zum Hauptinhalt
Slavoj Žižek

© Laif

Slavoj Žižek: „Studenten haben meistens keine Ahnung“

Und trotzdem wollen sie immer diskutieren, klagt Slavoj Žižek. Kein Wunder: Niemand sonst schlägt den Bogen von Hegel zu einem Dessousmodel

Von Barbara Nolte

Herr Žižek…

…wen interviewen Sie denn sonst so für Ihr Sonntagsmagazin? Echte Stars?

Mitunter.
Oh, wen denn? Ich bin da wie ein Kind. Ich mag zwar Marxist sein, aber ein Star ist ein Star.
Sie selbst wurden in der „Zeit“ sogar als „Superstar der Kapitalismuskritik“ bezeichnet.
Mit dem Begriff Star werde ich neutralisiert. Das heißt doch nichts anderes als: Der ist ganz lustig, aber nicht ernst zu nehmen.
Das Publikum sucht bei den Philosophen Weisheit ...
... Weisheit ist mir ein Gräuel.
Sie geben den wilden Denker.
Mein Stil zu argumentieren ist ein wenig sprunghaft. Doch im Grunde bin ich ein traditioneller Hegelianer. Hegel erlebte die Französische Revolution. Er sah, wie die absolute Freiheit in Terror mündete. Ihn trieb um, wie man die progressiven Ideen weiterverfolgt, ohne in die Falle des Terrors zu geraten. Die Frage ist nach wie vor aktuell. Der Kapitalismus ist in einer Art Krise. Der Versuch, mit dem Kommunismus eine neue Welt zu errichten, endete in einer Katastrophe. Wie bleibt man dennoch der Idee eines emanzipatorischen Projektes treu?
Wie denn? Was ist Ihrer Ansicht nach zu tun?
Die Leute fragen mich immer, was zu tun sei. Zum Beispiel: Was sollten wir tun in der Ökologie? Ja, verflucht, woher soll ich das wissen?
Fehlt Ihnen die naturwissenschaftliche Expertise, um sich zu ökologischen Fragen zu äußern?
Das ist nicht der Grund. Die Mächtigen legitimieren sich heute mithilfe von technologischen Autoritäten: Vermeintliche Experten inszenieren sich als Problemlöser. Dabei ist oft schon die Art und Weise, wie ein Problem formuliert wird, irreführend. In der Ökologie ist beispielsweise von Mutter Erde die Rede. Was soll das sein? Die Prämisse einer radikalen Ökologie müsste lauten: Die Natur gibt es gar nicht. Sie ist kein harmonisches Ganzes, sondern selbst voller Katastrophen. Und das vom Einzelnen geforderte ökologisch korrekte Verhalten ist erst recht ideologisch – tu etwas für Mutter Erde, sammle deine Cola-Dosen. Das ist eine geniale Operation. Du fühlst dich schuldig, und gleichzeitig bietet man dir einen einfachen Ausweg an. Doch die wahren Ursachen bleiben unangetastet: unsere Fertigung von Waren.
Sie mögen den Ausdruck „Mutter Erde“ nicht.
Furchtbar. So ein New-Age-Mist. Es heißt immer, wir leben in postideologischen Zeiten. Aber das stimmt nicht. Überall sind Ideologien. Wir Intellektuelle müssen alles Täuschende aufzeigen.
Hans-Magnus Enzensberger nannte Intellektuelle mal „unbewaffnete Eierköpfe“.
Was meint er damit?

Ich nehme an, dass Intellektuelle sich aufspielen, aber nichts tun.
Aber man tut doch am allerwenigsten, wenn man in diese Pseudoaktivität reingerät. Dieser konstante Druck, der da aufgebaut wird, etwas zu tun, ist Teil der Reproduktion der existierenden Ordnung. Don’t talk. Just do something. Ich sage stattdessen: Lass uns nicht einfach Dinge tun. Lass uns anfangen zu reden. Wir brauchen keine Handlungsanleitung, sondern eine Diagnose.

Sollen unterdrückte Hausfrauen ihre eigene Pornografie haben?

