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Autibiografisch. In Erzählungen wie "Ein Zoo im Winter schildert Jiro Taniguchi, wie es sich anfühlte, als junger Mensch aus der Provinz nach Tokio zu kommen.

© Carlsen

Stadt der Gegensätze: Tokio, meine Muse

Die Zeichner Jiro Taniguchi und Yoshihiro Tatsumi haben die japanische Hauptstadt in vielen Comic-Erzählungen festgehalten. Ein Besuch bei den Manga-Altmeistern führt durch eine Stadt der extremen Gegensätze.

So etwas hat der junge Mann aus der Provinz noch nicht erlebt: Wolkenkratzer, einer neben dem anderen; Leuchtreklamen, die die Nacht zum Tag machen; aus unzähligen Karaoke-Bars und Spielhallen dröhnen Musik und Stimmen; und überall Menschen, Menschen, Menschen. Was für eine unglaubliche Stadt!

Der junge Künstler, gerade aus einer südjapanischen Kleinstadt in die Zehn-Millionen-Metropole Tokio gezogen, ist überwältigt und euphorisch. Wie im Rausch stolpert er durch die Straßen, landet in einer Disco, gibt sich dem Taumel der Nacht hin, bis ihm schwarz vor Augen wird. Am nächsten Morgen wacht er in einem fremden Bett auf.

„Am Anfang habe ich alles aufgesaugt“

„Ja, so ähnlich war das damals bei mir“, sagt Jiro Taniguchi, und seine Augen blitzen hinter der randlosen Brille. Der Manga-Autor mit dem grauen Schnauzbart sitzt in einem Café im Tokioer Stadtteil Kichijoji. Taniguchi zog Anfang der 1970er Jahre aus der Provinz in die japanische Hauptstadt. Seitdem hat der heute 65-Jährige Tokio in vielen kunstvollen Manga-Erzählungen verewigt, die auch in Deutschland zunehmend populär sind. So wie die autobiografisch geprägte Erzählung „Ein Zoo im Winter“, aus der die eingangs beschriebene Szene stammt.

Taniguchi bestellt einen Cappuccino bei der Bedienung, die eine Art viktorianisches Hausmädchenkostüm trägt, und beginnt zu erzählen. „Ich habe mich in meiner Jugend in der Kleinstadt immer nach Tokio gesehnt“, sagt er mit sanfter Stimme. „Die Stadt hatte etwas, das mir meine Heimat nicht geben konnte, all diese unterschiedlichen Lebenserfahrungen.“ Rund 30 lange Comicerzählungen hat er seitdem veröffentlicht, dazu etliche Kurzgeschichten. Neben zahlreichen japanischen Auszeichnungen wurde er dafür mit dem französischen Orden der Künste, dem „Chevalier des Arts et Lettres“, sowie dem deutschen Max-und-Moritz-Preis geehrt. Tokio nimmt in seinen Arbeiten einen großen Raum ein. Und jede zeigt eine andere Facette der Stadt.

„Am Anfang habe ich einfach alles aufgesaugt, was auf mich zukam“, sagt Taniguchi. So beeindruckte ihn in den ersten Jahren vor allem der Stadtteil Shinjuku, in dem es besonders viele Hochhäuser und ein großes Vergnügungsviertel gibt. „Dort bin ich immer ausgegangen und habe mich amüsiert, als ich jung war.“ Es ist eines dieser Viertel Tokios, in denen man sich leicht verlieren kann. Rund um einen zentralen Umsteigebahnhof, den täglich rund eineinhalb Millionen Menschen nutzen, gibt es ein Gewirr von Straßen voller Kneipen und Kitschläden, Discos, Sex-Shops und Restaurants. Wer hier entlangspaziert, wird ständig von Türstehern angesprochen, die in ihre Läden locken. Ähnlich bunt und für den Besucher verwirrend ist das Stadtviertel Shibuya, in dem Taniguchi seinen Manga-Thriller „Die Stadt und das Mädchen“ angesiedelt hat: In dem verschwindet eine junge Frau im Gewimmel, ihr vom Lande stammender Onkel sucht sie und verliert sich fast im Labyrinth der Metropole.

Das ist die eine Seite der Stadt, wie sie auch viele andere Manga-Autoren aufs Papier gebracht haben. Wer als Leser japanischer Comics Tokio besucht, entdeckt an jeder Straßenecke bekannte Orte aus Klassikern wie „Akira“ und „Sailor Moon“ oder aktuell populären Katastrophen- und Zombie-Serien wie „Tokyo Inferno“ oder „Tokyo – Summer of the Dead“.

„Diese Stadt stimuliert einen einfach“, sagt Jiro Taniguchi. Die Neon-City, wie sie viele Mangas jüngerer Autoren inspiriert, macht allerdings in seinem Werk nur einen kleinen Teil aus. Viel öfter findet sich bei ihm das andere Tokio: eine Ansammlung von Vororten, die in den Reiseführern höchstens am Rande erwähnt werden, weil sie weniger aufregend sind und kaum den Erwartungen entsprechen, die man als Besucher an eine auf engem Platz entstandene Großstadt hat.

