zum Hauptinhalt
Blick in den Verhandlungssaal der Nürnberger-Prozesse (Archivbild von 1945). Am 20. November 1945 fand die Eröffnungssitzung des Internationalen Militärgerichts in Nürnberg statt. Bei den Prozessen saßen von 1945 bis 1946 führende Vertreter des NS-Regimes auf der Anklagebank. Dem größten Prozess um die Hauptkriegsverbrecher folgten bis 1949 zwölf weitere.

© dpa

Interview zu 70 Jahren Nürnberger Prozesse: „Es gibt keine App für Gerechtigkeit“

Hutus in Ruanda bedrohten William Schabas, als er ein Massengrab entdeckte. Sein Onkel verhaftete einen Nazi. Wie man heute Kriegsverbrecher vor Gericht bringt. Ein Interview.

Von
  • Julia Prosinger
  • Andreas Austilat

William Schabas, 64, ist einer der renommiertesten Völkerrechtler – mit den Spezialgebieten Todesstrafe und Genozid. Die großen Strafgerichte der Welt zitieren seine Gutachten. Der Kanadier lehrt in London und im holländischen Leiden. Ein Gespräch zum Beginn der Nürnberger Prozesse vor 70 Jahren

Professor Schabas, was macht die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse nach 1945 so bedeutsam?

Nürnberg ist die Geburtsstunde des Völkerstrafrechts. Seitdem gibt es den Anspruch, die Verantwortlichen am Ende eines gewaltsamen Konflikts nicht mehr einfach so hinzurichten oder sie ins Exil zu schicken. Man macht ihnen den Prozess.

Ein Prinzip, das ein halbes Jahrhundert im Winterschlaf lag.

Es wurde erst nach dem Kalten Krieg wiederbelebt. Aber dann ist es gigantisch geworden. In den vergangenen 20 Jahren haben die UN etwa zehn Prozent ihres Budgets für die Verfahren an den Tribunalen für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda ausgegeben. Hinzu kommt der permanente Internationale Strafgerichtshof, der IStGH, der etwa 100 Millionen Dollar jährlich kostet. Nürnberg war der Anfang einer riesigen Investition.

Das Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher und seine Folgeverfahren wurden oft als Siegerjustiz bezeichnet – nicht nur von den besiegten Deutschen.

Manche sagen Nürnberg sei prozessrechtlich nicht fair gewesen, aber alle Angeklagten hatten Verteidiger, sogar Martin Bormann, der Chef der NSDAP-Kanzlei, der nicht anwesend war. Wir blicken von heute auf Nürnberg, und ja, damals waren die aktuellen Standards nicht immer erfüllt. Das gilt auch für jeden anderen Prozess aus der Zeit. Das Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher dauerte nur zehn Monate. Die Richter wollten oft keine Beweise sehen, heute würden sie immer wieder anhalten, wären quälend langsam – wie die Prozesse in Den Haag es auch sind.

William Schabas, Experte für Völkerrecht
William Schabas, Experte für Völkerrecht

© Andy Sotiriou

Dennoch wurde nur eine Seite vor Gericht gestellt.

Ich halte wenig von der Theorie, nach der man alle Seiten eines Konflikts gleichermaßen strafverfolgen muss. Was hätten sie 1945 machen sollen? Ein zweites Verfahren mit 24 britischen Kriegsverbrechern? Ein weiteres mit 24 amerikanischen? Eines mit 24 sowjetischen – wäre das fair gewesen? Die Auswahl wird immer politisch sein. Wir sehen das beim IStGH, wo die Chefankläger in Uganda gegen die „Lords Resistance Army“ ermitteln, nicht gegen die Pro-Regierungskräfte. Es ist ein Bestandteil von internationaler Strafjustiz.

Kennt die Geschichte keine anderen Beispiele?

Erstaunlicherweise ja. Im Sondergericht für Sierra Leone, nach dem Bürgerkrieg zweier Rebellengruppen und der Regierungstruppen, entschied der Ankläger jede der drei Gruppen in einem gesonderten Verfahren zu behandeln. In Jugoslawien hat das UN-Tribunal seit 1993 die drei Seiten verfolgt, aber nie sind alle zufrieden. Fragt man die Serben, heißt es, wir haben die härtesten Strafen bekommen. Die Kroaten sagen: Sie haben nur ein Exempel an uns statuiert, damit sie behaupten können, sie hätten alle Seiten gleich behandelt. Die Bosnier fragen sich, warum wir? Es gibt keine App für Gerechtigkeit.

