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Als die Deutsche Bahn ihr „Kundenaufrufsystem“ einführte, feierte der Konzern es als Errungenschaft.

© imago/ecomedia/Robert Fishman

Kolumne: Maris Hubschmid traut sich was: Und wenn ich mich einfach vordrängle?

Sonntagabend im Reisezentrum in Berlin, ich will die mir zustehende Entschädigung holen. Meine Wartenummer: N1665.

Von Maris Hubschmid

Warten Sie, rufe ich dem Fremden im Hauptbahnhof hinterher und haste ihm nach. „Kann ich Ihre Nummer haben?“ Der Mann, Platte, Bauch, mustert mich überrascht. „Die Wartenummer“, füge ich peinlich berührt hinzu. „Oh, natürlich.“

Tags zuvor war ich mit dem ICE von Berlin nach Hannover gefahren. Kaum rollten wir, kam die Durchsage: „Dieser Zug wird umgeleitet, hält heute nicht in Wolfsburg.“ Die Gesichtszüge der mitreisenden Dortmundfans auf dem Weg zum Auftaktspiel entgleisten. Auch Tausenden anderen zerstörten Umleitungen und Ausfälle an dem Wochenende die Pläne. Ich erreichte mein Ziel fast zwei Stunden verspätet. Idioten hatten vandaliert – und uns das Kostbarste geraubt: Zeit.

Entsprechend überlaufen ist am Sonntagabend das Reisezentrum in Berlin. Ich hasse es, Formulare auszufüllen, will die mir zustehende Entschädigung holen, ehe ich es vergesse. Die Wartenummer, die ich ziehe, ist die N1665 – auf der Tafel steht N1585.

Als die Deutsche Bahn ihr „Kundenaufrufsystem“ einführte, feierte der Konzern es als Errungenschaft. Reisende müssten nicht mehr Schlange stehen, sie dürften auf roten Polsterbänken entspannen. „Wartezeiten werden verkürzt.“ Deshalb sind jetzt von den sieben geöffneten Schaltern nur zwei besucht.

Wir alle sind gefangen

Nun blinkt N1586. Nichts passiert. Jede Zahlenfolge, die folgenlos bleibt, steht für einen Menschen, der aufgegeben hat. Es vorzieht, bei seiner Familie zu sein. Ein kühles Bier zu genießen.

Die Hiergebliebenen harren aus. Denken: Nun ruft doch den Nächsten auf. Aber es scheint eine Regel zu geben – die Nummer muss eine Weile angezeigt werden, damit der Besitzer die Chance hat, sie zu sehen. Als würde nicht jedes Aufleuchten von einem „Dingdong“ begleitet, jeder Blick am Bildschirm kleben. Männer, die auf Ziffern starren. Frauen, die Beschwörungsformeln flüstern. Eine Mutter mit Kopftuch versucht, vier Kinder zu beruhigen. Als der Bauchige die Geduld verliert, warte ich schon 20 Minuten. Dank ihm mache ich 21 Plätze wett. Meine Marke verschenke ich weiter.

Volle 30 Minuten sind um, als mir auffällt: Die Angestellten legen den Schnipsel, den man ihnen gibt, beiseite, sehen allenfalls flüchtig drauf. Die meisten nehmen von der Nummer keine Notiz.

Und wenn ich einfach hingehe? Meinen Zettel überreiche, als wär’s das große Los? Aber das wäre ja – Betrug. Vor allem an denen, die länger warten. Der Mutter, die nun auf- und abgeht mit dem weinenden Baby. Wenn ich jetzt kapituliere, war die Zeit wirklich vertan. Wir alle sind gefangen in einer Gewinn- und Verlustrechnung, die stets zu unseren Ungunsten ausgeht.

Zittert meine Hand?

Ob es ein Straftatbestand wäre? Schlimm genug, wenn man mich vor aller Augen entlarvte. Würden sie schimpfen? Vielleicht bekäme ich Hausverbot. Endlich wechseln die Hunderter. Da schießt mir durch den Kopf: Wenn bei der N1604 keiner reagiert, wäre es nur eine falsche Ziffer. Ich habe die N1634 übernommen. Kann behaupten, mich verguckt zu haben. Da ist sie. Keiner zuckt.

Ich erhebe mich. Die Mutter denkt, ich gehe, will meine Nummer. Ich schüttele den Kopf, strebe gen Schalter drei. Zittert meine Hand? Mein Herz klopft. Die Angestellte legt die Marke unbesehen weg. „Also?“, fragt sie. Es wird eine lange Verhandlung, weil sie das falsche Datum eingibt, keine Verspätung finden kann. Einmal sehe ich zurück auf die Wartenden. Ich stehle ihnen das Kostbarste: Zeit. Ich fühle mich schlecht. Aber verdammt clever. Und gehe mit dem Gefühl davon, ich hätte Zeit gewonnen.

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