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Szene aus "Nebel im August".

© Promo

Interview mit Euthanasie-Forscher Michael von Cranach: Der stille Massenmord

Die Nazis beginnen 1939 hinter den verschlossenen Türen der Psychiatrie, Menschen zu ermorden. Michael von Cranach hat die Geschichte der Euthanasie erforscht.

Michael von Cranach, geboren 1941, ist einer der wichtigsten Experten zum Thema Euthanasie im Nationalsozialismus. Von 1980 bis 2006 war er ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren im Allgäu, wo er die Aufarbeitung der Vergangenheit entschieden vorantrieb. Das Team des Films "Nebel im August", der jetzt in den Kinos läuft, hat er beraten.

Herr von Cranach, unter den Nazis wurden psychisch Kranke und Behinderte systematisch vergast und vergiftet. Trotz 200 000 Opfern wissen die meisten Leute wenig über dieses Verbrechen.

Das hängt sicher mit dem Stigma zusammen, mit dem Behinderte und psychisch Kranke bis heute behaftet sind. Es gab auch keinen richtigen Neuanfang, keine Zäsur nach 1945. Inzwischen wurde viel geforscht, und die Quellenlage ist ausgezeichnet. Es gibt Krankenhausunterlagen, Akten der Gerichtsprozesse nach dem Krieg, Zeitzeugen-Befragungen durch die Alliierten …

Gerade ist der Film „Nebel im August“ in den Kinos angelaufen. Er erzählt die Geschichte eines Opfers: Ernst Lossa, der 1944 mit 14 Jahren ermordet wurde. Ein realer Fall, den Sie entdeckt haben.

Als ich seine Krankenakte das erste Mal in den Händen hielt, war ich vom Bild des Jungen tief beeindruckt. Er schaut so wissend.

Lossa war weder schwer psychisch krank noch behindert. Warum kam er trotzdem in die Psychiatrie?

Er war Halbwaise, schwer erziehbar, machte Probleme in der Schule. Eine Ärztin am Kaiser-Wilhelm-Institut für Psychiatrie in München hat ihn untersucht. Ihre Diagnose lautete: asozialer Psychopath, genetisch bedingt, eine Besserung im Erwachsenenalter sei nicht zu erwarten. So wurde er in die Kinderfachabteilung der psychiatrischen Anstalt Kaufbeuren eingewiesen. Andere Patienten wurden schon nach ein paar Wochen getötet, er aber blieb zwei Jahre am Leben. Ärzte und Pfleger hatten Zweifel, ob er dort überhaupt hingehörte.

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Sie wurden 1980 ärztlicher Direktor der Kaufbeurer Klinik. War da noch etwas von der Nazivergangenheit spürbar?

Die Möbel, die mit Lackfarben gestrichenen Wände, die überbelegten Krankensäle – all das entsprach den alten Zeiten. Als ich jetzt den Film geschaut habe, für den die Inneneinrichtung aus den 1940er Jahren detailgetreu nachgestellt wurde, fühlte sich das unerhört echt an. 1980 stand die Psychiatriereform erst am Beginn. Es waren so viele Patienten, und die Hälfte lebte seit Jahren und Jahrzehnten in der Klinik. Alles war sehr hierarchisch und paternalistisch, es ging vor allem darum, die Patienten zu disziplinieren. Mir war klar, hier muss sich was ändern.

Und deshalb begannen Sie – als einer der ersten deutschen Klinikdirektoren – mit der Aufarbeitung der NS-Euthanasie?

Konfrontiert mit diesem Elend entstand das Bedürfnis, zu klären, was in der Vergangenheit passiert war. Zuerst habe ich mit einem Lehrer aus Kaufbeuren gesprochen, der eine Untersuchung durchgeführt und Hausverbot in der Klinik bekommen hatte. Ich las historische Literatur, Kranken- und Prozessakten. Später haben wir eine Arbeitsgruppe gegründet, junge Assistenten schlossen sich der Recherche an. Viele sagen mir voller Bewunderung: Mein Gott, was habt ihr da geschafft! Tatsächlich sind wir kaum auf Widerstand gestoßen. Allen war klar, dass dieses Thema besprochen werden muss. 2200 Kaufbeurer Patienten sind während der Nazizeit ermordet worden.