Robert Jackson, der amerikanische Ankläger in Nürnberg, hatte eine neue Weltordnung durch Recht versprochen. Hat er es geschafft?

Wenn man Leute heute auf der Straße fragt, worum es in Nürnberg ging, sagen sie: den Holocaust. Das Haupturteil behandelt auch die „Kristallnacht“, die Rassengesetze von 1935. Aber niemand wurde dafür verurteilt. Worum es eigentlich ging – und das war das Projekt Jacksons: der Angriffskrieg als das fundamentale Übel. Zu einem gewissen Ausmaß hat die Welt das verstanden. Österreich würde heute nicht mehr sagen, ihr habt unseren Erzherzog umgebracht, wir ziehen jetzt gegen euch in den Krieg. Selbst bei Kriegen, die Aggressionskriege sind, wird versucht sie zu rechtfertigen, mit Menschenrechten, Massenvernichtungswaffen, Selbstverteidigung.

Es gibt mehr Kriege denn je.

Kommt darauf an, wie man rechnet. Wir hatten keinen dritten Weltkrieg. Meine Eltern hatten zwei Kriege in einer Generation erlebt, sie dachten, bald käme wieder einer, ein Zyklus. Wir haben seitdem viele kleinere Konflikte gesehen, aber nichts mehr in dieser Größenordnung. Manchmal löst die Menschheit Probleme: Wir haben die Beulenpest ausgerottet und die Blattern, auch Sklaverei ist zu großen Teilen abgeschafft.

Auf Nürnberg folgten die blutigen Befreiungs- und Stellvertreterkriege.

Wir verlangen etwas viel von Nürnberg, wenn es den Weltfrieden für immer bringen soll. Aber es hat dazu beigetragen, dass es den Sicherheitsrat gibt und in der UN-Charta das Verbot der Gewaltanwendung, um Konflikte zu lösen.

Nach Jacksons Logik konnten nur Verbrechen abgeurteilt werden, die im Zusammenhang mit dem Krieg standen – nicht jene, die vor 1939 geschahen.

Als die Siegermächte Nürnberg vorbereiteten, dachten sie, sie würden sich klassische Kriegsverbrechen anschauen: Gefangene töten, Brunnen vergiften, verbotene Waffen benutzen. Dann fragten die Leute, wie werdet ihr mit den Grausamkeiten speziell gegen die Juden umgehen? Die ursprüngliche Antwort: gar nicht. Was die Deutschen ihrer eigenen Bevölkerung antun, hat nichts mit Völkerrecht zu tun.

"Allerdings hatten die Siegermächte Angst"

William Schabas, Experte für Völkerrecht
William Schabas, Experte für Völkerrecht

© Andy Sotiriou

Und der Begriff Genozid war noch nicht erfunden.

Die Siegermächte zogen einen anderen heran: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, den wir schon von Voltaire kennen. Es war die Idee, dass eine Politik, die sich gegen das eigene Volk wendet, strafbar sein kann. Allerdings hatten die Siegermächte Angst, Verantwortung anzuerkennen für Verbrechen in Friedenszeiten. Weil es in ihrem eigenen Land ähnliche Untaten gab. Die Diskriminierung, den Rassismus in den USA.

Schon vor Nürnberg versuchte man Einzelne für solche Verbrechen vor Gericht zu stellen. Zum Beispiel nach dem armenischen Genozid.

Nach dem Ersten Weltkrieg wollte man Kriegsverbrecher in Leipzig und Konstantinopel strafverfolgen, auf niedrigerer Ebene. Das Verbrechen des Angriffskrieges aber ist etwas Besonderes: Weil es nur von einem Staat verübt werden kann, wird man das Staatsoberhaupt vor Gericht stellen. Noch nie hatte jemand so ein Verfahren geführt!

Wie macht man einen Schreibtischtäter verantwortlich?

