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Die Autorin (links auf dem Esel) mit ihrer Familie am Drachenfels.

© Richard Kern

Serie: Ferien der Kindheit: Eselstreicheln am Drachenfels

Vor 50 Jahren lernte Familie Kippenberger aus dem Ruhrpott hier, was ein Gebirge ist. Sie war begeistert. Lässt sich dieses Gefühl wiederholen?

Unser Vater hat sich ins Auto gesetzt und gehupt. Dass unsere Mutter noch fünf Kinder samt Mänteln, Proviant und Taschentüchern einsammeln musste, hat ihn nicht irritiert. Er war fertig und als Einziger pünktlich, alle anderen trödelten herum. Irgendwann hatten wir uns tatsächlich alle in den Opel Kapitän gequetscht, rollten los und begannen kurz hinter Essen-Frillendorf zu stöhnen: Wann sind wir endlich daaa? Das war der Beginn jeder wunderbaren Reise.

Frühling, Sommer, Herbst und Winter? Unsere Jahreszeiten hießen Karneval, Ostern, Drachenfels. Das Gerüst unseres Lebens bestand aus Vergnügungsritualen. Vatertag, Muttertag, Kindertag, Pfingsten bei Onkel Hermann, Martinsgans in Cappenberg.., Jahr für Jahr für Jahr, wir haben es geliebt. Und alles wurde festgehalten, in Fotos, ausgeschmückten Erzählungen, Zeichnungen. Nie war das Leben einfach nur Leben, immer war es auch Material.

Wir waren noch nie geflogen

Endlich daaa, rannten wir in Königswinter als Erstes ins Fotostudio. In dem kleinen Hof an der Drachenfelsstraße wurden wir Kleinen auf den Esel gesetzt, die Großen drum herum drapiert. Später reihten wir uns hinterm Pappflugzeug auf. Die Kurzen kriegten Hocker untergeschoben, damit alle auf einer Höhe standen, dann legten wir lässig den Arm heraus. Wir waren noch nie geflogen.

Richard Kern heißt der Mann, der uns Anfang der 60er Jahre immer abgelichtet hat. Der Beweis findet sich in meinem Fotoalbum, in dem die alljährlichen Drachenfels-Bilder eine ganz eigene Familienchronik bilden: „D1214“ steht auf dem Flieger, Kerns Erkennungszeichen.

Jetzt sitzt der quirlige 82-Jährige („dat macht hier die Luft“) mit seiner Frau im Garten ihres Hauses, auf halber Höhe vom Drachenfels, gleich neben der Nibelungenhalle, die von „der Marlies“ betrieben wird. Am Abend wird er wieder zu seinem Männergesangsverein „Gemütlichkeit“ gehen, dessen Mitglied er seit 1955 ist. Länger, als ich auf der Welt bin.

Heute tragen alle Rucksack

Schon Kerns Großvater war Drachenfels-Schnellfotograf, der Enkel gilt als der Letzte seiner Zunft. 1989 hat er sein Atelier geschlossen, dann noch zehn Jahre mit seiner Frau hier oben einen Souvenirladen mit Getränken betrieben, bis sich auch das nicht mehr lohnte. Der Wanderer von heute, staunt Kern, trägt ja alles im Rucksack mit sich herum. Und das Handy zum Fotografieren in der Hosentasche.

Die Autorin heute mit Donna, einem Esel der Familie Muhr. Reiten darf sie nicht mehr, das ist nur noch Kindern erlaubt.
Die Autorin heute mit Donna, einem Esel der Familie Muhr. Reiten darf sie nicht mehr, das ist nur noch Kindern erlaubt.

© privat

Ferien haben die Kerns nie gemacht. Wann auch? Von März bis Oktober währte die Saison, sieben Tage die Woche, von morgens neun bis abends sieben Uhr. Das Geschäft boomte, „da gab’s ja noch kein Spanien, kein Mallorca“. Selbst zu verreisen, hat Kern nie gereizt. Wozu? „Wir haben et hier schön genuch“, sagt der „Ritter vom Siebengebirge“, zu dem er 2015 geschlagen wurde.

Siebengebirge, wenn das nicht nach Märchenland klingt. Hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen, am Rhein … Dabei sind es viel mehr als sieben Berge, nämlich gut 40. Der Drachenfels mit seinen 321 Metern zählt eher zu den mickrigen. Umso imposanter die Lage.

Uns war er entschieden zu hoch. Wir kamen aus dem Flachland, Kohlehalden waren im Ruhrgebiet die einzigen Erhebungen. Und so klein der Berg, so steil ist er auch. Sportlich gänzlich unbegabt, taten wir, was Klein und Groß heute noch tun, wir stöhnten, japsten, jammerten. Meist mit Erfolg. Dann durften wir auf dem Esel hochreiten.

Der coole Esel

Der Drachenfels mit Burgruine und Ausflugslokal auf dem Gipfel.
Der Drachenfels mit Burgruine und Ausflugslokal auf dem Gipfel.

