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Arnold Stadler im Gespräch: „Ich kann mich nicht selbst retten“

Arnold Stadler wollte Priester werden, fühlte sich dann aber nicht würdig genug. Über den Muezzin, Buddha – und warum Benedikt XVI. an James Bond erinnert.

Herr Stadler, Ostern ist das höchste christliche Fest …

… und auch für mich von ganz großer Bedeutung. Mein Ostern ist das Ostern des Kinderglaubens, und der steht nicht zur Disposition. Ich habe schon früh den Bibelvers gehört „Ego sum resurrectio et vita“, ich bin die Auferstehung und das Leben. Daran glaube ich.

Wie stellen Sie sich die Szene vor: ein leeres Grab?

Eben nicht konkret. Das muss ich sein lassen. Wir halten uns hier nicht im Kreuzworträtselbereich auf, sondern im Bereich des Geheimnisses, dem mit Worten schwer beizukommen ist.

Ein Mensch wird an ein Kreuz genagelt, eine Dornenkrone drückt man ihm aufs Haupt – das hat Sie nicht gegruselt?

Das ist eben sehr realistisch. Aber ich weiß, dass mir das als Kind nie gefallen hat. Die Geburt, also die Vorstellung, dass Gott Mensch geworden ist, ist mir viel lieber als diese Passionsgeschichte. Bethlehem ist mir näher als Golgatha.

Haben Sie diese Stätten in und um Jerusalem mal besucht?

Ja. Es war erschütternd. Ich habe geweint. Vielleicht bin ich religiös begabt. Ich hörte einmal in Tunesien den Muezzin – sein Rufen ging mir durch Mark und Bein. Es sind heute schlechte Zeiten für Mystiker, das ist eigentlich mein Zugang.

Nochmal zu Ostern …

… seitdem gibt es für Gläubige den Tod nicht mehr. Das hat Licht in die Welt gebracht. Ich bevorzuge das „Ja“ generell. Das ist ein christlicher Impuls bei mir: Es ist eine Form von Seinlassen.

Für das Seinlassen braucht es nicht den Überbau der Religion, da genügt Immanuel Kant: Behandle andere so, wie du selbst behandelt werden willst.

Ja, und Kant hat sehr schön gesagt, hundert gedachte Taler sind noch keine wirklichen Taler. Das stimmt. Aber diese Gedankenkonstruktion reicht mir nicht aus. Ich brauche noch etwas Futter.

Empfinden Sie Menschen, die ohne dieses Futter leben können, als ärmer?

Nein. Ich habe davor große Achtung. Dass sie in Anbetracht ihres kurzen Lebens und der Größe der Welt – des Sternenhimmels, der Nachtigallen und der Zugvögel, die von selbst nach Hause finden – solche Schlüsse ziehen können. Dass sie mit dem Gedanken fertig werden, dass sie sterblich sind.

Sind Menschen, die glauben, die besseren Menschen?

Um Gottes Willen! Daran denke ich gar nicht.

Erscheinen Ihnen Gläubige glücklicher?

Das könnte sein. Ich aber gehöre nicht zu jenen, die glücklicher sind, weil sie glauben. Vielleicht geht es mir so wie dem großen Jean Paul, er sagte: „Ach, ich war immer zu spät glücklich, nie zur rechten Zeit.“ Ein alter Apologet, Lactantius hieß er, hat etwas sehr Schönes gesagt in Bezug auf den christlichen Glauben: Er mache das Leben leichter und das Sterben sanfter.

Halten Sie die vorösterliche Fastenzeit ein?

Ja, aber ich unterbreche sie auch, wenn mir danach ist. Wir leben ja heute in utilitaristischen Zeiten, wir wollen von allem etwas haben, sogar vom Fasten wollen die Leute was haben: Sie wollen abnehmen! Das ist konsumistisch gedacht, dem Weltbild der Stiftung Warentest verpflichtet, da bin ich auf einem anderen Dampfer.

Na prima, fasten nach Lust und Laune.

Anders wäre es mir zu juristisch, kasuistisch. Wissen Sie, was mich befremdet hat am Rücktritt von Papst Benedikt XVI., den ich sehr schätze?

