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Menschen lassen sich relativ schnell durch alternative Fakten manipulieren, obwohl sie objektiv nicht stimmen.

© imago/Frank Sorge

Maris Hubschmid traut sich was: Wie ich mit gefühlten Wahrheiten Menschen für mich einnehme

Fünf Minuten, ein paar vermeintliche Beweise und schon hat unsere Autorin zwei neue Fans.

Von Maris Hubschmid

Sehen Sie, rufe ich triumphierend, ich habe doch Buch geführt! Das ist der Moment, den Stapel Din-A4- Blätter hervorzuziehen, die ich vorbereitet habe. Darauf: Kreise, Kreise und noch mehr Kreise, unsauber, inakkurat, ungleich. „Hier am Rand stehen die Daten, dieser ist von August letzten Jahres“, erkläre ich den beiden Männern, die sich mit mir darüber beugen, „der da von Januar 2011, aber gucken Sie erst den an, Moment“ – ich blättere aufgeregt – „...von Oktober 2005!“

„Sie haben die gemessen?“, fragt die Frau hinter dem Tresen ungläubig. „Abgemalt, also, drumrumgezeichnet, so“, sage ich, wickele den Cheeseburger aus, den sie mir aufs Tablett gelegt hat, und ziehe mit einem Wachsmalstift einen wackeligen Kreis darum herum. „Ich hab das ja auch schon oft gedacht, dass die immer kleiner werden“, sagt ein dicker Mann mit Schnauzer. Und ein junger Glatzkopf nickt anerkennend: „Die wollen einen verschaukeln, aber damit rechnen die nicht, dass jemand das dokumentiert.“ Fünf Minuten, ein paar vermeintliche Beweise und eine gefühlte Wahrheit, schon habe ich zwei neue Fans. So langsam läuft es.

Wenn man mit alternativen Fakten Präsident des mächtigsten Landes der Welt werden kann, habe ich mir überlegt, lohnt sich der Versuch, wie schnell ich selber Menschen mit gefühlten Wahrheiten für mich einnehmen kann. Vor dem Postschalter lege ich los: „Wir haben nicht ewig Zeit“, beklagt sich ein Kunde. „Die Jahre vergehen ja auch immer schneller“, sage ich laut und finde mich albern dabei. Müde Blicke hier und da. „Das ist wahr, es hat mit gravitativen Schwingungen zu tun, wegen derer sich die Erde schneller dreht“, schiebe ich wacker nach. Das Schweigen könnte nicht eindeutiger sein. Die Umstehenden halten mich offenbar für geisteskrank. Vielleicht das falsche Thema? Nicht überzeugend argumentiert? Der falsche Ort auf jeden Fall, denn ich muss noch lange anstehen und fühle mich unangenehm exponiert.

"Die guten Männer sind alle schon vergeben"

In einer anderen Schlange ist mir dagegen mit einfachsten Mitteln ein großer Publikumserfolg vergönnt. Nichts bewegt sich vor der Supermarktkasse, weil die neue Mitarbeiterin etwas falsch eingegeben hat. Eine Frau vor mir, um die 50, rosa Steppjacke, seufzt hörbar. „Sie haben aber auch Pech, oder?“, frage ich sie. „Sie stehen doch immer in der falschen Schlange? Letzte Woche, als das Kartenlesegerät kaputt ging und davor, als der Herr ewig über die angebrochene Packung Schnittkäse verhandeln wollte?“ Ich habe die Frau noch nie gesehen. Sie mustert mich kurz, dann sprudelt es nur so aus ihr heraus: „Ja, ich ziehe sowas wirklich an, schön, dass das mal jemandem auffällt. Gestern ging es rechts gar nicht voran, heute dachte ich: Gehst du hier rüber, aber Sie sehen ja selbst!“ „Ich glaube, Sie trifft es auch besonders oft“, sage ich einem aufmerksamen Zuhörer, dem ein Kind vor die Brust geschnallt ist. „Wollte ich gerade sagen“, platzt er hervor, „die Hälfte meiner Elternzeit stehe ich hier an“. „Immerhin lernt man so nette Menschen kennen“, sagt die Dame in rosa und schenkt mir ein herzliches Lächeln.

Am Tag nach meinem McDonalds-Feldzug, ich fühle mich ganz auf Erfolgskurs, klagt mir eine Freundin, die seit langem ohne Beziehung ist, ihr Leid über die Männersuche. „Die guten Männer sind alle schon vergeben“, sage ich entschieden, „guck dich doch um: Gebildete, gut aussehende Singles gibt es nicht!“ Auf einmal füllen sich ihre Augen mit Tränen. „Wann bist Du eigentlich so unsensibel geworden?“, fragt sie mich. Es braucht viele Worte und anderthalb Flaschen Rotwein, die Freundschaft wieder great again zu machen.

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