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Ulrich Tukur mit seiner Ehefrau Katharina John bei der 28. Verleihung des Hessischen Film- und Kinopreises.

© imago/Future Image

Interview mit Ulrich Tukur: "Ich habe meine Frau nie ungeschminkt gesehen"

Früher sammelte er Todesanzeigen, im Hotel verlangt er stets ein Zimmer zur Straße. Ulrich Tukur über Tinnitus, seine Konzerttournee und seinen Abschied aus Venedig.

Von Barbara Nolte

Herr Tukur, als eine Kollegin neulich an einem Samstagmorgen um acht über den leeren Tauentzien fuhr, fielen ihr auf dem Wittenbergplatz zwei Menschen auf, die aussahen, als kämen sie direkt aus den 20er Jahren. Beim Näherkommen wurde klar: Das waren Sie und Ihre Frau. Was haben Sie in aller Herrgottsfrühe da gemacht?

Keine Ahnung. Vielleicht den Hund ausgeführt.

In perfektem Kostüm? Ihre Frau mit schwarzer Bubikopffrisur …

… sie hat ein sehr hohes Stilbewusstsein. Ich will Ihnen mal was sagen: Ich habe meine Frau noch nie ungeschminkt gesehen. Die liegt auch geschminkt neben mir im Bett. Und die Mode war ja nie schöner als zu der Zeit, in der Europa verbrannte, in den späten 30er Jahren.

Geschmackssache.

Heute herrscht eine erschütternde Uniformität. Als ich neulich durch einen Waggon der Eisenbahn lief, stellte ich fest, dass 90 Prozent der Leute Bluejeans trugen. Wenn man dagegen in Berlin mit einer Knickerbocker herumläuft, wird man angeguckt, als hätte man einen Dachschaden.

In der Mode kehrt alles wieder. Wenn man sich exakt wie vor 80, 90 Jahren kleidet, geht es doch um etwas anderes als nur ums Styling.

Ich habe Sehnsucht nach einer Zeit, in der noch nicht alles entdeckt, auseinandergenommen, verwurstet und entweiht war. Manchmal würde ich gern Anfang des 19. Jahrhunderts leben, manchmal in den 20er, 30er, 40er Jahren, wegen der Musik, die mich so fasziniert: dem Jazz. Dann lebe ich auch mal ganz gerne im Jetzt – wenn ich krank bin.

Ulrich Tukur, einer der beliebtesten deutschen Schauspieler, galt an der Schauspielschule als mäßig talentiert.
Ulrich Tukur, einer der beliebtesten deutschen Schauspieler, galt an der Schauspielschule als mäßig talentiert.

© Mike Wolff

Was haben Sie da neulich in Berlin gemacht?

Dreharbeiten. Ich habe in einem ZDF-Zweiteiler eine Figur gespielt, die dem Treuhandchef Detlev Rohwedder nachempfunden war.

Sie wurden also umgebracht.

Ja. Schuss ins Herz.

Wer Sie schon alles waren: Andreas Baader, Dietrich Bonhoeffer, Willi Graf, Herbert Wehner, Helmut Schmidt, Bernhard Grzimek, Erwin Rommel, jetzt Rohwedder …

Vielleicht ein bisschen viel. Ich bin eben ein Biografien-Schauspieler.

Es ist sicher ein großer Spaß, wenn man die alle mal sein kann.

Kann man ja nicht. Das Ganze ist immer Spiel. Wir Schauspieler sind mehr oder weniger begabte Hochstapler. Und es ist faszinierend zu sehen, dass das Publikum einem glaubt – wie Kinder in einem Kasperletheater. Wenn man abgründige Figuren spielt, denkt der Zuschauer, man hätte solche finsteren Anteile in sich. Nein! Ich spiele ja nur, stelle etwas hin, werfe es in die Luft und jongliere damit. Sonst würde ich schizophren. Ich hatte schon mit Kollegen zu tun, vor allem Kolleginnen, die ihren Beruf als Selbsttherapie verstanden. Das ist für mich unerträglich mitanzusehen.

Wie sieht das aus?