In der Gruppe der Anwälte war auch keiner schlauer als wir hier. Wo fangen wir an? Von Leipzig wissen wir, dass man den U-Bootkommandeur strafverfolgen könnte oder den des Kriegsgefangenenlagers, aber nicht wie man die Punkte bis hoch zu Hitler verbindet. Wir streiten bei den modernen Tribunalen immer noch genau darüber, wie man dem Anführer Verantwortlichkeit nachweist, für Verbrechen, die Soldaten begehen. Es war daher auch attraktiv den Krieg als solchen zum Verbrechen zu machen: dann ist Hitler automatisch verantwortlich.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Eigentlich gilt: Keine Strafe ohne Gesetz. Man kann Recht nur für die Zukunft schaffen.

Die Alliierten hatten das Gefühl, dass das Recht vorpreschen muss, um mit den KZs, den Horrorbildern mithalten zu können. Die Richter erklärten: Die Regel, dass man nicht retroaktiv strafverfolgen darf, ist eine Regel der Gerechtigkeit, doch es wäre noch ungerechter, diese Verbrechen nicht zu bestrafen. Wir reden hier nicht über Tote im Nebel des Krieges. Wir reden davon, Leute aufgrund ihrer Religion oder Ethnie zu töten. Die Kinder zuerst. Könnte irgendein Mensch glauben, dass das richtig ist? Dass man das nicht verurteilen kann?

Wussten Sie schon immer, was Unrecht ist?

Alle Kinder wissen das. Ich habe inzwischen Enkel und bin immer wieder erstaunt über ihren Gerechtigkeitssinn. Warum darf Thomas auf die Achterbahn und ich nicht? Weil man 1,50 Meter groß sein muss. Das ist nicht fair, Opa. Ich habe mich früh für Gerechtigkeit auf der Welt interessiert. Meine Großmutter hatte ein Album, in das sie Zeitungsausschnitte klebte über die Dekolonialisierung Afrikas – wie wir es nannten. Dort hieß es natürlich Befreiungsbewegung. Ich erinnere mich an das Sharpeville-Massaker 1960 in Südafrika, ich war damals elf. Mein Gefühl sagte mir auch, dass es unrecht war, was die USA in Vietnam machten. Da war ich 13 und empfand nicht viel anders als heute.

Sie reden auch so leidenschaftlich, weil Sie eine persönliche Verbindung zu Nürnberg haben.

Es war mein Onkel, Captain Tom Fairley, der einen der Angeklagten in Nürnberg festnahm. Arthur Seyß-Inquart, den deutschen Statthalter in den Niederlanden. Die kanadische Armee, die bei der Befreiung mitwirkte, suchte dafür einen Offizier, der Deutsch konnte. Mein Onkel war einst zum Sprachkurs in Berlin, hatte 1936 die Olympischen Spiele angeschaut und war, so erzählen wir es uns in der Familie, als Hitler ins Stadion kam, aufgestanden und gegangen.

Sie kommen aus einer jüdischen Familie, welche Rolle hat das gespielt?

Meine Eltern sind sehr liberal, gar nicht religiös. Wenn es jedoch ein prägendes Ereignis in meinem Leben gab, dann war das der Holocaust. Die Familie meines Vaters kam aus der Nähe von Lemberg, fast allen gelang aber die Flucht. Später kam mir ein ganz anderer Genozid persönlich noch näher.

Sie meinen Ihre Expedition 1993 als Menschenrechtsexperte nach Ruanda?

Ich hatte gerade meinen Doktor gemacht. Das Land befand sich im Bürgerkrieg, wir fuhren in ein Dorf im Norden, das von den Rebellen besetzt war. Wir hatten gehört, dass es dort viele Morde an den Tutsi gegeben hatte. Wir konfrontierten den Bürgermeister, einen Hutu, mit Berichten über ein Massengrab. Er war sehr arrogant, das sei alles Propaganda. Wir sagten: Dann macht es Ihnen sicher nichts aus, wenn wir graben.

Sie haben ein Loch gebuddelt?

Unser Team von vier sehr athletischen jungen Belgiern, ich stand eher daneben. Während wir den Leichen näher kamen, wuchs die Menschenmenge um uns. Es waren alles Hutus, wir hatten keinen Schutz, das war sehr gefährlich. Wir sind in die Autos gehetzt, haben Teile der Leichen in Säcke geschmissen, damit ein Forensiker sie untersuchen konnte. Später wurde der Bürgermeister von den Tutsi aus Rache hingerichtet.

Können Sie dieses Gefühl nachempfinden?

