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Sowjetführer: Stalin und Chruschtschow (rechts) in den 1930er Jahren.

© pa/Heritage Image

Rede zur Architektur 1954: Wie Chruschtschow den Stalinismus niederriss

Am 7. Dezember 1954 testet der sowjetische Parteichef, wie weit er mit der Kritik an seinem Vorgänger gehen kann. Seine Ansprache wird zur Abrechnung mit Stalins verschnörkelten Bauten – und die einflussreichste Architekturrede des 20. Jahrhunderts.

Leonid Poljakow konnte stolz sein auf sein Lebenswerk. Bereits im Alter von 43 Jahren verlieh Josef Stalin dem Architekten die höchste Auszeichnung, die einem Helden des Volkes zuteil werden konnte: Für den Bau des Hotels Leningradskaja in Moskau bekam er 1949 den Stalin-Preis, den Oscar der sowjetischen Architektur. Das Hotel, das heute zur Hilton-Gruppe gehört, ist 136 Meter hoch, es erinnert an die amerikanischen Wolkenkratzer der 1930er Jahre, die Flure und Hallen der oberen Stockwerke sind in dunklem Kirschholz gehalten. Poljakow galt als Vertreter eines neoklassizistischen Stils, einer mit Zierrat überfrachteten Architektur, wie sie für die Stalin-Zeit typisch ist. Gesimse, Erker, Ornamente an der Fassade – mit Bauschmuck und Verzierungen geizten Poljakow und seine Kollegen selten.

In ihren Entwürfen drückten Stalins Hofarchitekten die Wünsche des Diktators in prunkvollen Bauten aus. Der Wiederaufbau kriegszerstörter Städte sollte auch ein Triumph ihrer Baumeister sein. Poljakow gehörte zur ersten Generation der sowjetischen Architekten und hatte erfolgreich am seinerzeit größten Wettbewerb zum Bau des Palastes der Sowjets in Moskau teilgenommen. Das Gebäude, das nie verwirklicht wurde, wäre mit 415 Metern das höchste der Welt gewesen.

Poljakow, der sozialistische Klassizist, war ein Produkt des Systems Stalin. Im Winter 1954 sollte ihm das zum Verhängnis werden.

Rückblende ins Jahr 1953. Der plötzliche Tod Stalins im März hat die Ordnung der Diktatur aufgelöst, innerhalb der Führungsriege kommt es zum Machtpoker. Stalins potenzielle Nachfolger müssen Themen besetzen, um sich gegen ihre Konkurrenten durchzusetzen. Zu den Mitgliedern des Politbüros gehört Nikita Chruschtschow, der gerade Chef der KPdSU geworden ist.

Der Bauernsohn hat sich als Parteifunktionär in der Ukraine einen Namen gemacht. Er gilt als erfahrener Politiker, wenn es um Fragen der Landwirtschaft geht. Im Frühjahr 1954 ruft er die Neuland-Kampagne aus, deren Ziel es ist, Kasachstan neben der Ukraine zur zweiten Kornkammer der Sowjetunion zu machen. Schon das verschafft Chruschtschow Anerkennung. Gleichzeitig entdeckt er ein anderes Themenfeld, das aufgrund des Stalin’schen Geschmacksdiktats vernachlässigt worden ist: den Wohnungsbau.

Der scheinbare Glanz des Kommunismus

Die meisten der im Westen als Zuckerbäckerstil verpönten Hochhäuser – etwa die „Sieben Schwestern“, zu denen Poljakows Hotel Leningradskaja ebenso gehört wie das Wohnhochhaus Kotelnitscheskaja (siehe Foto links) – zeugen damals vom scheinbaren Glanz des Kommunismus. Der Bau von Prachtstraßen und städtebaulichen Ensembles mit Wohnungen für Privilegierte ist teuer. Unter Stalin hatte es zwar erste Musterprojekte zur Rationalisierung des Wohnungsbaus gegeben. Doch die Masse der Bevölkerung konnte die reich verzierten Arbeiterpaläste nur von außen bewundern.

Durch den Krieg war die Situation noch katastrophaler geworden. Verheerende Zerstörungen, die nicht enden wollende Landflucht und eine Wohnungspolitik, die nicht auf Massen, sondern auf Eliten ausgerichtet war, hatten die Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum zu einer schier unlösbaren Aufgabe gemacht. Die in den 20er Jahren am intellektuellen Austausch mit europäischen Kollegen interessierte Architektenschaft war nach Ausrufung des Sozialistischen Realismus mundtot gemacht worden.