Nein.

Dass er eine genaue Uhrzeit dafür angegeben hat. 28. Februar, 20.00 Uhr. Und dann fliegt er wie James Bond mit dem Hubschrauber davon.

Verzeihung, was ist daran schlimm?

Schlimm nicht. Verunsichernd ist die juristisch verbindliche Angabe: 28.2.2013, 20 Uhr MEZ. Er hätte sagen müssen: zur Zeit des Abendgebets. Oder: am Aschermittwoch, vom Aschekreuz auf meiner Stirn an. Also eine existentielle Zeitangabe machen. Aber nicht eine Größe aus dem Bereich der Präzisionstechnik, wie nach der Atomuhr.

Sie selbst wollten im Alter von sieben Jahren Papst werden und Mao Tse Tung bekehren.

Jetzt sind Sie reingefallen auf meine Bücher. Obschon, so abgelegen wäre das nicht, wenn man wie ich eine katholisch-ländliche Kindheit hatte. Wir waren auf dem Sportplatz einer Zwergschule mit allen Klassen in einem Raum, 1963, da läuteten am helllichten Tag alle Glocken, und der Lehrer sagte: Wir haben einen neuen Papst. Das war Paul VI.

Und der neue Papst? Franziskus?

Ich bin begeistert von seinem Erscheinen. Schon der Name Franziskus ist eine tolle Idee: in einem Namen den gekrönten Papst und den Bettelmönch zusammenzubringen. Er hat seinen argentinischen Landsleuten gesagt, sie sollten nicht nach Rom kommen und stattdessen die Flugkosten an die Armen spenden. Wie er da das erste Mal auf der Loggia stand, ungeschützt, ohne den Panzer von Purpur und Hermelin. Wenn das nichts Neues ist! Und ohne die großen Insignien, diese Schlichtheit und dieses Lächeln – die Bitte, für seinen Segen zu beten, das hat mir sehr imponiert. Und dann sagt er einfach: „Gute Nacht“. Und seinen ersten Auftritt am Fenster beendete er mit „Guten Appetit“.

Es wird nun viel von Franziskus erwartet…

… möglicherweise zu viel. Die prinzipielle Wende ist ihm erst einmal geglückt, er hat von Zärtlichkeit gesprochen, von Barmherzigkeit – diese Zuwendung zum einzelnen Menschen ist das Grundprinzip des Christentums.

Was erhoffen Sie sich von ihm?

Dass er die Aufklärung weiterbetreibt, auch was die so genannten Missbrauchsfälle angeht. Und ich wünschte, er würde den Juristen in der Kirche Einhalt gebieten, den ganzen Kurienapparat erst einmal abschaffen und dann neu gründen, Frauen als Kardinäle berufen, das wäre ohne weiteres möglich. Warum könnten Frauen nicht im Konklave dabei sein und einen Papst mit wählen? Die Kirche kam ja oftmals Jahrhunderte zu spät, die Menschen anzuerkennen, wie sie nun mal sind. Längst ist der Schöpfungsbericht neu gedeutet, so dass er nicht mehr im Widerspruch zu den Gesetzen der Natur steht. Doch bei der Ehe und bei der Homosexualität, zum Beispiel, berufen sie sich immer noch auf Bibelverse: außerehelicher Sex, gleichgeschlechtlicher Sex bleiben Todsünden.

Es wartet zudem ganz praktische Arbeit. In einem einzigen Artikel der „Frankfurter Allgemeinen“ über die Bank des Vatikans finden sich folgende Begriffe: „Geldwäsche, Machtkampf, Missmanagement, fette Geheimkonten, Geldwaschanlage der Mafia, Bestechungskasse, Knabenprostitution, Schwarzgeld, obsessive Verschleierung.“ Eine feine Gangsterbande hat der Papst da um sich.

Diese Bank gehört aufgelöst, das wollte ich gerade vorschlagen.

Sie haben in Rom katholische Theologie studiert und kennen diese Institution.