Nein – er hätte das Recht auf ein Verfahren gehabt, und wir haben auf unsere eigene, naive Art zu einer Menschenrechtsverletzung beigetragen. Rache ist eine normale menschliche Emotion, genau wie sich verlieben. Ich bin jedoch nicht rachebedürftig. Leute tun mir etwas Unangenehmes an, und ich vergesse es sofort.

Weinen Sie gelegentlich?

Nicht über die großen Ereignisse der Geschichte, über die wir gerade reden. Aber bei Filmen. In „Auf Wiedersehen, Kinder“ aus dem Jahr 1987 erzählt Louis Malle von einer Schule, deren Priester ihre jüdischen Schüler schützen. Einer der Angestellten verrät sie. Es gibt diese Schlussszene, wo die Gestapo mit den Priestern und den Juden über den Hof geht, alle anderen Schüler sind aufgereiht. Die Stille ist unglaublich. Einer der Jungs sagt, „au revoir, mon père“, und dann sagen das alle. Sie sehen: Jetzt weine ich.

"Wenn man in Syrien Frieden will..."

William Schabas, Experte für Völkerrecht
William Schabas, Experte für Völkerrecht

© Andy Sotiriou

Sind Sie Pazifist?

Ich weiß nicht, ob ich bereit bin zu sagen, ich sei ein absoluter Pazifist. Genau wie ich es nicht schaffe zu sagen, ich sei totaler Vegetarier. Intellektuell bin ich gegen Krieg.

Aufarbeitung kann den Frieden auch behindern.

Wir haben so ein Mantra, dass Frieden und Gerechtigkeit zusammengehören. Damit bin ich nicht einverstanden. Wir wollen von beidem so viel wie möglich. Das geht nicht immer. Denken Sie an Libyen, als der Sicherheitsrat verhandelte, wenn da jemand zu Gaddafi gegangen wäre, wir machen einen Deal, du kannst abhauen, mit ein bisschen Geld auf einer Insel im Atlantik weiterleben …

…wie Napoleon auf Sankt Helena.

Einige finden, das würde die Gerechtigkeit auf den Kopf stellen. Ich bin anderer Meinung. In Sierra Leone war ich Mitglied der Wahrheitskommission. Die durfte Amnestien aussprechen. Es gab eine Friedensübereinkunft, bei der die Leute um einen Tisch saßen und sagten, wir wollen diesen Krieg beenden, aber die Kombattanten verlangen als Bedingung für einen Waffenstillstand, dass sie amnestiert werden. Ich kann das akzeptieren.

Eine Insel für Bashir Assad?

Es wird der Punkt kommen, wo man sich dieser Frage stellen muss, wenn man in Syrien Frieden will. Amnestie ist Teil des Werkzeugkastens, den man zur Friedensstiftung braucht. Sogar aus dem Zweiten Weltkrieg wissen wir, dass Allen Dulles als Geschäftsträger der OSS, der CIA-Vorläuferorganisation, in der Schweiz Verhandlungen mit hochrangigen deutschen Offizieren führte, um ihnen eventuell behilflich zu sein, das Hitler-Regime zu stürzen. Wenn ihr kooperiert, werde ich dafür sorgen, dass ihr nicht bestraft werdet. Was ist daran falsch?

Warum sollten starke Staaten sich überhaupt dem Völkerrecht unterstellen, wenn sie Konflikte mit der eigenen Armee lösen könnten?

Die Struktur des Völkerrechts resultiert aus der Spannung zwischen großen, mächtigen Staaten, die es als Mittel ansehen, mit dem sie weiter dominieren können, und kleineren Staaten, die damit das Gleichgewicht der Kräfte wiederherstellen wollen. Durch Regeln statt Zwang. Keine der beiden Seiten ist wirklich zufrieden, aber beide verstehen, dass das System notwendig ist für Fortschritt und Wohlstand.

Ist das Völkerstrafrecht nicht ziemlich zahnlos ohne Exekutive?

Nun, da sitzen inzwischen hundert Leute im Gefängnis, verurteilt durch internationale Tribunale. Die haben Zähne gespürt. Die harten Fälle, bei denen man einer Großmacht auf die Füße getreten wäre, hat der IStGH bislang allerdings vermieden.

Das ist, als hätte man im April 1945 gesagt, lasst uns erst gegen Italien ermitteln wegen des Angriffs auf Albanien und Griechenland.