Die schmeißen ihr ganzes Elend in die Rolle hinein, und man hat Angst, dass sie im Moment der Aktion kaputtgehen, weil das eben kein Spiel mehr ist. Es geht um die Wurst. Als Zuschauer wird man zum Voyeur.

Wie kann es sein, dass ein einziger Mann so viele prägende Deutsche, so viele gegensätzliche Typen des vergangenen Jahrhunderts verkörpert?

Weil ich keinen Charakter habe. Wer keinen Charakter hat, kann alles spielen.

Isabelle Huppert sprach von Passivität, die einen guten Schauspieler ausmache: der Darsteller als willfähriges Werkzeug.

Für sie mag das richtig sein. Bei mir dauert es eine Weile, bis ich mich in eine Rolle hineinfinde. Bei historischen Figuren mache ich mich kundig: Wie ist die Zeit gewesen, in der sie lebten? Was waren die Besonderheiten dieses Menschen? Wie hat er sich bewegt? Aber nicht übertreiben. Wenn man zu viel Fracht in die Gestaltung mitnimmt, behindert man sich. Man muss abwarten. Irgendwann findet sich ein Zugang. Das ist die Erfahrung, die ich mit Peter Zadek gemacht habe: Stell nichts her, wenn es noch nicht da ist.

"Man strebt immer zum Abgrund"

In einem ARD-Film spielte Tukur (rechts) Bernhard Grzimek. Hier am Set mit Christian Grzimek, dem Enkel des Naturschützers.
In einem ARD-Film spielte Tukur (rechts) Bernhard Grzimek. Hier am Set mit Christian Grzimek, dem Enkel des Naturschützers.

© imago/Star-Media

Klingt esoterisch: Stell etwas hin, stell nichts her.

Sie dürfen nicht an den Text denken, den Sie sagen sollen. Das ist wie beim Autofahren: Da gucken Sie doch auch nicht auf die Meter vor sich, sondern auf den Horizont. Dann fahren Sie automatisch richtig. Erwin Rommel habe ich über den Dialekt geknackt: sein Heidenheimer Schwäbisch. Bei Wehner waren es das Polternde und der leicht sächsische Tonfall. Ihn spielte ich allerdings als jungen Mann, den noch keiner kannte. Da war ich fein raus.

Die Leute wollen, dass Stars durch ihre Rollen durchscheinen. Sie wollen Ulrich Tukur als Wehner sehen, Tukur als Grzimek. Oder?

Das finde ich schade. Bei Grzimek wusste ich, dass es ein Weilchen dauern würde, bis die Zuschauer, die sich an den unterhaltsamen Fernsehonkel erinnern, nicht mehr den Tukur sehen, der verzweifelt versucht, den Grzimek zu geben. Erst wenn ich als Darsteller verschwinde, hab ich’s geschafft.

An der Schauspielschule galten Sie als mäßig talentiert.

Ich war noch nicht so weit, viele Hinweise, die ich dort bekam, konnte ich nicht deuten. Es wurde gesagt, man solle durchlässig, porös sein. Ich dachte mir: Was? Ich habe doch keine Löcher im Leib! Unter Zadek ist dann der Knoten geplatzt.

Zadek besetzte Sie als SS-Offizier in seiner Inszenierung „Ghetto“ an der Freien Volksbühne Berlin, die im Jahr 1984 großen Erfolg hatte.

In den ersten drei Wochen hat mich der Meister gequält. Dekonstruktion und Wiederaufbau, so ging er oft bei Schauspielern vor. Manche hat er dabei auch zerstört. Der entscheidende Moment meines Theaterlebens war, als er mich auf eine der zwei Probebühnen rief. Mit dem nöligen Ton, der für ihn typisch war, sagte er, ich solle jetzt mal raufgehen und singen und tanzen. Ich stand da in meiner dämlichen SS-Uniform und dachte: Jetzt reicht’s aber. Irgendwie habe ich es geschafft, all die Enttäuschung, die Angst, die Wut in einen extemporierten Text hineinzupacken. Jemand aus Zadeks Entourage lachte, dann lachte Zadek auch.

Liegen Ihnen die Schurken besonders?