Die 68er forderten, dass die Wissenschaft den Elfenbeinturm verlässt und mitmischt.
Ja. Als ich jung war, hieß es: Wir leben in unseren reichen Unis, andernorts verhungern die Menschen. Heute redet Bill Gates so: Wir sollten alle zusammenkommen und den Armen helfen. Die beherrschende Ideologie ist, dass sich die Probleme durch praktisches Tun lösen ließen.
Im ehemaligen Jugoslawien waren Sie Dissident.
Ich will nicht übertreiben. Kennen Sie den grauenhaften Roman: „50 Shades of Grey?“ In Jugoslawien gab es damals „50 Shades of Dissidence“. Man war nicht einfach Dissident oder kein Dissident. Es gab abgestufte Sanktionen. Die niedrigschwelligste war, dass man nicht unterrichten durfte. Nach dem Diplom war ich erst arbeitslos, dann bekam ich einen Job an einem Forschungsinstitut. Wenn die Kommunisten einen für zu gefährlich hielten, um mit Studenten in Kontakt zu treten, steckten Sie einen in ein isoliertes Institut. Da bin ich noch. Mein großes Glück. Wissen Sie, ich mag keine Studenten. Sie haben meistens keine Ahnung, wollen aber trotzdem immer diskutieren.
An was forschen Sie?
Ich leite irgendein großes Projekt, ich weiß nicht mal den Titel. Meine einzige Verpflichtung ist, der Uni sporadisch eine Liste meiner Publikationen zu schicken. Dafür werde ich bezahlt. Nicht schlecht.
Sie wurden bekannt, als Sie die psychoanalytische Theorie von Jacques Lacan an Hand von Hitchcock- Filmen illustrierten. Gehen Sie noch oft ins Kino?
Ja, weil ich einen Sohn habe. Kino ist die beste Art, Zeit mit ihm zu verbringen. Ich korrumpiere ihn da total. Im Alter von zwei Jahren setzte ich ihn vor die Teletubbies. Jetzt, mit 13, sind wir bei den Horrorfilmen angekommen.
Sie sind offen für Populärkultur, anders als viele Philosophen. Was haben Sie gegen „50 Shades of Grey“?
Nichts: Warum sollen unterdrückte Hausfrauen nicht ihre eigene Pornografie haben? Aber, mein Gott, ich habe halt höhere Ansprüche. Mein letzter Text war eine Analyse von Arnold Schönbergs „Erwartung“. Das Libretto schrieb Marie Pappenheim, die mit Bertha Pappenheim verwandt war. Bertha Pappenheim war die erste Analysepatientin von Sigmund Freud. Sie litt unter Hysterie. Schönberg hat die Hysterie in Musik übersetzt.
Sie sind Psychoanalytiker …
… habe aber nie praktiziert. Andere Menschen interessieren mich nicht hinreichend.
Sie haben sicher selbst mal eine Analyse gemacht?
Vor 30 Jahren, nach einer unglücklichen Liebe. Ich war selbstmordgefährdet. Die Termine beim Analytiker strukturierten die ersten Wochen tiefster Verzweiflung. Danach hörte ich wieder auf.
Sie analysieren die Welt, aber nicht den Menschen.
Genau. Ich hasse es, mich auf das Innenleben von Menschen zu konzentrieren. Ich glaube an den Satz, den sie in „Akte X“ sagen – die Serie spielt in einem Polizeidezernat für paranormale Phänomene: „Die Wahrheit ist irgendwo da draußen.“ Da ist kein Geheimnis in mir.
Wir befinden uns mittlerweile in einer therapierten Gesellschaft.
Das finde ich abstoßend.
Ist Ihnen die Selbstbeschau zu egozentrisch?
Ja, ich halte auch nichts von transzendentaler Meditation. Man versucht, seine innere Wahrheit zu finden. Welche innere Wahrheit? Ich glaube, dass alles, was wir in uns finden, innere Lügen sind.

