Namen gab, mit eigenem Park. Ein weiteres Kulturzentrum: Die Wolfsburg – einst Sitz der Ritter von Bartensleben, später zum Renaissanceschloss umgebaut – beherbergt Künstlerateliers und Kunstverein, Städtische Galerie, Stadtmuseum und ein dem Industriefotografen Heidersberger gewidmetes Institut. Das Institut für Zeitgeschichte erinnert an die nationalsozialistische Zeit und Zwangsarbeiter.

ZUM KNÖPFEDRÜCKEN

Die Konsumwütigen gehen vor der Heimreise Powershoppen im Designer-Outlet, gleich neben den Gleisen. Calvin Klein, Diesel, Samsonite, das Übliche. Die Experimentierfreudigen besuchen das Phaeno, den von Zaha Hadid so dynamisch gestalteten Museumsbau aus Beton, den jeder Bahnreisende auf der Strecke von Hannover schon gesehen hat.

Innen ist es nicht minder rasant, man fühlt sich wie in einem Flugzeug, das gleich abhebt. Es flattert und brennt, klingelt, klappert und kracht, aufregende Objekte laden zum Ausprobieren ein, auf dazugehörigen Schildern werden Phänomene wie Echo, optische Täuschung, Magnetismus oder Rotationsenergie so einleuchtend wie knapp erklärt. Viele glückliche Kinder, strahlende Eltern und Großeltern. Ach, wenn der eigene Physikunterricht nur je so lustig und anschaulich gewesen wäre.

Von diesem Abenteuerland sind es nur noch ein paar Schritte, am aufregendsten unter dem Gebäude hindurch, zum Hauptbahnhof, der selbst Sehenswürdigkeit ist, 1957 gebaut, denkmalgeschützt. Und wenn der ICE mal wieder vorbeisaust statt anzuhalten – macht nichts. Hier lässt sich’s schön warten. Zu diesem Zweck gibt es gleich mehrere Räume, einen mit schwarzen Kacheln umhüllten historischen, einen transparenten mit modernster Digitaltechnik ausgestatteten und im Foyer einen artistischen, der wird vom Kunstverein bespielt. Ach ja, und die Zebrastreifen auf dem Boden sind gar keine, sondern ein Werk von Daniel Buren. Der Bahnhof nennt sich „Kunst-Station“.

Tipps für Wolfsburg: Hauptattraktionen auf einen Blick

(1) ALVAR-AALTO-KULTURHAUS

Porschestr. 51, Mo, Di, Do, Fr 10–18 Uhr, Mi, Sa 10–14 Uhr, wolfsburg.de/stadtbibliothek

(2) KUNSTMUSEUM

Hollerplatz 1, Di–So 11–18 Uhr, Ausstellung Hans op de Beeck bis 3.9., kunstmuseum-wolfsburg.de

(3) SCHAROUN-THEATER

Klieverhagen 50, Tel. 05361/ 267310 theater.wolfsburg.de

(4) ATELIER CAFÉ

An der St. Annen Kirche 11, Tel. 05361/12219, tägl. außer Di 9–18 Uhr, ateliercafe.de, einschlaf.de

(5) AUTOSTADT

Stadtbrücke. Tägl. 9–18 Uhr, teilweise länger. Tel.: 0800/288678238, autostadt.de

(6) ALLERPARK

Allerpark, Tel.: 05361/8971400, allerpark-wolfsburg.de

(7) PHAENO

Willy-Brandt-Platz 1, Di–Fr 9–17 Uhr, Sa, So 10–18 Uhr, Tel.: 05361/890100, phaeno.de

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