Typisch für die Stalinzeit waren erzwungene Wohngemeinschaften. Die nach der Oktoberrevolution eingeführte Wohnungspolitik zielte auf eine Auflösung der Familie. Etagenwohnungen mehrerer Familien wurden mit gemeinsamer Küche und kollektiven Sanitäranlagen ausgestattet – eine Weiterentwicklung der „Kommunalka“, der Gemeinschaftswohnung aus dem 19. Jahrhundert. Hierzu ließen die Stadtsowjets auch bürgerliche Wohnhäuser aus vorrevolutionärer Zeit umwandeln. Wegen Überbelegung und dem unterschiedlichen Bildungsgrad der Bewohner kam es oft zu Konflikten. Die Abwesenheit von Privatheit und der Überwachungsapparat, der Denunziation förderte, gehörten zum Leben der städtischen Bevölkerung. Wer nicht in einer Baracke oder Hütte leben musste, war froh, in der Stadt einen beheizten Raum mit fließendem Wasser zu bewohnen.

Auftakt der Entstalinisierung

Bauen unter Chruschtschow. Neungeschossiger Wohnungsbau der Serie II-18, die Konstruktionsweise ist deutlich an der Fassade ablesbar.
Bauen unter Chruschtschow. Neungeschossiger Wohnungsbau der Serie II-18, die Konstruktionsweise ist deutlich an der Fassade ablesbar.

© Meuser

Ende 1954 findet in Moskau der Allunions-Baukongress statt. Am letzten Tag, am 7. Dezember, tritt Chruschtschow ans Mikrofon. Was folgt, ist eine historische Rede. Der Parteichef rechnet mit der bisherigen Baupolitik ab. Sein Auftritt ist der Versuch, die Grenzen der Kritik am alles dominierenden Josef Stalin auszuloten. Ein Balanceakt.

Chruschtschows Abschlussrede wird zum Auftakt der Entstalinisierung – und zum architekturtheoretischen Manifest für die sowjetische Nachkriegsmoderne. Die Rede beeinflusst die Architektur des 20. Jahrhunderts, wie es sonst nur Vordenker der Moderne geschafft haben, etwa Walter Gropius 1919 mit seinem Bauhaus-Manifest oder Le Corbusier 1943 mit der Charta von Athen. Nicht nur das Bauen in der Sowjetunion verändert sich danach radikal, sondern die Architektur überall im Ostblock. Weg vom Zuckerbäckerstil, hin zu uniformen, einfachen Wohnbauten.

Chruschtschow demontiert führende Architekten

In sowjetischer Manier beginnt Chruschtschow damals die Demontage führender Architekten – dabei immer mit dem Argument, die Kosten seien aufgrund des Fassadenschmucks unverhältnismäßig hoch oder die Nutzfläche sei bezogen auf das Volumen zu gering. Besonders auf Leonid Poljakow, der gerade als Chefarchitekt von Sewastopol den Wiederaufbau der Stadt auf der Halbinsel Krim leitet, hat sich Chruschtschow eingeschossen. Poljakows Hotel Leningradskaja sei mit Deckenmalereien, hochwertigen Materialien und Vergoldungen übermäßig prunkvoll. Zudem nähmen die 354 Zimmer nur 22 Prozent der Gesamtfläche ein. Bei einer wirtschaftlichen Planung, so Chruschtschow vor den Delegierten aller Sowjetrepubliken, hätten bei gleicher Fläche und gleichen Kosten 1000 Zimmer ausgestattet werden können. Der bislang anerkannte Poljakow wird vor den wichtigsten Architektenkollegen vorgeführt. Zitat Chruschtschow: „Für Puschkin wurden Denkmäler gesetzt, ohne dass er je daran mitgearbeitet hat. Viele Architekten glauben dagegen, sie könnten sich mit einem extravaganten Werk ein eigenes Denkmal setzen.“ Die Delegierten applaudieren unter Gelächter.

Stalins architektonisches Vermächtnis ist zu diesem Zeitpunkt überall in Moskau präsent. Mit dem Wohnhochhaus Barrikadnaja ist der letzte der sieben Türme im Stadtbild Moskaus gerade fertiggestellt worden. In Sichtweite des Kasaner Bahnhofs dominieren mit dem Hotel Leningradskaja und einem benachbarten Wohnturm gleich zwei Hochhäuser im Stil des sozialistischen Klassizismus die Silhouette der Hauptstadt. Politisch bietet der Abschluss der aufwendigen Hochhausprojekte die Chance für eine Neuausrichtung und Umorganisation der Bauwirtschaft.