Nur ein wenig, ich musste immer dahin, um Geld zu tauschen, Mark in Lire. Ich bin durch die Porta Sant’ Anna gegangen, das ist der Haupteingang in den Vatikan, auf der rechten Seite der Kolonnaden, aber auch eine Art Lieferanteneingang, man bekam so einen Passierschein, es ging am Vatikanpalast vorbei, in eine Tür rein, Treppen runter und wieder rüber, ein Labyrinth, schließlich stand ich in einem fensterlosen Schalterraum. Es muss unterhalb der päpstlichen Gemächer gewesen sein. Es gab auch den vatikanischen Supermarkt, ich habe da günstig Spirituosen eingekauft.

Was hat Sie denn ursprünglich zum Studium der Theologie gebracht?

Wahrscheinlich der Irrglaube, über die Theologie könnte ich Gott näher kommen. Doch der Glaube kommt nicht vom Lesen und Studieren, sondern vom Hören. Es war meine erste Begegnung mit großer Musik, mit großer Literatur, auch wenn ich nicht Latein konnte. Ist das nichts? Ich war Ministrant und habe das Stufengebet noch auswendig gelernt: „Introibo ad altare Dei. Ad Deum, qui laetificat iuventutem meam“, die Schönheit der Sprache ist mir anhand der gesungenen oder gebeteten Liturgie aufgegangen. Das Schöne muss nicht unbedingt verstanden werden, so wie die Liebe. So ist es vielleicht auch mit Gott.

Als Sie von Zivilkleidung in die Soutane gewechselt sind, hat Sie das verändert?

Die Soutane, eine Uniform, habe ich nur wenige Male getragen. Allerdings war ich in dieser Aufmachung auch einmal beim Papst. Es gibt davon Fotos, Paul VI. war das.

Der ist durch seine Enzyklika Humanae Vitae von 1968 berüchtigt geworden und wurde als „Pillen-Paul“ verspottet, weil er Verhütung untersagte.

Es ist so Unrecht, wenn das alles ist, was von diesem armen Mann bleibt. Er ist ein großer Konzilspapst und Papst meines Lebens – zwischen meinem neunten und 24. Jahr.

Es war die Zeit der Studentenbewegung, Frauen diskutierten über Selbstbestimmung, Moralvorstellungen wurden zertrümmert – und da sagt Papst Paul VI., Sex sei nur zur Fortpflanzung erlaubt.

Nicht ganz. Die Sexualität hat in der katholischen Welt einen solchen Stellenwert, dass sie mit dem Sakrament der Ehe verbunden ist, sakralisiert ist und mit der Liebe zusammenfällt. Sie ist zudem von Romeo-und-Julia-artigem Format und gilt bis zum Tod. Doch der einzelne Mensch, den es auch noch gibt, hat ein Gewissen, und das ist die höchste Instanz, die steht über dem Papst. Jeder Mensch, jeder Christ ist da souverän, er muss selbst wissen, wie er sich rechtfertigt.

Hat Sie eigentlich überrascht, was in den vergangenen Jahren an kirchlichen Missbrauchsskandalen ans Tageslicht kam?

Mehr als überrascht. Verunsichert und erschüttert. Hätte ich solche Erfahrungen gemacht, hätte ich vielleicht nicht so ein positives Bild von der Kirche und vom Glauben behalten.

Sie haben das Studium abgeschlossen und sind dann doch nicht Priester geworden, warum?

Sie werden lachen: Ich fühlte mich nicht würdig. Ich habe einen zu hohen Respekt vor den Sakramenten, deswegen gehe ich nicht zur Kommunion.

Stattdessen haben Sie noch Germanistik studiert, promoviert und mit dem Schreiben begonnen. Woher hatten Sie die Gewissheit: Ich kann Schriftsteller?

Das habe ich mir nie gedacht, dass ich das kann, ich denke das bis heute nicht. Es ist alles geglückt, es hätte auch vollkommen schief gehen können.

1999 wurden Sie mit dem Büchnerpreis ausgezeichnet, dem bedeutendsten deutschen Literaturpreis. Das ist doch eine Anerkennung des Könnens.

Meinen Sie?