Sein Prinzip: alles gegen den Strich bürsten

Wenn Sie sich nicht selbst analysieren, wie gehen Sie stattdessen mit sich um?
Ich versuche, mich zu vergessen. Ich lebe in meinen Büchern. Mir geht gerade ein Buch durch den Kopf, das auf die vermeintlich Bösen und die vermeintlich Guten in der Geschichte einen neuen Blick wirft. Zum Beispiel auf die Borgias. Die Familie stellte in der Renaissance zwei Päpste. Sie wurde zum Symbol für Korruption, weil die Mafia sie nicht akzeptierte. Dabei hat Papst Alexander Borgia Juden im Vatikanstaat aufgenommen, die aus Spanien hinausgeworfen worden waren.
Ist das Ihr Prinzip, alles gegen den Strich zu bürsten: die gegenteilige Sichtweise der zurzeit gängigen einzunehmen?
Das ist fast langweilig. Aber ja, so ist es.
Der französische Anwalt Jacques Vergès, eine schillernde Figur, der den Nazi Klaus Barbie verteidigte und als Student mit Pol Pot befreundet war, vertritt eine Position radikaler moralischer Indifferenz. Ob einer als Schurke oder Held in die Geschichtsbücher eingeht, liegt seiner Ansicht nach allein daran, ob die Person siegreich war oder geschlagen wurde.
So sehe ich das nicht. Egal, wie man es betrachtet: Hitler wird nie gut sein. Aber wir leben in einem Universum voller Verzerrungen. Da liefert meine Methode gute Ergebnisse. Ich will die Borgias zum Beispiel nicht rehabilitieren. Ich will nur erklären, warum sie, wenn andere nicht besser waren, zum Prototypen des Bösen wurden.
Julian Assange, Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, fällt in Ihre Kategorie des Helden, der, wenn man genauer hinschaut ...
... es stimmt nicht, wessen man ihn beschuldigt: Er hat große Sorgfalt aufgeboten, die Namen seiner Informanten zu schwärzen.
Angeblich schlief er in Schweden mit zwei Frauen ohne Kondom, obwohl beide das nicht wollten. Das ist Gewalt.
Warum kommen die schwedischen Ermittler nicht zu ihm nach England? Assange würde ja mit ihnen sprechen.
Letztes Jahr waren Sie Ehrengast bei einem Solidaritätsessen für Assange. Die übrigen Plätze wurden auf Ebay versteigert.
Es war Assanges Idee, er brauchte Geld für seine Anwälte. Es war nicht mal ein gutes Essen, wenn ich das so sagen darf. Ich bin kein naiver Aufklärer, der sagt, Staaten sollen keine Geheimnisse haben. Durch die Diplomatenberichte, die Wikileaks veröffentlichte, sahen wir internationale Zusammenarbeit in einem neuen Licht. Assange tat das Richtige. Ich sage das, mit Lenins Worten, nach einer konkreten Analyse einer konkreten Situation.
Sie sind noch immer Kommunist. Warum hatten Sie eigentlich mit der Kommunistischen Partei in Slowenien Probleme?
Nun ja, ich bin schon ein seltsamer Kommunist.
Erklären Sie das bitte?
Gehen wir aus von Fukuyamas Diagnose ...
... Francis Fukuyama schrieb 1992 das Buch „Das Ende der Geschichte“, ein Weltbestseller ...
... er sagt, dass wir die Grundform von Gemeinwesen gefunden haben: den liberalen, demokratischen Kapitalismus. Wir können das System gerechter machen: Gesundheitsfürsorge verbessern, Rassismus bekämpfen. Und so fort. Aber im Rahmen des Systems. Dass alles nicht so zwangsläufig ist, wie Fukuyama sagt, zeigen die Proteste in der Türkei und Brasilien. Der Wohlstand in den Ländern wächst. Dennoch gehen die Menschen auf die Straße. Offenbar passieren Revolutionen nicht nur dann, wenn die Lage wirklich schlimm ist. Das wäre nachvollziehbar: Ärger in der Hölle. Nein, es gibt Ärger im Paradies. So heißt mein Lieblingsfilm von Lubitsch. Wenn sich das Leben der Menschen bessert, protestieren sie: weil auch ihre Erwartungen explodieren. Ich bin überzeugt, dass uns eine neue Zeit von Unruhen bevorsteht. Die vermeintlich ewige Ehe von Kapitalismus und Demokratie steht vor der Scheidung.

