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Istanbul: Hatice and the City

Unsere Autorin zieht für Monate nach Istanbul und staunt. Die Frauen dort sind selbstbewusst, erfolgreich und oft alleinerziehend. Atatürk hätte seine Freude an ihnen.

Mir scheint in Istanbul jede zweite Frau alleinerziehend zu sein. Dabei hatte ich immer davon geschwärmt, wie robust türkische Ehen seien. Ich hatte meine Eltern, Tanten und Onkel vor Augen. Alle seit Jahrzehnten verheiratet. Aber auch in der Türkei muss das traditionelle Familienmodell dem Fortschritt, der steigenden Produktivität, der Flexibilisierung aller Lebensbereiche weichen. Dennoch ist man hier weniger allein. Zumeist trifft man sich in einer großen Gruppe von Freunden. Dass man wie in Berlin mit einem Freund ins Kino oder mit einer Freundin in eine Bar geht, kommt hier kaum vor. In Istanbul schlägt eine Freundin einer anderen ein Treffen vor. Die ruft dann die nächste an, und so werden die Frauen in einer Art Kettenreaktion eingeladen. Zum Frühstück, zu einer Ausstellung, zum Kinoabend oder einfach zum Abendessen bei einer von ihnen zu Hause. Selbstverständlich bringt jede etwas mit, und am Ende sitzen zehn Frauen meist auch mit ihren Kindern an einem Tisch, der unter der Last der vielen Speisen und Getränke zusammenzubrechen droht. Ob man sich kennt oder nicht, jeder ist am Tisch willkommen.

Heute bin auch ich in solch einer Runde zu Gast. Nesrin hatte mich gefragt, ob ich ihre Freundinnen kennenlernen möchte. Als ich von Nesrin ins Wohnzimmer geschoben werde, streitet sich die lustige Runde gerade lauthals über die richtige Taktik, wie man Männern Untreue nachweisen kann. Kaum stehe ich im Raum, hat mich die Erste schon an ihr Herz gedrückt. Die Zweite rückt einen Stuhl zurecht, die Dritte nimmt mir die Jacke ab, die Vierte zieht mich zum Tisch, und die Gastgeberin füllt meinen Teller. Sie heißt Renan und ist die, die die Masseurin Eda empfohlen hat. Nesrin und ich überreichen ihr als Gastgeschenk würzige Kekse.

Dann geht es weiter mit der Untreue.

Das Gespräch handelt von einer stadtbekannten Friseurin. Sie ist bei den Istanbuler Ehemännern äußerst beliebt. Irgendwann wunderten sich die Frauen allerdings, warum ihre Männer so oft zum Friseur gingen. Sie wählten eine unter ihnen aus, die herausfinden sollte, was der Grund für die plötzliche Liebe ihrer Männer zu professioneller Haarpflege sein könnte. Sie ließ sich einen Termin im besagten Salon geben, und schnell wurde klar, warum es auch Männer mit schütterem Haupthaar regelmäßig dorthin zog. Die Friseurin betreibt ein neuartiges Geschäftsmodell. Sie kümmert sich immer exklusiv nur um einen einzigen Kunden. Sobald dieser es sich in einem ihrer kuscheligen Sitze gemütlich gemacht hat, schließt sie die Ladentür ab, damit niemand stören kann. Eine Exklusivbehandlung dauert 90 Minuten und kostet ein Vermögen.

„Vielleicht kann Sibel ein Praktikum bei ihr machen?“, schlägt eine vor.

„Ich kann mit meinem Landrover in ihre Auslage fahren. Wir sind gut versichert“, sagt Renan. Alle lachen, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob Renan das als Scherz gemeint hat. In ihren Augen blitzt die Entschlossenheit einer eifersüchtigen türkischen Frau.