Im ersten Teil seiner Rede geht Chruschtschow auf die Vorteile des industrialisierten Bauens ein und verweist auf die Bedeutung der Konferenz für den Bau von Industrieanlagen und alle anderen Bereiche der Wirtschaft. Um sich bei den Zuhörern Sympathien zu erwerben, lobt er zunächst die hohe Qualifikation und große Einsatzbereitschaft der Bauarbeiter, um dann mit viel Fachsimpelei auf Details im Bauprozess einzugehen.

Über seine Redenschreiber kann nur gemutmaßt werden, es muss sich um erfahrene Leute gehandelt haben. Chruschtschow sinniert über den Vorteil vorfabrizierter Betonteile, die ein schmutziges Betonmischen auf der Baustelle überflüssig machten. Der Parteichef erörtert ausgiebig, dass Fassadenelemente in der Fabrik mit Fliesen verkleidet und auf der Baustelle als Fertigteilprodukte nur noch montiert werden müssten. Der Ziegelstein, so Chruschtschow weiter, habe als Baumaterial ausgedient. Moderne Baumethoden könnten auf Beton, Elektromotoren, Kräne und andere Maschinen zurückgreifen und das traditionelle Stein-auf-Stein-Mauern ablösen.

Die Sowjetunion könne gigantische Industrieanlagen bauen, Wohnhäuser, Schulen und Krankenhäuser, das hätten die vergangenen Jahre gezeigt. Die neue Ausrichtung des Bauwesens sei von existenzieller Bedeutung, um die politischen Ziele erfolgreich umzusetzen. Chruschtschow fügt einen Satz an, mit dem er von da an immer wieder zitiert und an seinem eigenen Programm gemessen werden wird: „Wir haben die Verpflichtung, deutlich an Geschwindigkeit zuzulegen, die Qualität zu verbessern und die Kosten zu senken!“

Mit der Betonung auf den Dreiklang von Zeit, Kosten und Qualität unterstreicht der gelernte Maschinenschlosser, dass er sowohl vom Planungsprozess als auch von Baustellenorganisation und Bauausführung etwas versteht. Seine Intention heißt: Abschied von individuellen und teuren Einzelbauten und stattdessen Konzentration auf Typenprojekte. Das Hauptproblem bestehe darin, so Chruschtschow, dass Architekten der alten Generation als „Baumeister“ ausgebildet worden seien. Männer wie Leonid Poljakow.

Chruschtschows Redenschreiber haben nicht nur die Baukosten von Poljakows Hotel Leningradskaja analysiert. So widmet sich der Parteichef zum Beispiel auch dem Außenhandelsministerium am Smolensk-Platz (Smolenskij Ploschtschad): Aufgrund der übermäßigen Außenwandfläche seien hier überdurchschnittliche Heizkosten zu zahlen, sagte Chruschtschow. Das Hotel Ukraina weise – verglichen mit dem Hotel Moskwa – einen Quadratmeterpreis aus, der um drei Viertel höher liege.

Alle Rechenbeispiele dienen nur dem Zweck, die Stalin-Hochhäuser als das prägendste Element der neuen Moskauer Silhouette zu diskreditieren. Die Kritik an den Bauten lässt sich als Kritik am verstorbenen Diktator lesen. Berühmte und bis dato einflussreiche Architekten, deren Werk Chruschtschow öffentlich anprangerte – neben Poljakow zum Beispiel Mordwinow, Wlasow, Sacharow, Borezkij oder Duschkin –, wurden geopfert. Keinem der unter Stalin gefeierten Architekten gelingt nach dessen Tod die Planung und der Bau eines bedeutenden Gebäudes.

Zwar fügt der Parteichef ausdrücklich hinzu: „Wir sind nicht gegen Schönheit. Wir sind nur gegen Überflüssigkeiten!“ Doch formuliert er letztlich das Programm einer nüchternen Architektursprache. Er fordert gute Proportionen, angemessen dimensionierte Fenster und Türen sowie Fassaden mit kompositorisch gesetzten Balkonen und Farbakzenten.