Alltäglichen Beobachtungen eines Vorstadt-Flaneurs

Wer in Stadtteilen wie Kokubunji, Kiyose oder Higashimurayama spazieren geht, trifft auf entspannt wirkende Rentner, die die Bonsai-Bäume in den Vorgärten ihrer Einfamilienhäuser stutzen, auf Frauen, die ihre Kinder mit dem Fahrrad aus der Kita abholen und auf öffentliche Parks mit Steingärten, Schreinen und Tempeln, vor denen Familien kurze Gebete sprechen.

Diese Orte der Entschleunigung bilden in Taniguchis Werk die Kulisse für stille, introspektive Erzählungen mit melancholischen Untertönen. In „Der Spazierende Mann“ werden die alltäglichen Beobachtungen eines Vorstadt-Flaneurs geschildert, dessen dramatischstes Erlebnis es ist, von Kindern versehentlich mit einem Fußball beschossen zu werden. In „Träume von Glück“ geht es um die Beziehung eines Paares zu seinem schwerkranken Hund. Und in „Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß“, der Adaption eines Romans von Hiromi Kawakami, wird die zaghafte Liebesbeziehung einer jungen Frau zu ihrem einstigen Lehrer geschildert. Es sind unprätentiöse Erzählungen: die Entdeckung der Langsamkeit in Comicform. Sie widersprechen den gängigen Klischees von Tokio und auch von der Kunstform Manga.

Flaneur: Manga-Autor Jiro Taniguchi beim Spaziergang durch eines seiner Lieblingsviertel in Tokio.
Flaneur: Manga-Autor Jiro Taniguchi beim Spaziergang durch eines seiner Lieblingsviertel in Tokio.

© Lars von Törne

Viele von Taniguchis autobiografisch inspirierten Geschichten spielen in den westlichen Ausläufern Tokios. Einst waren diese Orte, in die sich kaum ein Ausländer verirrt, kleine eigenständige Städte. Heute gehören sie zur Metropolenregion Tokio, die mit all ihren Vorstädten auf 13 Millionen Einwohner kommt. Von dieser Dimension ist in diesen Vierteln, so bestätigt kurz darauf ein Spaziergang mit dem Zeichner durch den weitläufigen Inokashira-Park unweit seines Ateliers, allerdings nichts zu spüren. Familien und Schüler in Uniform spazieren an einem großen Teich entlang, der von Kirsch- und Ahornbäumen gesäumt ist. Um Akrobaten, Clowns und Straßenmusiker haben sich große Trauben von Menschen gebildet. Liebespaare gleiten in Ruderbooten übers Wasser, auf einer Halbinsel steht ein Schrein, dessen Glocke alle paar Minuten zu hören ist, wenn mal wieder jemand für ein kurzes Gebet innehält.

Einen größeren Kontrast zur Innenstadt der Geschäftsleute und Vergnügungssüchtigen kann man sich kaum vorstellen. „In diesem Park habe ich viel Zeit verbracht“, erzählt Taniguchi während einer Pause an einer Eisdiele. Je älter er werde, desto mehr ziehe es ihn an jene Orte, die eine Ruhe ausstrahlen wie dieser Park. Und desto öfter finden sie sich als Kulisse in seinen Büchern wieder.

An den Rand der Metropole zieht es mit zunehmendem Alter auch einen anderen Manga-Meister, dessen Arbeiten seit einigen Jahren im Westen ähnlich geschätzt werden wie Taniguchis: Yoshihiro Tatsumi. Auf den großen Comicfestivals in San Diego und Angoulême wurde er mit den wichtigsten Comicpreisen der USA und Europas ausgezeichnet. Der Tokio-Spaziergang mit ihm muss aber ausfallen. Der 78-jährige Zeichner mit dem Stoppelhaarschnitt kommt auf einen Stock gestützt zum Treffen bei seiner Agentur im Zentrum. Erst vor kurzem sei er aus dem Krankenhaus entlassen worden, erzählt er. Eine Hüftoperation, an eine Stadtwanderung ist da nicht zu denken.

„Ich mag die Stadt ehrlich gesagt nicht so gerne“

In früheren Jahren war er ständig in Tokio unterwegs, um Anregungen für seine fiktiven, aber vom wahren Leben inspirierten Kurzgeschichten zu sammeln. Die erschienen in zahlreichen Manga-Zeitschriften, von denen es auch heute noch Dutzende gibt und die trotz der wachsenden Konkurrenz von Smartphone und Internet Woche für Woche Millionenauflagen erzielen. Zwei Sammelbände mit Tatsumis Tokio-Dramen sind kürzlich auf Deutsch im Carlsen-Verlag erschienen, „Existenzen“ und „Geliebter Affe“. Darin erscheint die Großstadt als unbarmherziger Ort, in dem der einzelne Mensch nicht viel zählt. „Ich richte mein Augenmerk unwillkürlich immer auf die Armen und andere Menschen, denen es nicht gut geht“, sagt der Zeichner und blättert nebenbei neugierig durch die deutschen Übertragungen seiner Arbeiten, die vor ihm auf dem Tisch liegen. Es sind traurige, böse Geschichten: Ein treu sorgender Sohn entpuppt sich da als Muttermörder, die Geliebte eines Fischers ist nichts als die Ausgeburt seiner Fantasie, der Freier einer Prostituierten an der Weltkriegsfront stellt sich als ihr Vater heraus. Erzählungen wie diese sind es, wegen derer Tatsumi als Urvater des Gekiga gilt, der ernsten, oft sozialkritischen Manga-Erzählung.

