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Große Audienz. Kurfürst Friedrich Wilhelm begrüßt französische Flüchtlinge in Potsdam (Gemälde von Hugo Vogel).

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Migration im 17. Jahrhundert: Réfugiés welcome: Was die Hugenotten nach Berlin brachte

Die Hugenotten flohen aus ihrer Heimat, um 1700 war jeder vierte Berliner Franzose. Sie wurden freundlich empfangen – bis es ums Geld ging. Da murrte das Volk.

Von Andreas Austilat

Das Leid des Jean Migault begann am Dienstag, den 22. August 1681. Soldaten ritten in sein Heimatdorf im Westen Frankreichs. Sie forderten den Lehrer Migault auf, ihnen Unterkunft und Verpflegung zu gewähren. Von allem nur das Beste, wie er in seinen Memoiren schreibt.

Die Reiter taten das bei jedem Protestanten im Dorf, die sie die Hugenotten nannten. Dann wollten sie Geld, schlugen Migaults schwangere Frau, zertrümmerten Fenster und Möbel. „Den Rest, zusammen mit unseren Betten, unseren Tellern, unseren Pfannen und unseren Kleidern“, brachten sie zu einem Nachbarn, der gerade erst zum katholischen Glauben übergetreten war, und „der alles für ein wenig Wein kaufte“.

Es gibt nur sehr wenige authentische Berichte vom Unglück der Hugenotten. Doch das Journal des Jean Migault steht stellvertretend für viele andere. Denn was als Willkür begann, wurde 1685 in Fontainebleau vom französischen König offiziell verkündet: Das Ende der Religionsfreiheit. Wer dem protestantischen Glauben nicht abschwor, verlor seine Rechte. Hunderttausende entschlossen sich da zur Flucht. Ein schwieriges Unterfangen, Frankreichs Grenzen wurden inzwischen überwacht. Viele mussten sich wie die Migaults in die Hände von Schleppern begeben, eine gefährliche Reise in überfüllten Booten wagen, die sie viel Geld kostete und die Familie trennte.

Überall in Berlin hörte man französische Sprache

Die Migaults hatten Deutschland als Ziel, Berlin erreichten sie anders als viele Hugenotten nie. Dabei sprach einiges dafür: 1685 war auch der Beginn eines Kapitels brandenburgisch-preußischer Geschichte, die in der Überlieferung gern als Sternstunde preußischer Toleranz bezeichnet wird. Gerade zwei Wochen nachdem Frankreichs Sonnenkönig seinen protestantischen Untertanen alle Rechte nahm, verkündete Brandenburgs Kurfürst das Edikt von Potsdam, hieß die Flüchtlinge damit willkommen.

Ein Reisender beschrieb 1686 Berlin als „angefüllt mit Franzosen“. Überall hörte man ihre Sprache, wobei heute nicht mehr zu sagen ist, ob es nun die Hugenotten waren, die etwa die Boulette mitbrachten, oder napoleonische Soldaten 100 Jahre später. Trotzdem ist unstrittig, dass französische Redewendungen in Berliner Ausdrücke wie etepetete oder Bredullje einflossen.

Manchmal standen sie gleichberechtigt neben dem bekannten Wort, etwa in der Retourkutsche, manchmal ist die Herkunft nicht mehr zu erkennen, wie beim unterwürfigen kuschen, das von „coucher“ für sich niederlegen stammt. Und schon bald sagte niemand mehr Stampfkartoffeln, klang doch Kartoffelpüree irgendwie delikater.

Die Willkommenskultur gefiel nicht jedem

Übertragen auf heutige Verhältnisse kamen die Hugenotten in Scharen. Unter ihnen noch immer bekannte Namen wie etwa die de Maizières, die aus dem französischen Metz flohen. Auch wenn es nur etwa 20 000 waren, die zwischen 1680 und 1710 ihr Glück in Brandenburg suchten und von denen sich an die 6000 nach Berlin wandten, machten die Réfugiés, wie sie sich selber nannten, bald ein Viertel der Stadtbevölkerung aus.

Die Entwicklung passte freilich nicht jedem. Schon 1689 hieß es in einer anonymen Druckschrift: „Die deutsche Sprach’ kommt ab, ein’ andre schleicht sich ein. Wer nicht französisch redt, der muss ein simpel sein.“ Tatsächlich regte sich gegen die Einwanderung schon bald Protest, der sich keineswegs nur scheinbar spaßig äußerte.

Brandenburg musste in jenem Jahrhundert einen 30 Jahre langen Krieg überstehen, der das Land verwüstete. Noch in den 1670ern, beinahe 30 weitere Jahre nach diesem Krieg, fiel die Bilanz niederschmetternd aus. Als Kurfürstliche Landreiter ausgeschickt wurden, zu melden, wie es um die Dörfer in Brandenburg bestellt ist, fanden sie in der Prignitz beinahe jedes dritte verlassen vor, im Ruppiner Land waren es 37 Prozent, in der Uckermark, die noch lange unter schwedischer Besatzung gelitten hatte, gar 70 Prozent.

Das Potsdamer Edikt war ein Erfolg

Der Frannzösische Dom auf dem Gendarmenmarkt wurde zwischen 1701 und 1705 für die Hugenotten errichtet.
Der Frannzösische Dom auf dem Gendarmenmarkt wurde zwischen 1701 und 1705 für die Hugenotten errichtet.