Das Gespräch hat die Frauen hungrig gemacht. Gerade die, die momentan keinen Mann haben, haben sich köstlich amüsiert. Die „unbemannten“ Frauen werden hier aber nicht als frustrierte und gestresste Single-Frauen abgestempelt. Mich überrascht, wie lässig die alleinerziehenden türkischen Frauen Berufsleben und Kinder unter einen Hut bekommen. Und das, obwohl die Türkei ganz bestimmt kein Vorbild in Sachen Kinderbetreuung ist. Hier gibt es kaum öffentliche Kindergartenplätze. Auch scheinen einige von ihnen erst durch die Trennung von ihrem Mann gewachsen zu sein. Sie blühen richtig auf, haben gut bezahlte Jobs oder haben sich erfolgreich selbstständig gemacht. Obwohl ich zugeben muss, dass diese Frauen nicht repräsentativ für alle anderen in der Türkei sind. Sie gehören zu einer privilegierten Gruppe. Aber wenn man es genau betrachtet, entspricht die steigende Scheidungsrate genau der steigenden Wirtschaftskurve in Istanbul. Die alleinerziehenden Frauen sind die wahren Motoren des türkischen Wirtschaftswunders.

Die Frauen, die ich bisher kennengelernt habe, sind umwerfend. Und ich begreife langsam, warum es ihnen so gut geht: Sie haben ihre Erwartungen bezüglich der Männer an die Realität angepasst. Oder um es mit ihren Worten zu sagen: „Männer orientieren sich nach unten, Frauen nach oben.“

Dem simplen Durchschnittsmann sind diese selbstbewussten Geschöpfe zu selbstständig, zu anspruchsvoll und zu anstrengend geworden. Und für diese Damen hat das Standardmodell Mann einfach zu wenig Esprit, Charme und Leidenschaft. Kompromisse sind sie nicht mehr bereit einzugehen, sie leben nach dem Motto: „Lieber allein als zu zweit einsam.“ Eine Strategie, die ich mir hinter die Ohren tätowieren lassen sollte.

Einen kleinen Systemfehler hat das perfekte Leben meiner „Housewives“ aber dennoch. Diese Frauen vergöttern ihre Söhne. Ihnen gegenüber verhalten sie sich alles andere als souverän. Sie nehmen ihren Kronprinzen alles ab. Ich befürchte, sie verziehen ihre Söhne mit ihrer türkischen Mutterliebe derart, dass diese zu einer Generation unsicherer Männer heranwachsen.

Beim Abräumen klackern wir mit unseren Absätzen über die Küchenfliesen als moderne Rhythmusgruppe, die den Gesang des Muezzins begleitet, der im Hintergrund zum Abendgebet ruft. Das also sind die modernen Türkinnen, denke ich. Diese Frauen unterscheiden sich nur in einem Punkt von deutschen Frauen: Sie lösen Probleme, die zu lösen sind, geben unlösbaren Herausforderungen aber niemals so viel Bedeutung, dass sie ihr Leben dominieren.

Man muss diese türkischen Frauen einfach sexy finden, auch wenn ihre Diäten ähnlich erfolglos enden wie meine. Das sind Pfundsweiber, manche im wahrsten Sinne des Wortes. Diese Frauen gibt es überall. Auch wenn sie in New York, London oder Berlin vielleicht anders aussehen, weniger Goldschmuck tragen und die Augenbrauen anders geschwungen sind. Alle diese erfolgreichen Frauen haben ein sicheres Einkommen. Sie entscheiden selbstständig über ihr Leben, sie gehen die ganze Nacht aus, ohne dass ihnen irgendjemand etwas verbieten könnte. Sie nehmen sich, was sie wollen.

„Nicht zögern, handeln“, schreibe ich mir als nächste Lektion in mein kleines Büchlein.