Seine Meinung zu Liquid Democracy

Mit Occupy Wallstreet richtet sich eine Bewegung direkt gegen den Kapitalismus. Sie haben die Bewegung mal Hippie-Bullshit genannt.
Was bringen die Occupy-Leute vor? Abstrakte, moralische Dummheiten wie „Das Geld soll den Menschen dienen, die Menschen sollen nicht dem Geld dienen.“ Da steckt etwas potenziell Antisemitisches drin: Auf der einen Seite hat man einen gesunden Kapitalismus und auf der anderen einen degenerierten, den die Banker bestimmen. Die korrupten Banker sind für die Occupy-Leute die Buhmänner. Doch das Problem sind nicht korrupte Banker, mein Gott, Banker waren immer korrupt. Der springende Punkt ist, welche wirtschaftlichen Veränderungen es diesen Menschen ermöglichen, ihr korruptes Wesen auszuleben. Hier stimme ich Brecht zu: Versuche nicht, die menschliche Natur zu ändern. Menschen werden immer böse sein. Verändere die Umstände so, dass die Menschen ihre Bosheit nicht ausleben können.
Was halten Sie von der Utopie einer Liquid Democracy: einer Basisdemokratie mittels Internet?
Sie ist nicht die Antwort. Würden Sie gerne in einer Gesellschaft leben, in der man immer beteiligt sein muss? In Ausnahmesituationen ist das interessant. Hunderttausende auf dem Taksim-Platz in Istanbul – da ist es für Protestbewegungen leicht, Solidarität heraufzubeschwören. Der Test ist der Morgen nach der Revolution. Wie beurteilen normale Leute die Veränderung, wenn wieder Ruhe einkehrt ist – nur unter umgekehrten Vorzeichen?
Sie haben das in Slowenien erlebt.
Nee, das war anders in Slowenien. Da gab es gar keinen pathetischen Moment.
Es gab doch einen Krieg, sehr kurz zwar.
Ein paar Schießereien.

Prägen Ihre eigenen Erfahrungen Ihre Theorien?
Gar nicht. Man macht Erfahrungen, klar, aber man braucht Theorie, um zu verstehen, was die Erfahrungen dir sagen. Ich bin durch und durch ein Mann der Theorie.
Zum Nimbus des Unkonventionellen, den Sie unter den Theoretikern inne haben, trägt bei, dass Sie mal mit einem argentinischen Unterwäschemodel verheiratet waren. Es steht in jedem Artikel über Sie.
Meine Exfrau modelte nicht nur für Unterwäsche. Ich hielt mal in Peking eine Vorlesung über Hegel vor tausend Studenten. Anschließend meldete sich ein Mädchen und fragte: „Wie ist es, mit einem Fashion Model verheiratet zu sein?“ Mir ist zum Glück der Bogen zu Hegel eingefallen.
Wie das denn?
Bei Hegel gibt es den Begriff des unendlichen Urteils, wenn man unvereinbare Begriffe kombiniert. Beispielsweise: Der Geist ist ein Knochen. Zwei derart unvereinbare Begriffe sind Hegel und Unterwäschemodel.
In einer Berliner Vorlesung zu Hegel forderten Sie die Studenten auf: „Setzt euch zur Wehr!“
Ich bezog mich auf die unsinnige Bologna-Reform. Die Unis werden so zu Fabriken, die Experten herstellen. Nein! Das, was als pures, vermeintlich nutzloses Spekulieren erscheint, ist heute nötiger denn je. Mit Marx bin ich der Meinung, dass das kapitalistische System an einem Ende angekommen ist. Nicht im Sinne des Maya-Kalenders ...
... der Kalender endete am 21. Dezember 2012, manche rechneten mit dem Weltuntergang.
In gewisser Weise hatten die Mayas recht. Wissen Sie, was an dem Tag passierte? Das Video von Gangnam Style, dieses ekelerregende Kulturphänomen, überschritt die Zahl von einer Milliarde Aufrufen im Internet. Das ist wahrlich das Ende unserer kulturellen Welt.

Zur Startseite