© imago/Hoch Zwei Stock/Angerer

Auch in Berlin sah es nicht besser aus. Von 1209 Häusern standen 350 leer. Schweine liefen über ungepflasterte Straßen, an deren Rändern oft nur ein- oder zweigeschossige Häuser standen. Und damit sich nachts nicht vollkommene Dunkelheit über die verwinkelten Gassen legte, wurde verfügt, wenigstens jedes dritte Haus habe draußen eine Laterne anzubringen.

Seine Berater rieten dem brandenburgischen Kurfürsten, sich dringend um neue Bürger zu bemühen. Weshalb Friedrich Wilhelm den Hugenotten nicht nur Sicherheit versprach.

Er kündigte in seinem Edikt Subventionen an, für jene, die hier ein Gewerbe gründen wollten. Steuern und Zölle sollten erlassen werden. Die Hugenotten würden ihre eigenen Schulen haben – tatsächlich geht die Gründung des heute noch in der Derfflingerstraße in Tiergarten existierenden französischen Gymnasiums auf das Jahr 1689 zurück. Und ihre eigenen Kirchen, bis heute werden in der französischen Kirche auf dem Gendarmenmarkt Gottesdienste abgehalten.

Auch andere deutsche Landesherren warben mit Vergünstigungen, ebenso England, die Niederlande und Dänemark. Den Hugenotten eilte der Ruf voraus, tüchtig und innovativ zu sein. Ihre Sprache war das bevorzugte Idiom der europäischen Eliten, ihre Produkte à la mode.

Mindestens 200 000 Hugenotten verließen ihre Heimat, 40 000 wandten sich Deutschland zu, die Hälfte von ihnen ging ins ärmliche Brandenburg, das einem Franzosen kaum attraktiv erscheinen konnte. Das Potsdamer Edikt war ein Erfolg.

Réfugié zu sein war bei Hofe ein Karrierevorteil

Tatsächlich hielten Gewerbe wie die Strumpfwirkerei und die Seidenspinnerei in Berlin Einzug. Auch wenn die ersten dieser Unternehmen scheiterten, zu klein war anfangs die Zahl der potenziellen Kunden, trugen sie zum Aufschwung der sich langsam erholenden Stadt bei.

Réfugié zu sein war bei Hofe durchaus ein Karrierevorteil, sagt Robert Violet, heute Leiter des Hugenottenmuseums am Gendarmenmarkt. Die Hohenzollern teilten den gleichen, calvinistisch reformierten Glauben, im Unterschied zu ihrem mehrheitlich der lutherischen Kirche zugeneigten Volk. Die Hugenotten stellten bald einen erheblichen Anteil am noch jungen preußischen Beamtenapparat, saßen in den sich gerade erst gründenden Akademien der Wissenschaft und der Künste. Violets Vorfahren kamen übrigens vor elf Generationen aus dem französischen Metz über den Umweg Schweiz nach Berlin.

Bald neidete man den Neuen ihre Privilegien

Brandenburger und Berliner zeigten sich zunächst mitleidig. Doch schon die vom Kurfürsten erhobene Kollekte zugunsten der Flüchtlinge stieß auf Widerstand. Bald neidete man den Neuen ihre Privilegien. Über Jahrhunderte wurde die Integration der Hugenotten als beispielhaft gerühmt, seit 30 Jahren ist die Geschichtsschreibung dabei, diese Überlieferung kritisch zu hinterfragen. Denn tatsächlich gab es Fälle von Brandstiftung und eingeschlagenen Fenstern bei den neuen Nachbarn. Und während etwa die alte Friedrichswerdersche Kirche von beiden Glaubensrichtungen genutzt wurde – zur Eröffnung 1701 wurden zwei Feiern abgehalten, eine auf Französisch, eine auf Deutsch –, wiesen mancherorts lutherische Pfarrer ihren französisch reformierten Kollegen die Tür.

Umgekehrt blieben die Hugenotten ebenfalls lange lieber unter sich. Sie konzentrierten sich in den damaligen Neubaugebieten. In der Friedrichstadt rund um die Französische Straße lag der Hugenottenanteil bei 37 Prozent. Und die Einwanderer aus Orange hatten ihren Mittelpunkt in der Französischen Luisenstadtkirche, heute ist dort ein Parkplatz der Bundesdruckerei. Die nicht weit entfernte Oranienstraße verdankt ihren Namen wohl den Neubürgern aus Orange.

Noch in der dritten Generation heirateten die französischen Einwanderer bevorzugt unter sich. Nur jeder Fünfte suchte seinen Partner außerhalb der Gemeinde. Von dieser Enkelgeneration schreibt ein Chronist, dass sie oft bis ins hohe Alter, etwa 100 Jahre nach der Einwanderungswelle, das Deutsche nur schlecht beherrsche.

Auch in Robert Violets Familie dauerte es lang bis zur vollständigen Integration. Er erzählt, seine Ururgroßmutter, die 1902 starb, soll noch stolz darauf gewesen sein, dass sie ausschließlich Nachkommen von Réfugiés unter ihren Vorfahren hatte.

Der eingangs erwähnte Jean Migault schaffte es übrigens in einen sicheren Hafen. Seine Odyssee endete in Emden, wo er 1703 sein Journal schrieb.

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