Die milde Auflehnung der emanzipierten Frauen

Der Lebensstil dieser starken, emanzipierten Frauen ist eine milde Auflehnung gegen die immer sichtbarer werdende Religiosität in Istanbul – Restaurants, die stolz darauf sind, keinen Alkohol auszuschenken, und immer mehr Baustellen, wo neue Moscheen entstehen. Ihre kleinen Freiheiten sind keine Revolution, kein wutschnaubender Kampf um Gleichberechtigung. Den Kern der traditionellen Lebensweise, in der die Familie als Ort der Geborgenheit hochgehalten wird, haben sie sogar mit großer Überzeugung übernommen. Nur, dass sie es nicht mehr als altmodisches Modell Vater-Mutter-Kind ausleben, sondern als Mutter-Kind-Freundinnen- Variante. Mustafa Kemal, besser bekannt als Atatürk, der Begründer der modernen Türkei, hätte seine wahre Freude daran, wie Nesrin, Pelin, Renan und die anderen Frauen seine Reformen mit Leben erfüllen. Im Mausoleum Atatürks hängt eine Tafel, auf der steht: „Wenn Männer und Frauen nicht gemeinsam für ein Ziel marschieren, sind die wissenschaftlichen und technischen Voraussetzungen für eine moderne Zivilisation nicht geschaffen.“ Und von Nesrin lerne ich noch ein weiteres Atatürk-Zitat: „Eine Gesellschaft besteht aus Männern und Frauen. Wie kann es dann sein, dass der eine Teil in Ketten am Boden gehalten wird und der andere in den Himmel ragen darf?“

Diese Frauen, die ich in Istanbul kennenlerne, stehen mit beiden Füßen fest auf dem Boden und gehen mit erhobenem Haupt durch das Leben. Meine neuen Freundinnen wären in vielerlei Hinsicht ein Gewinn für meine alte deutsche Heimat. Und die Islamisierung der Gesellschaft wird in Istanbul nicht gelingen, solange diese Frauen ein Gegengewicht bilden. Der gesellschaftliche Fortschritt und die Notwendigkeit der Berufstätigkeit der Frau einerseits, das expandierende Bildungswesen und die starke Zunahme von weiblichen Akademikerinnen auf der anderen Seite, haben zu mehr Selbstbestimmung und Spielräumen innerhalb der Gesellschaft geführt. Im Alltag bedeutet das, dass die Frauen, natürlich nicht im ganzen Land, an gesellschaftlicher Teilhabe gewonnen haben. Sie werden vor allem ihren Töchtern keinen Weg zurück in die Unmündigkeit erlauben.

Unser Frauenabend endet ruhiger, als er angefangen hat. Wir sitzen im Wohnzimmer, die Terrassentür steht weit offen, und es weht ein kühlerer Nachtwind herein. Zwei Frauen haben sich schon verabschiedet, um ihre Kinder ins Bett zu bringen. Die Gespräche plätschern unaufgeregt vor sich hin.

„Mädels, kommt, wir gehen noch ins Lucca“, schlägt Pelin vor. Ein stadtbekanntes Café in Bebek, in dem die Prominenz der Stadt zu Hause ist. Wir mischen uns unter sie, an jedem zweiten Tisch sitzen bekannte Schauspieler. Sie spielen allesamt in den unzähligen türkischen Soaps mit, die von morgens bis abends auf den Privatsendern laufen. Während die anderen Frauen über ein Starlett lästern, deren Rock nicht mehr als ein breiter Ledergürtel ist, nippe ich zufrieden an meinem schlechten Kaffee. Ich habe mich lange nicht so wohlgefühlt. Wenn ich in die Gesichter um mich herum sehe, merke ich: Ich falle nicht auf. Ich bin nicht die Quotentürkin, sondern eine Türkin unter vielen. Ohne Kopftuch und Bildungsnöte. Dafür gestylt, selbstbewusst und modern.

Was ich heute Abend auch entdecke, ist, dass man in dieser Stadt kein Date mit einem Mann braucht. Diese Stadt ist das Date. Diese Stadt lässt einen niemals im Stich. Die Stadt ist für die Frauen, mit denen ich hier nun lebe, ein Versprechen auf ein erfülltes Leben.

Der Text ist ein stark gekürztes Kapitel aus Hatice Akyüns Buch „Ich küss dich, Kismet. Eine Deutsche am Bosporus“, das am kommenden Dienstag erscheint (Verlag Kiepenheuer & Witsch, 240 Seiten, 14,99 Euro).

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