Man strebt immer zum Abgrund. Wenn man aber eine Figur nicht mag oder gar ablehnt, sollte man sie nicht spielen. Bei biografischen Stoffen verstehe ich mich als Anwalt meiner Rolle. Ich verteidige sie vor der Geschichte und den Zuschauern. Ich beurteile sie nicht, das soll der Zuschauer tun. Es gibt Figuren, die geben einem ein klammes Gefühl. Doch jeder Mensch – es sei denn, es ist ein psychiatrischer Fall – ist in seinem moralischen Ausgleiten irgendwie nachvollziehbar.

Was konnten Sie Andreas Baader abgewinnen?

Baader ist mir vielleicht am wenigsten geglückt. Für mich war er ein Narzisst, ein Räuberhauptmann. Damals stand ich ganz am Anfang meiner Karriere und habe alles gerne gespielt. So eine Figur würde mich heute nicht mehr interessieren. Unangenehmer Vogel!

Was macht ein Großschauspieler wie Sie, um auf der Höhe seines Könnens zu bleiben – gehen Sie ins Sportstudio für die Figur?

Sind Sie wahnsinnig? Ich bewege mich überhaupt nicht.

Gucken Sie sich Theaterstücke an?

Ich lebe ja in Venedig, dort sehe ich mir ab und zu Opern an. Ich habe den Kontakt zum Theater weitgehend verloren, seit dieses Schrei- und Konzepttheater losging.

Selbst der ehemalige Volksbühnen-Intendant Frank Castorf sagte kürzlich, er ziehe eine schöne Frau einem schönen Theaterabend vor.

Eigentlich hat er ja recht, aber es klingt trotzdem kokett und auch ein bisschen beleidigt. Ich für meinen Teil ziehe einen Theaterabend mit einer Glühbirne, zwei wunderbaren Schauspielern und einem großartigen Text jedem Kinofilm vor. Die Leere erlaubt es mir, meine eigenen Bilder herzustellen.

Sie selbst spielen auf keiner Bühne mehr?

Nein. Ich habe das Theater geliebt, es ist so viel lebendiger als der Film. Aber alles hat seine Zeit. Ich kann nicht verstehen, wie man 45 Jahre lang Regisseur sein kann und sich immer nur im dunklen Bühnenraum bewegt, um eine Welt abzubilden, die man gar nicht mehr kennt.

Im Sommer sind Sie 60 geworden.

Ja, die Zeit wird knapp. Das Leben ist eine sehr endliche Veranstaltung, und ab einem bestimmten Punkt ist man auf der anderen Seite.

Wann war das bei Ihnen?

Recht spät. Ich bin mit Mitte 50 aus dem Paradies der Unsterblichkeit gekippt. Ich habe immer gespielt, nichts wirklich ernst genommen, aber auf einmal war er da, der Moment, und ich merkte: Jetzt bin ich angeschossen.

"Wir ziehen nach Berlin oder nach Hamburg"

Ulrich Tukur im Februar 1988 in Peter Zadeks "Lulu" im Hamburger Schauspielhaus.
Ulrich Tukur im Februar 1988 in Peter Zadeks "Lulu" im Hamburger Schauspielhaus.

© imago/teutopress

Die „Zeit“ hat mal über Sie geschrieben, dass Sie Ihre innere Unruhe mit Hyperaktivität bekämpfen.

Das hat sich nicht wesentlich geändert. Wie bei einem Boot mit Außenbordmotor: Wenn es schnell fährt, liegt es ruhig im Wasser, wird das Tempo gedrosselt, fängt es an zu schwanken.

Was macht Ihr Tinnitus: besser geworden?

Nein. Ich habe ihn erst nicht als solchen erkannt. Dann war es zu spät. Ich drehte in der Normandie einen französischen Kinofilm, als ich auf einmal ein merkwürdiges Geräusch hörte. Ich dachte, das wäre die Gastherme im Keller. Als das Geräusch auch in Venedig noch vorhanden war, wo es keine Gastherme gibt, wusste ich, dass ich ein Problem hatte. Seitdem brummt mein Kopf, als wäre er ein Radioröhrenapparat.

Ihre Frau soll einen „Bedside Noiser“ angeschafft haben. Ein Gerät von der Größe eines Radios, das von quakenden Fröschen bis zur Musik Geräusche abspielt, die den Ton im Ohr überlagern sollen.