Von Tokio inspiriert und abgeschreckt: Manga-Zeichner Yoshihiro Tatsumi im Büro seiner Agentur im Zentrum der japanischen Hauptstadt.
Von Tokio inspiriert und abgeschreckt: Manga-Zeichner Yoshihiro Tatsumi im Büro seiner Agentur im Zentrum der japanischen Hauptstadt.

© Lars von Törne

Zu Tokio mit seinen Gegensätzen hat er ein ambivalentes Verhältnis. „Ich mag die Stadt ehrlich gesagt nicht so gerne“, sagt Tatsumi und zeigt aus dem großen Fenster auf die Hochhäuser gegenüber. Als junger Mann zog er in den 1950er Jahren aus Osaka nach Tokio. Das war damals noch eine andere Stadt: „Es gab kaum Wolkenkratzer, es ging langsamer zu.“ Auf traditionellen japanischen Holzsandalen lief er durch die Straßen und fühlte sich frei. „In Geschäften gab es gemütliche Sofas, und wenn man einen ganzen Tag im Café verbringen wollte, ohne viel zu bestellen, hat sich niemand beschwert.“ In solchen Cafés haben er und seine Zeichnerfreunde oft von morgens bis abends gesessen und gearbeitet. „Das damalige Tokio gibt es heute nicht mehr“, sagt Tatsumi. „Man hatte alle Zeit der Welt, heute verrinnen die Stunden viel schneller.“

Irgendwann kehrte er der Innenstadt den Rücken und zog, wie Jiro Taniguchi, an den Stadtrand mit seinen kleinen Häusern und den grünen Vorgärten. „Da hat das Leben einen anderen Rhythmus, da fühle ich mich wohler.“ Manchmal habe er richtig Angst vor Tokio. „Seit vielen Jahren ähnelt die Stadt immer mehr New York“, sagt er. Um dann lächelnd zu ergänzen: Vielleicht habe das auch nur mit seinem Alter zu tun.

Am Schreibtisch sterben? Da macht sein Verlag nicht mit

In seinen Kurzgeschichten lässt Yoshihiro Tatsumi vor allem die Verlierer der beschleunigten Modernisierung Japans auftreten, die unter Einsamkeit, Geldnot, Existenzängsten und psychischen Deformationen leiden. Und er führt vor, wie durchlässig die Grenzen zwischen gesellschaftlichem Erfolg und dem Vegetieren unter Brücken und in Kellern sind. „Seit den 1970er Jahren hat Japan ein enormer wirtschaftlicher Aufschwung erfasst – aber den Menschen hat das nicht gutgetan“, sagt er. Daran hätten auch die Reformen der vergangenen Jahre nicht viel geändert. „Die grundlegenden Probleme haben sich bis heute nicht gelöst.“

Das ist keine populäre Ansicht in einem Land, das sich bis heute vor allem über seine wirtschaftliche Stärke definiert. So verwundert es nicht, dass Tatsumis Geschichten in den vergangenen Jahren im Ausland populärer waren als im eigenen Land. Was dann wieder dazu geführt hat, dass sein Werk in Japan eine neue Anerkennung erfährt, wie er lachend erzählt. Daher ist beim Treffen mit ihm an diesem Tag auch ein japanisches Fernsehteam dabei, das eine Dokumentation über den Manga-Pionier dreht, der als einer der Ersten einen derart düsteren Realismus in jene Kunstform brachte, die bis dahin eher als leichte Unterhaltung geschätzt wurde.

In letzter Zeit beschäftigt sich Yoshihiro Tatsumi vor allem damit, sein eigenes Leben zu bilanzieren. Nach dem großen Erfolg des ersten Teils seiner Autobiografie „Gegen den Strom“ gerade im westlichen Ausland hat ihn sein nordamerikanischer Verleger beauftragt, den zweiten Teil zu vollenden. 500 Seiten hat er bereits gezeichnet.

Nur um seinen Tod gibt es noch Streit: Den will der Zeichner sein gezeichnetes Alter Ego ganz unspektakulär erleben lassen. „Ich wollte mich zeichnen, wie ich am Schreibtisch zusammenbreche“, erzählt er. Und grinst dabei wie ein frecher Junge. „Das wollte mein Verlag nicht akzeptieren.“ Nun einige man sich wohl darauf, das Thema nur anzudeuten: Zum Beispiel indem der Stock, auf den gestützt er zum Interview gekommen ist, alleine in einer Ecke seines Zimmers zu sehen ist.

Seine Autobiografie mag damit beendet sein. Sein Werk noch lange nicht, wie er zum Abschluss sagt: „In meinem Kopf sind noch viele andere Geschichten, die ich erzählen will.“

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