Vielleicht. Irgendwann zerstört das Gericht seine Glaubwürdigkeit, wenn es diese Fälle nicht angeht. Der IStGH ist jetzt an diesem Punkt.

Sie und einige andere Juristen haben Folter im Irak als Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor den IStGH gebracht.

Der erste Chefankläger des Gerichts hat auf viele Klagen ab 2003 technisch geantwortet, warum er die Situation im Irak nicht untersuchen werde. Inzwischen wissen wir dank Wikileaks, dass er den besorgten amerikanischen Diplomaten sagte, macht euch keine Sorge, ich schaue mir den Irak nicht an. Er kann die Amerikaner eh nicht belangen, weil weder der Irak noch Amerika dem Statut beigetreten sind. Er kann nur Vorgänge auf dem Territorium des Iraks untersuchen, die von Bürgern eines Mitgliedsstaates begangen wurden. Also die Briten! Der Ankläger schloss die Akte. Wolfgang Kaleck in Berlin, der britische Anwalt Phil Shiner und ich arbeiteten an einem detaillierten Dossier. Wir verfassten eine richtige Anklage und die neue Chefanklägerin entschied letztes Jahr auf dieser Grundlage zu handeln. Ich weiß, dass die britischen Gerichte inzwischen selbst sehr ernsthaft ermitteln. Ob am Ende jemand verurteilt und ins Gefängnis gesteckt wird, ist zu früh zu sagen. Aber wir haben die Hitze ein bisschen aufgedreht.

Letztes Jahr gerieten Sie selbst ins Zentrum einer Auseinandersetzung. Sie wurden mit der Leitung einer UN-Kommission betraut, die den Auftrag hatte, mögliche Kriegsverbrechen während des Gaza-Krieges 2014 zu untersuchen. Die israelische Regierung warf Ihnen vor, ein Feind Israels zu sein.

Ich habe mich in der Vergangenheit zu Israel und Palästina geäußert. 2012 zitierte ich in New York Desmond Tutu. Er hatte vorgeschlagen, dass der IStGH gegen Tony Blair ermittelt. Und ich sagte ähnlich flapsig, mein Favorit wäre Benjamin Netanjahu. Natürlich habe ich eine Meinung, deshalb bin ich bei meiner Arbeit noch nicht voreingenommen.

Die PLO hat Sie für ein Gutachten bezahlt.

Ich habe der palästinensischen Führung 2012 geraten, dem IStGH beizutreten – wie ich es jedem Land raten würde. Nicht als Sympathisant, sondern in Ausübung meines Berufs. Wegen all dieser Dinge war ich jedoch angreifbar. Israel erneuerte seine Attacken auf mich. Der Präsident des Menschenrechtsrates wollte prüfen lassen, ob ich befangen sei. Unter diesen Umständen konnte ich meine Aufgabe nicht weiter ausüben, das hätte die Kommission bei ihrer Untersuchung behindert.

Wurden Sie bedroht?

Per Post und auch in einer ganzen Menge aggressiver Emails. Einmal bekam ich einen Brief mit einer Marke aus Israel. Ich öffnete ihn, darin stand: „Du bist zum Tode verurteilt, weil du Verbrechen gegen Israel verübt hast“. Auf der Rückseite des Briefes waren Samenkörner mit Klebestreifen befestigt. Wir haben die Polizei gerufen, sie erwiesen sich als harmlos.

Welchen Verbrecher wünschen Sie sich am sehnlichsten vor Gericht?

Derzeit läuft ein faszinierender Prozess in Senegal gegen Hissène Habré wegen Folter, als er Führer im Tschad war. Die USA unterstützen das Verfahren geradezu enthusiastisch mit Geld und Gutachten. In der besten aller Welten würden sie ihrer gesetzlichen Pflicht nachkommen und auch die eigenen Landsleute, die hinter der Folter im Irak, in Afghanistan und in Guantanamo standen, strafverfolgen. Bis in die höchsten Ränge zu Leuten wie Cheney, Rumsfeld, Bush.

Glauben Sie daran?

Martin Luther King sagte: „Der Bogen des moralischen Universums ist weit, aber er biegt sich gen Gerechtigkeit.“ Einer der großen Momente der vergangenen 20 Jahre war der Arrest von Pinochet in London 1998. Ein Freund von Margaret Thatcher, jemand, von dem die ganze Welt annahm, er genieße allerhöchsten Schutz. Fabelhaft.

Zur Startseite