Die Figur des Direktors im Film beruht auf Ihrem Vorvorgänger Valentin Faltlhauser. Als Zuschauer ist man anfangs verwirrt, denn er wirkt sympathisch.

Gott sei Dank hat man ihn so dargestellt!

Schon im 19. Jahrhundert hat es eine Euthanasie-Debatte gegeben

Michael von Cranach.
Michael von Cranach.

© Doris Spiekermann-Klaas

Was meinen Sie?

Diese Ambivalenz entspricht der Wahrheit. In den 20er Jahren war Dr. Faltlhauser ein bedeutender Psychiatriereformer. Er trat für eine Behandlung der Patienten in ihrem Lebensumfeld ein, ganz modern. Noch 1935 schrieb er in einem Lehrbuch, dass Leute, die Schwerkranke töten wollen, nicht verstanden haben, dass Glück und Leid im Leben zusammengehören und dass es das Wesen des Menschen ist, das zu ertragen. Spätestens mit Beginn der Euthanasie 1939 geriet er spürbar in eine berufliche Sackgasse – und entschied sich, doch mitzumachen. Am Ende war er, wie in den Nürnberger Ärzteprozessen festgestellt wurde, einer der zehn schlimmsten Täter.

Faltlhauser handelte aus Karrierismus. Ein typischer Fall?

Kumpanei, Hierarchiedenken und Angst um die Karriere spielten oft eine Rolle. Aber das erklärt nicht alles. Als wir mit der Forschung begannen, glaubten wir, die Nationalsozialisten hätten die Idee von „lebenswert“ und „lebensunwert“ aufgebracht und ihre Aktionen durchgezogen. Doch die Täter waren in der Mehrzahl keine Nazischergen, es handelte sich um die humanistisch ausgebildete Elite der Psychiatrie. Kaum einer leistete Widerstand. Und das bestimmt nicht aus Angst. Kein Arzt, der sich dem Programm entzog, hat gravierende Nachteile erlebt. Mit den Jahren sind wir zu dem Ergebnis gekommen: Die Euthanasie war ein psychiatrisches Programm. Die Nazis haben bloß möglich gemacht, was vorher lange diskutiert worden war.

Schon im 19. Jahrhundert hatte es unter Ärzten eine Euthanasiedebatte gegeben.

Einen Höhepunkt erreichte die Diskussion 1920, als der Jurist Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche in einem Buch „die Freigabe zur Vernichtung lebensunwerten Lebens“ forderten. Sie argumentierten, dass es behinderte Menschen gebe, die keinen Willen und keine Autonomie haben und denen damit die Grundeigenschaften eines Menschen fehlen: Man müsse diese Leute gar nicht töten, weil sie ja gar keine Person sind – man könne sie einfach „vernichten“.

Auch bei der NS-Euthanasie ging es darum, angebliche „Parasiten“ und „unnütze Esser“ zu beseitigen. Wie wurde darüber entschieden, wen man tötete?

Es gab zwei entscheidende Kriterien: eine chronische Erkrankung oder Behinderung und die Arbeitsfähigkeit. Wer über einen längeren Zeitraum in einer Einrichtung lebte und dort keine Arbeiten verrichten konnte, musste sterben. Die Steuerung lag in Berlin …

Der Hauptsitz der Euthanasie-Aktion befand sich in der Tiergartenstraße 4, wo heute die Philharmonie steht.

… doch die eigentlichen Entscheidungen wurden in den Kliniken getroffen. Die Ärzte wussten, wie sie die Meldebögen, die sie nach Berlin schickten, auszufüllen hatten.

In den ersten zwei Jahren wurden die Euthanasieopfer durch Gas getötet. Warum stoppte man das 1941 plötzlich?