Was habe ich nicht alles versucht: Wasser laufen lassen, einen Ventilator gekauft, der klapperte, bis es mir irgendwann zu blöd war. Wenn man das Geräusch akzeptiert, wird es leiser. Kämpft man dagegen an, wird es unerträglich. In Hotels verlange ich Zimmer, die zur Straße hinausgehen. Die finden das sehr kurios.

Bald gehen Sie wieder mit Ihrer Band „Ulrich Tukur & Die Rhythmus Boys“ auf Tournee. Neben eigenen Kompositionen haben Sie Stücke aus den 1920er bis 1940er Jahren neu arrangiert.

Zu keiner anderen Zeit wurde Populärmusik mit so viel artistischer Raffinesse gemacht. Vielleicht ist das mein Lebensthema: sicherzustellen, dass Menschen, wunderbare Sänger, Musiker und Schauspieler, die eine reiche Unterhaltungskultur mitgeprägt haben, nicht vergessen werden. Der Gedanke, dass alles vergeht, ist manchmal schwer zu ertragen.

Als junger Mann hatten Sie Ihr Zimmer mit Todesanzeigen gepflastert. Warum?

Ich hatte sie zum Entsetzen meiner Eltern aus der „FAZ“ ausgeschnitten und ein Gemälde davor gehängt, das einen sterbenden Soldaten aus dem Dreißigjährigen Krieg zeigte. Mein Memento mori. Vielleicht wollte ich nur provozieren, weil mir die Wirklichkeit daheim zu schwäbisch war.

Sie lebten doch gar nicht in Schwaben, sondern sind als Kind viel umgezogen.

Wenn Sie eine Oberschwäbin zur Mutter und einen Stuttgarter zum Vater haben, dann haben Sie, wo auch immer Sie sich befinden, ganz Württemberg im Haus. Lob gab es wenig. Mein Vater hat mich bis zu seinem Tod nicht für voll genommen. Da war nichts zu machen. Das Einzige was ihn, einen schwäbischen Ingenieur, beeindruckte, war, dass ich irgendwann mehr Geld verdiente als er.

Vor etwa 20 Jahren sind Sie mit Ihrer Frau ganz aus Deutschland weggezogen.

Auch das findet bald sein Ende. Das Leben in Venedig ist anstrengend. Sie landen am Flughafen, beladen mit Koffern, müssen in den Bus, ins Vaporetto, das Vaporetto ist randvoll mit Touristen, Sie warten aufs nächste, auch voll, oder es kommt erst gar nicht. Schließlich schleppen Sie Ihre Koffer vier Stockwerke rauf, sind drei Tage da, schleppen wieder alles runter. Und wenn Sie das 20 Jahre lang machen, denken Sie, Herrgott, ich möchte auch ganz gern mal mit dem Auto in die Garage fahren und gleich zu Hause sein.

Wohin ziehen Sie?

Nach Berlin oder Hamburg. Ich behalte eine kleine Wohnung in Venedig und unseren Bauernhof in den Apenninen. Den kauft mir kein Mensch ab.

Wollen Sie nach all der venezianischen Romantik mal wieder etwas ordentlich Hässliches sehen?

Direkt neben der Giudecca, auf der ich lebe, gibt es die Sacca Fisola, eine noch kleinere Insel, die in den 50ern mit schrecklichen Sozialbauten zugestellt wurde. Da stehen die hässlichste Kirche Italiens und eine kleine Bar mit einer tätowierten Besitzerin, die mich aus irgendeinem Grund in ihr Herz geschlossen hat. Dorthin gehe ich, wenn ich genug habe von Renaissance und Tourismus.

Sie verlassen die Stadt nur aus Bequemlichkeit?

Wissen Sie, in Venedig müssen Sie immer spielen. Es ist ein riesiges Bühnenbild. Das habe ich lange getan. Ich habe Erzählungen über die Stadt geschrieben, meine Frau hat sie fotografiert. Irgendwann ist aber jedes Stück abgespielt. Das Leben lebt davon, dass Sie Haken schlagen.

Ulrich Tukur spielt mit seiner Band am 17.,18. und 19. Februar im Theater am Kurfürstendamm.

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