© picture alliance / Oliver Berg/d

In Königswinter begegnet einem der Esel überall, ob als Brunnen an der Rheinpromenade, als Aufsteller vor dem Siebengebirgsmuseum oder als cooles Logo des „Kaufmannsladen“, eines jungen Bistros in alter Umgebung. Aber echte Tiere, die gibt’s nur hier, am Fuße des Bergs, neben dem Bahnhof der grünen Zahnradbahn, übrigens der ältesten im ganzen Land. Sieht aus wie in den 60er Jahren.

Die Faszination ist ungebrochen. Ein kleines Mädchen sagt, ihr noch kleinerer Bruder würde so gern den Esel streicheln, ob er darf? Er darf. Ein Althippie mit Pferdeschwanz fragt erst gar nicht.

Reiten darf ich nicht mehr, das ist nur Kindern erlaubt. Den Eseln, sagt Marion Muhr, soll’s ja auch Spaß machen. Seit 80 Jahren steht ihre Familie schon hier, sie ist geblieben, während alle anderen im Ort aufgaben. Die Eselstation ist ihr Fulltime-Hobby, „leben kann man davon nicht“. Ihr Mann und sie haben Jobs; Wochenenden und Ferien verbringen sie damit, anderen Vergnügen zu bereiten.

Vor gut zehn Jahren hatte ich es schon mal gewagt, an den Ort meiner Kindheit zurückzukehren. War auf einem Ausflugsschiff nach Königswinter gereist, zu Schlagerklängen und Schnapsgekreische. Wie trostlos alles wirkte, der Ort, der Aufstieg, der Betonbunker auf dem Gipfel, ein überdimensioniertes Ausflugslokal.

Hollands höchster Berg

Und jetzt – entdecke ich viel mehr Kindheit und Glück als erwartet. Einiges ist sogar besser geworden. Der Rhein beispielsweise, in dem man wieder schwimmen kann. Oder das neue, 2013 eröffnete Ausblicksplateau unter der Burgruine. Geschmackvoll und zurückgenommen aus Natursteinen ist die Terrasse mit der grandiosen Aussicht gestaltet, eine breite Treppe lädt zum Niederlassen ein. Ein kleineres, gläsernes Lokal hat das alte aus den 1970ern ersetzt, draußen sitzt man auf richtigen Gartenmöbeln aus Holz. Englisch, Spanisch, Holländisch ertönt es ringsrum. Der Drachenfels wird auch „Hollands höchster Berg“ genannt. Er soll sogar Europas meistbestiegener sein.

Selbst wenn in Königswinter noch einiges zu tun ist, die Sünden der 70er Jahre nicht zu übersehen sind, etliche Läden, Lokale und Herbergen leer stehen – man merkt, dass ein Umdenken stattgefunden hat. Heute kommen mehr Familien als Kegelklubs, weniger Schnapsdrosseln als Jogger und Mountainbiker. Fahrradtourismus hat’s in unserer Kindheit nicht gegeben, erst recht nicht den Medizintourismus, von dem die Gegend profitiert. Und der Rheinsteig, der 320 Kilometer lange Fernwanderweg, wurde erst 2005 eröffnet.

Eine froh gelaunte junge Kellnerin bringt auf dem Gipfel den Apfelsaft. Das war damals das Größte für uns: irgendwo einzukehren, was zu bestellen. Zu Hause ging’s sparsam zu, auf Reisen zog unser Vater „Spendierhosen“ an. Aus denen zog er auch die Groschen, die wir in die Märchenautomaten am Wegesrand schmissen. Wir ließen die Heinzelmännchen tanzen.

Im Kölner Dom steckt ziemlich viel Drachenfels

Ein Zaun versperrt den direkten Weg vom Plateau nach unten, ein Schild warnt vor Lebensgefahr: „The Esels-path is blocked because of falling stones.“ Brüchig und bröckelig ist der heute an vielen Stellen mit Betonankern befestigte Berg schon lange vor unserer Zeit gewesen. Die Menschen hatten Raubbau betrieben, regelrecht ausgeschlachtet wurde der Berg Das vulkanische Trachytgestein war als Baumaterial beliebt – im Kölner Dom steckt ziemlich viel Drachenfels. Bis der preußische König den Steinbruch verbot und 1836 Berg und Burgruine kaufte, damit das Panorama erhalten blieb – womit die Grundlage für den späteren Naturpark gelegt wurde. Und die ausrangierten Packesel? Beförderten fortan Touristen.

Zu den Überraschungen meiner Reise gehört die Entdeckung, dass das Allheilmittel unserer Mutter ausgerechnet am Drachenfels produziert wurde. Als Ärztin hatte sie ein recht rustikales Verhältnis zu den Wehwehchen ihrer Kinder, weswegen ihre Medizin, wenn sich einer von uns mal wieder die Knie aufgeschlagen hatte, immer gleich lautete: „Kind, stell dich nicht an, tu Penaten-Creme drauf.“

Die Salbe, die heute Johnson & Johnson gehört, stammt aus Rhöndorf, der anderen, grüneren, stilleren Seite vom Drachenfels. So weit sind wir nie gekommen. Wahrscheinlich hätten wir Kinder auch protestiert. Die Idylle von Dorf und Natur wäre uns zu öd gewesen. Wir hatten’s gern rummelig. Die Souvenirbuden, heute alle geschlossen, fanden wir toll.