Die Nazis hatten sechs Tötungsanstalten mit Gaskammern eingerichtet. Die Patienten wurden in grauen Bussen abgeholt und dorthin gebracht. Man wollte so wenig Zeugen wie möglich haben. Trotzdem wurde das Sterben nach und nach bekannt. Es gab Proteste von Angehörigen, manche von ihnen sogar Nazifunktionäre. Graf von Galen, Bischof von Münster, hat im August 1941 eine eindrucksvolle Predigt gehalten, in der er konkret beschrieb, was passierte, und von Mord sprach. Außerdem war für die Nazis das Programm eine Art Probelauf für den Holocaust. Man kann zeigen, dass viele der Teams, die in den Euthanasie-Tötungsanstalten wie Hadamar in Hessen oder Pirna in Sachsen arbeiteten, nach 1941 in den Konzentrationslagern in Polen tätig waren.

Die Mehrzahl der Angehörigen zeigte sich erschüttert

Ernst Lossa.
Ernst Lossa.

© von Cranach

„Nebel im August“ spielt hauptsächlich in der zweiten Phase …

Man spricht von dezentraler Euthanasie.

… und eine Krankenschwester taucht auf, die in die Klinik versetzt wurde, um zu töten. Sie flößt den Kindern das in hohen Dosen tödliche Schlafmittel Luminal ein. Gab es solche „Todesengel“ tatsächlich?

Auch diese Figur basiert auf einer realen Person. Faltlhauser hatte in Berlin beantragt, dass ihm in der Tötung erfahrenes Personal geschickt wird. Und so kamen 1944 zwei Schwestern nach Kaufbeuren, eine davon war Pauline Kneissler. Sie hatte von 1939 bis 1941 in Hadamar gearbeitet, dann in einem Konzentrationslager und bekam in der Kaufbeurer Zweigstelle Irsee schließlich eine eigene Tötungsstation. Faltlhauser entwickelte noch eine andere Methode, um Patienten zu töten: die Hungerkost. Die Leute bekamen nur noch dünne Suppe – in Wasser gekochte Gemüsereste – und waren nach wenigen Monaten so geschwächt, dass sich aus der kleinsten Erkältung eine tödliche Lungenentzündung entwickelte.

Im Film leistet eine Nonne Widerstand. Doch die offizielle Haltung der Kirche war: Wir müssen durchhalten, bis der Albtraum vorüber ist, und die Sterbenden so lange begleiten. Eine Form von Mittäterschaft?

Natürlich hätten sie durch eine Kündigung ein Zeichen setzen können. Die Nonnen waren nicht informiert worden, aber als die ersten Transporte in die Tötungsanstalten abgingen, wunderten sie sich, warum die Patienten ohne ihre Wertsachen verlegt wurden. Wenige Tage später brachte ein Auto die Kleidung der Leute in Wäschesäcken zurück. Angehörige, die eine Todesnachricht bekommen hatten, riefen an und wollten über die Umstände informiert werden. Nun wussten die Nonnen Bescheid und kamen dadurch in einen großen ethischen Konflikt, der noch größer wurde, als sie in der Küche, die von ihnen geleitet wurde, die Hungerkost kochen mussten.

Der Historiker Götz Aly sieht die Angehörigen als Komplizen. Insgeheim, so argumentiert er, seien viele froh gewesen, dass ihnen das Mordprogramm die Last psychisch kranker oder behinderter Familienmitglieder abgenommen habe.

Das kann ich nicht bestätigen. In Kaufbeuren haben wir einen Ordner mit 150 Briefen von Angehörigen an den Direktor gefunden, die gerade vom Tod ihres Kindes, ihrer Mutter oder ihres Bruders erfahren haben. Diese Briefe zeigen: Alle wussten, was passiert war, und die überwiegende Mehrzahl der Angehörigen ist erschüttert und vorwurfsvoll.

Warum haben dann nicht mehr Leute versucht, ihre Angehörigen aus den Kliniken herauszuholen?