Säulen und Verzierungen? Müssen weg.

Bauen unter Stalin. Das Wohnhochhaus Kotelnitscheskaja in Moskau, errichtet 1952 – ein Jahr vor dem Tod des Diktators. 
Bauen unter Stalin. Das Wohnhochhaus Kotelnitscheskaja in Moskau, errichtet 1952 – ein Jahr vor dem Tod des Diktators. 

© ullstein bild

Diese Vorstellung von Architektur unterschied sich kaum von vielen Manifesten der 20er Jahre. Was der Rede ihre Durchschlagskraft verlieh, war Chruschtschows Position als Parteichef. Dieser Posten war der Garant dafür, dass die theoretische Forderung direkt auf die Tagesordnung der politischen Gremien gebracht wurde. In den Folgemonaten sollten die Kongressergebnisse Thema bis zu den kleinsten baupolitischen Parteieinheiten sein. Selbst wenn Architekten nicht Mitglied der Partei waren, diskutierten sie den Kongress zumindest in ihren gleichgeschalteten Verbänden.

Wesentliche Inhalte des Kongressvortrags fanden sich in einer gemeinsamen Verordnung wieder, die knapp ein Jahr später vom Zentralkomitee der KPdSU verabschiedet wurde. Titel: „Über die Beseitigung der Übermäßigkeit im Planen und Bauen“. In dem Pamphlet vom 4. November 1955 warb die sowjetische Führung leidenschaftlich für eine Abkehr von der Stalin’schen Architektur der Säulen und Verzierungen.

So vehement Stalin seinerzeit die Abkehr vom Konstruktivismus durchgesetzt hatte, so ereilte es nun gleichermaßen die eklektizistischen Bauformen der 30er und 40er Jahre; mit dem Sturz der Diktatoren in Italien und Deutschland war dieser Stil dort ebenfalls formal beendet. Auch in der Verordnung diffamierte man erneut das Werk namhafter Architekten, sie wurden eines verschwenderischen Einsatzes von Geldern bezichtigt. Die Verlautbarung mit Gesetzescharakter zielte auf die Einführung einer industriellen Vorfertigung von Typenprojekten, die sich Mitte der 50er Jahre noch in ihren Anfängen befand.

Der politische Beschluss, der mit der Verordnung beabsichtigt wurde, beinhaltete 14 Punkte. Sieben Beschlüsse zielten auf die Abmahnung von namentlich genannten Architekten sowie auf die Aberkennung von Stalin-Preisen, wie einer etwa Jewgenij Rybizkij 1950 für eine Wohnanlage an der Tschkalow-Straße verliehen worden war. Ein umlaufender Gesimsstreifen und vertikal an der Fassade durchgehende Erker sowie ein zentraler Gebäudeteil mit Rundbogentor und zwei kapellenartige Aufbauten oberhalb der Traufkante vermittelten ein Ideal der Stalin’schen Wohnbauarchitektur. Unter Chruschtschow wird die Auszeichnung nun zum persönlichen Schicksal.

Die anderen sieben Beschlüsse der Verordnung boten nicht weniger Zündstoff, konnten sie doch nur realisiert werden, wenn sich die gesamte Bauindustrie den Änderungen beugte. Zunächst sollten alle Regierungsgremien und Berufsverbände darauf eingeschworen werden, Typenprojekte im Wohnungsbau verstärkt umzusetzen. Laufende Projekte sollten von den zuständigen Ministerien beziehungsweise Komitees vor Ort binnen drei Monaten überprüft und optimiert werden: etwa durch reduzierten Fassadenschmuck und bessere Ausnutzung von Fläche. Die Behörden wurden angehalten, die aufgestellten Planziele der Typenprojektierung zu erfüllen.

Zugleich rief die Verordnung zu einem Wettbewerb auf, für den Architekten bis zum 1. September 1956 ihre Typenprojekte für Wohnbauten, Schulen und Krankenhäuser einreichen sollten. Das beim Ministerrat angesiedelte Staatskomitee für das Bauen erhielt den Auftrag, binnen zwei Monaten einen Vorschlag zur Bildung eines Instituts für Typung zu erarbeiten. Die Bildungseinrichtungen wurden aufgefordert, Lehrpläne für Architekten, Bauingenieure und sonstige Fachkräfte auf die Industrialisierung auszurichten.