Heute freue ich mich, dass es im freundlichen Weinhaus Hoff noch richtige schwere Hotelschlüssel anstelle von Karten gibt. Und zum Frühstück Apfelkraut, Rübenkraut, Pflaumenmus: löffelweise Kindheit im Bauch.

Der Altkanzler und der Bäckermeister

Das neue Plateau und Ausflugslokal auf dem Drachenfels.
Das neue Plateau und Ausflugslokal auf dem Drachenfels.

© Alamy Stock Photo

Dass Rhöndorf noch so lauschig ist, hat der Ort Konrad Adenauer zu verdanken. Der bekannteste Politiker unserer Jugend, der immer ein bisschen zum Fürchten aussah und dessen Haus man heute besichtigen kann, hatte sich vor den Nazis hierher zurückgezogen. Und weil er auch später seine Ruhe haben wollte, wehrte er sich vehement gegen die auf der Südseite geplante zweite Zahnradbahn. Sein Widersacher hieß Profittlich, seines Zeichens Bäckermeister. Heuer feiert das „Café Profittlich“ seinen 125. Geburtstag. Beim Betreten des kleinen Verkaufsladens steigt mir der Duft von früher in die Nase. Wie wohltuend das übersichtliche Angebot, Plunder, Käsekuchen, Graubrot und Torte.

Drüben in Königswinter kehrten wir beim Abstieg immer bei den „Drei Burschen“ ein, wo unser Vater sich an Maibowle beschwipste, bevor wir unten bei Richard Kern die fertigen Fotos im Postkartenformat abholten. „Dat hett immer gut gefluppt“, sagt Kern. In Rhöndorf lasse ich mich in der Weinwirtschaft „Zum Böllchen“ nieder, einem Hexenhäuschen mit grünen Fensterläden. Auf dem Hof, unter Bäumen, zwischen Einheimischen, trinke ich Riesling von Pieper, einem von zwei Weingütern am Drachenfels. Die nette Kellnerin trägt Sitzkissen und üppige Vesperplatten herbei.

Die Briten kamen als erste

Schon unsere Urgroßeltern aus dem Siegerland stiegen den Drachenfels hoch. Sie waren beileibe nicht die Ersten. Erfrischend klug und lebendig wird die Geschichte des Tourismus im Siebengebirgsmuseum erzählt, das vor ein paar Jahren modernisiert und erweitert wurde, und dem auch Richard Kern Reste seines Ateliers hinterlassen hat, samt Zeitzeugenbericht auf Video.

Die ersten Reisenden waren übrigens Engländer. Lord Byron hatte sie angesteckt mit seinen rheinromantischen Versen. Schriftsteller und Künstler, Wohlhabende und Tagestouristen kamen bald auch von anderswo her, die Erfindung von Eisenbahn und Dampfschifffahrt machten es möglich. 1958 wurde das Siebengebirge zum Naturpark ernannt, inzwischen mit Europadiplom. Vom Riesling beschwingt, mache ich einen letzten Spaziergang nach Königswinter, zwei Kilometer, immer am Rhein lang. Rot glüht die Abendsonne.

Tipps für den Drachenfels

Nach dem Esel kam das Flugzeug als Drachenfels-Foto-Kulisse. (2. von links die Autorin)
Nach dem Esel kam das Flugzeug als Drachenfels-Foto-Kulisse. (2. von links die Autorin)

© Richard Kern

HINKOMMEN

Mit der Bahn über Köln nach Königswinter oder Rhöndorf (ab 49,90 Euro). Die Zahnradbahn fährt alle halbe Stunde von Königswinter auf den Drachenfels (drachenfelsbahn-koenigswinter.de). Zünftiger natürlich zu Fuß (Wanderwege: siebengebirge.com) oder auf dem Esel (nur für Kinder, am Wochenende und in den Schulferien von NRW, Familie Muhr, 02223/24650). Auf keinen Fall verpassen: Die Tramfahrt am Rhein entlang mit der 66 (Bonn bis Bad Honnef).

ANKOMMEN

Das Ausflugslokal auf dem Drachenfels ist im Sommer von 10 bis 19 Uhr geöffnet (der-drachenfels.de).

UNTERKOMMEN

Hotel Weinhaus Hoff, Löwenburgstraße 18+35, 53604 Bad Honnef-Rhöndorf, Tel. 02224/2342, hotel-weinhaus-hoff.de, DZ ab 93 Euro.

ANGUCKEN

Siebengebirgsmuseum, Kellerstraße 16, Königswinter, siebengebirgsmuseum.de.

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