Das muss man aus der Praxis der damaligen Psychiatrie verstehen. In den Anstalten wurde zu dieser Zeit – auch schon vor dem Nationalsozialismus – alles getan, um Angehörige zu entmutigen, allzu engen Kontakt zu den Patienten zu halten. Außerdem hatten die Menschen regelrecht Angst vor diesem Ort. Die Patienten, die oft jahrelang in den Kliniken lebten, wurden so von ihren Familien entfremdet.

In Kriegen sind psychisch Kranke oft die ersten Opfer

Hadamar in Hessen.
Hadamar in Hessen.

© picture-alliance / dpa

Gibt es in der Geschichte ein Tötungsprogramm, das mit der NS-Euthanasie vergleichbar ist?

Nein. Psychisch Kranke sind jedoch immer besonders gefährdet. In Kriegen sind sie oft die ersten Opfer. In Jugoslawien wurden zum Beispiel während des Kriegs Anfang der 90er Jahre viele Patienten einfach erschossen. Einerseits, weil es schwierig ist, in einer solchen Ausnahmesituation eine Anstalt organisatorisch aufrechtzuerhalten. Andererseits, weil in der Aufregung des Kämpfens und Tötens psychologische Schranken fallen.

Warum kamen die Ärzte nach Kriegsende meist mit geringen Strafen davon?

Immerhin gab es die Nürnberger Ärzteprozesse. Dort wurden zwei der Hauptverantwortlichen zum Tode verurteilt. Doch nach 1947 übergaben die Alliierten die Justiz den deutschen Behörden, und man kann deutlich sehen, wie das Interesse am Thema plötzlich völlig verschwindet. Es gab zwar noch zwei Wellen von Prozessen, aber die Taten wurden verharmlost und die Täter zu lächerlichen Strafen verurteilt. Die Mehrheit der Ärzte, Pfleger, Schwestern arbeitete meist in der gleichen Funktion wie zuvor und hatte kein Interesse, etwas aufzudecken. Die Angehörigen waren ratlos und schämten sich, und selbst die Kirchen verhielten sich still. Sie waren schließlich sogar der Träger mancher Anstalt gewesen.

Faltlhauser wurde vom Landgericht Augsburg zu drei Jahren Haft verurteilt.

Ursprünglich klagte man ihn wegen Mordes an, daraus wurde im Verlauf der Verhandlung Beihilfe zum Totschlag in minderwertigen Fällen. Die drei Jahre musste er nicht absitzen. Selbst seine Pension bekam er auf dem Gnadenweg zurück.

Hat die Beschäftigung mit der NS-Euthanasie Ihre Meinung zum Thema Sterbehilfe beeinflusst?

Extrem. Ich bin Gegner jeder Form von aktiver Sterbehilfe.

Hat Sie mal jemand um Hilfe gebeten?

Gott sei Dank ist das nur einmal passiert. Ich erinnere mich an eine Patientin mit einer Brustkrebserkrankung in meiner Anfangszeit in der Klinik. Sie hatte grauenvolle Wunden, man konnte ihr medizinisch nicht mehr helfen. Innigst bat sie mich wieder und wieder: Helfen Sie mir zu sterben! Ich habe es abgelehnt. Ich stehe noch zu dieser Entscheidung, auch wenn mir immer wieder Zweifel kommen, ob sie richtig war.

Mit Pränataldiagnostik kann man die Geburt behinderter Kinder vermeiden.

Ein ganz schwieriges Thema. Vor allem wird der gesellschaftliche Druck wachsen, das zu tun. Ich kann jede Mutter verstehen, die glaubt, sich ein Kind mit Downsyndrom nicht zumuten zu können. Aber ich verstehe auch die Vereinigung der Downsyndrom-Kinder in den USA, die fordern, dass ein Schwangerschaftsabbruch wegen der Diagnose Downsyndrom verboten wird. Sie sagen: Dann gäbe es uns bald gar nicht mehr, und das wäre schade.

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