Sie schreiben Sätze wie: „Im Supermarkt kaufe ich zwei Schnitzel, um zu vertuschen, dass ich allein am Tisch sitze; und auch mir selbst gegenüber vertusche ich es, indem ich beide Schnitzel esse.“

Den finde ich gut, diesen Satz. Dieser Schnitzelkäufer ist eine tragische Witzfigur. Ich erbarme mich dieser Menschen, ich mache mich nicht lustig über sie, ich bin durch das Schreiben eine Art Seelsorger für sie. Schreiben ist vieles, für mich auch die Fortsetzung der Theologie mit anderen Mitteln.

Sie werden von Martin Walser als „Selbstbezichtigungsvirtuose“ oder „Unglücksakrobat“ bezeichnet.

Walser sagt das über meine Bücher, da bin ich natürlich drin, aber das bin nicht ich als Arnold Stadler. Da ist ein Schriftsteller am Werk, der Menschen beschreibt, deren Leben als Glück gedacht war und das dieser Schriftsteller als Unglück beschreiben muss. Das Leben ist ein Joint-Venture aus Glück und Unglück, aus Langeweile und Nichtlangeweile, aus Gutem und Schlechtem. „Das Wahre ist das Ganze“, das ist von Hegel.

Sie reisen viel durch die Welt, waren mehrfach in Indien, Südamerika, den USA, in China, in Afrika. Was macht Sie so rastlos?

Ich habe in den ersten 18 Jahren die Umgebung meiner Geburt, den Ort, der tatsächlich „Rast“ heißt, nie über Nacht verlassen. Ich saß fest in meiner ersten Welt. An den Bodensee konnte ich sogar mit dem Fahrrad fahren und zurück, alles an einem Nachmittag. Aber der war mir immer nur eine Erinnerung daran, dass es nicht das Meer war. Und doch wusste ich vom Meer, wie lange habe ich davon gewusst, daraus hat sich eine Reiselust entwickelt, die bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist. Ich bin ein Semi-Nomade.

Gibt es für Sie Orte mit Glücksgarantie?

Die oberschwäbische Barockstraße, vielleicht das Meer, die Berge, den Blick zum Säntis, und besonders auch die Täler bei Neustadt im Hochschwarzwald. Die Flüsse, die ja außer den Wadis alle irgendwann im Meer landen, ich liebe große Flüsse. Wasser ist etwas Wunderbares. Es ist paradox: Das fließende Wasser evoziert bei mir Bleibenwollen. Der Stein evoziert Gehenwollen.

Und der See, der ruht?

Ist ein Unding, aber ich mag auch ihn. Mein nächstes Buch spielt zwischen Helgoländischem Ufer, wo ich schon Ende der 80er Jahre wohnte, und Stölpchensee, wenn Sie den kennen? Da lebte Tante Mausi, die den Tagesspiegel auch abonniert hatte.

Auf Fernreisen treffen Sie auf Muslime, Juden, Schamanen, Hindus, Buddhisten, Voodoo-Meister. Fanden Sie etwas in diesen religiösen Welten attraktiv?

Einige früher schon, besonders das Judentum als Religion, mit der die Christen ja von Adam und Eva an das Alte Testament von der Genesis über die Psalmen bis zu den Propheten teilen. Den Koran habe ich auch gelesen, es ist für mich zu viel Kampfgeist darin, das heißt wohl „Dschihad“. Buddha finde ich schön: Dass er für alle da und absolut undoktrinär ist. Das Problem beim Buddhismus ist, dass es auf eine Selbsterlösungslehre hinausläuft. Ich kann mich nicht selbst retten, das weiß ich genau. Ich bin für mich selbst verloren. Darum könnte ich niemals evangelisch werden. Ohne Vermittlung mit einem Gott in Kontakt zu sein, scheint mir zu viel verlangt.

Die Liebe, Herr Stadler, erscheint bei Ihnen höchst merkwürdig. Sie sagen: „Liebe hat erst nach dem Klimakterium eine Chance.“ Aber auch: „Es gibt eine Liebe, die selbst die Hoffnung überlebt.“

Den zweiten Satz zuerst: Wenn es zwischen Menschen Liebe gibt, aber keine Hoffnung mehr, weil es um Leben und Tod geht, überlebt die Liebe.

Und das Klimakterium?

War ein Witz.

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