Mit der Abschlussrede beim Baukongress und der daraus abgeleiteten Verordnung vom November 1955 waren die Weichen für eine grundlegende Transformation der sowjetischen Bauindustrie gestellt. Möglicherweise hätte Chruschtschow nur wenig Erfolg gehabt, wäre die neue Bautechnologie in Moskau nicht schon erfolgreich eingesetzt worden.

Eine Schlüsselfigur war Witalij Lagutenko. Nachdem er im Jahr 1947 noch unter Stalin zum Direktor des Büros für experimentellen Industriebau ernannt worden war, ließ Lagutenko gemeinsam mit Michail Posochin und Aschot Mndojanz in der Uliza Sorge und der Uliza Kuusinena einen im Grundriss H-förmigen Wohnblock errichten. Die Konstruktion sah ein Stahlbetonskelett vor, das mit Großtafeln ausgefüllt wurde. Vier weitere Bauten dieser Art folgten in der Nachbarschaft, ab 1949 versuchsweise auch in anderen Städten.

Der Testbau entstand in sechs Monaten

Es handelte sich immer noch um eine experimentelle Bauweise. Denn weder die Produktionsmethoden noch die Erstellungsgeschwindigkeit entsprachen den Bedürfnissen eines industriell vorzufertigenden Masseneinsatzes. Ein weiterer Versuchsbau entstand ab 1951 weiter nördlich am Ploschtschad Peschanaja. Neu war, dass es sich nicht mehr um ein Einzelgebäude, sondern um einen Block handelte. Die typischen Siebengeschosser entstanden in rekordverdächtigen fünf bis sechs Monaten unter Einsatz einer neuen Methode: Zeitversetzt wurden die einzelnen Bauabschnitte begonnen, um die Maschinen und Arbeiter nach Abschluss ihrer Spezialarbeiten wie etwa Fundament und Rohbaumontage direkt im nächsten Bauabschnitt einsetzen zu können. Durch den Verzicht auf feuchte Putzarbeiten, die bei herkömmlichen Bauvorhaben mindestens zwei Monate in Anspruch nahmen, kamen innen Trockenbauwände und außen Sichtmauerwerk zur Ausführung. In Sachen Wohnkomfort handelte es sich um Stalin-Bauten. Es waren die letzten ihrer Art.

Als Chruschtschow am 25. Februar 1956 seine berühmte Geheimrede hielt, löste seine Abrechnung mit Stalins Personenkult Entsetzen und Verwirrung aus. Seine zuvor geäußerte Kritik war – im Fall der Baupolitik – nur an ehemalige Gefolgsleute Stalins gerichtet gewesen. Diese erste Enthüllung der Verbrechen des Diktators an seinem Volk leitete eine Welle der Entstalinisierung ein, die nach der Sowjetunion auch alle anderen sozialistischen Staaten erfasste. Eine Aufarbeitung wie bei der Entnazifizierung Deutschlands nach 1945 fand jedoch nicht statt, die Sowjetunion blieb eine Diktatur mit Nachwehen bis in die heutige Zeit.

Nikita Chruschtschows Aufstieg an die Spitze der Macht war jetzt nicht mehr aufzuhalten. Am 27. März 1958 übernahm der Parteivorsitzende zusätzlich den Posten des Regierungschefs. Die Baupolitik war von nun an ganz auf Industrialisierung ausgerichtet.

Die ersten fünfgeschossigen Wohnzeilen in Plattenbauweise – später als „Chruschtschowka“ bekannt (siehe Artikel unten) – wurden im gleichen Jahr im Moskauer Stadtteil Nowye Tscherjomuschki bezugsfertig. Ein landesweites Vorzeigeobjekt. Charakteristisch für den Bautypus war die Gruppierung von zwei bis vier Wohnungen um ein zentral gelegenes doppelläufiges Treppenhaus mit Zwischenpodest. Laut Vorgabe musste der größte Raum, das Wohnzimmer, mindestens 14 Quadratmeter messen. Ein Schlafzimmer für zwei Personen maß acht Quadratmeter.

Zwar gab es abgewandelte Varianten, zum Beispiel in den südlichen Regionen der UdSSR. Im Prinzip wurde in den folgenden Jahrzehnten jedoch die ganze Sowjetunion mit einem Netz ähnlicher Fünfgeschosser überzogen – von Leningrad im Norden bis Eriwan im Süden, von Kaliningrad im Westen bis Wladiwostok im Osten.

Philipp Meuser

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