zum Hauptinhalt
Freiheit und Salat. Ein Mann sorgt in der Kolonie Monte Verità nahe des schweizerischen Ascona für sich und seine Gemeinschaft (1907).

© Ullstein Bild

Geschichte der Lebensreformbewegung: Sich frei machen, um frei zu leben

Ihren Anführer verspottete man als Kohlrabijünger und Barfußprophet: Auf dem Monte Verità begann um 1900 die Lebensreformbewegung. Heute feiern ihre Ideen eine Renaissance.

Das Misstrauen gegenüber der Moderne ist so alt wie die Moderne selbst. Denn der Fortschritt hat zwar die Dampflok, den Kühlschrank und das elektrische Licht in die Welt gebracht, doch dem nun bequemer gewordenen Leben einen Sinn zu geben, das vermochte er nicht. Das 19. Jahrhundert, die Ära von Schienen, Industrialisierung und Armutsmigration, verwandelte die Welt und ersetzte die alte ständische Ordnung durch eine moderne Massenkultur. Zurück blieb spirituelle Leere.

„Das dreißigste Jahr, in dem ich stehe, hat mir eine heftige Krise gebracht, zunächst körperlich mit Kranksein, Kur und langsamer Heilung, dann aber auch innerlich“, resümiert Hermann Hesse im Juli 1907 in einem Brief an den Literaturkritiker Josef Victor Widmann. Beschäftigt war der Schriftsteller zu dieser Zeit neben der Sinnsuche noch mit etwas anderem, er baute für sich und seine Familie ein imposantes Wohnhaus im Dörfchen Gaienhofen am Bodensee, finanziert mit den Tantiemen für seinen Entwicklungsroman „Peter Camenzind“, der zum Bestseller geworden war, und einem Darlehen des Schwiegervaters.

Hesse, der einen Selbstmordversuch als Jugendlicher mit anschließender Einweisung in eine Nervenheilanstalt hinter sich hatte, war der Sprung vom Schulabbrecher und Bohemien zum Wohlstandsbürger beinahe anstrengungslos gelungen. Aber kleiner wurden seine Verzweiflung und sein Weltverdruss deshalb nicht. „Bei mir fing es mit dem Gemüt an, der Kopf kam erst später dran“, schrieb er dem Schriftsteller Jakob Schaffner. „Doch war es immer dasselbe Leid und dieselbe vage Ungewissheit, und immer kam es gerade, wenn es mir auf der Außenseite recht wohl ging.“ Dem Schriftsteller, der von rebellischem Furor getrieben war, behagten weder der beginnende Ruhm noch das Eingezwängtsein in bürgerliche Konventionen. Die Aufspaltung in eine Außen- und eine Innenseite muss ihn geschmerzt haben. Er sah sich als Opfer der Zivilisation.

Hesse hatte sich Heilung erhofft

Ein Foto zeigt Hermann Hesse als Rückenakt auf einem steil aufragenden Felsen. Sein linker Arm stützt sich lässig in der Hüfte auf, mit dem anderen hält der Dichter sich an einem Vorsprung fest. Den Blick heroisch ins Tal gerichtet. Die Insignien der modernen Welt hat er hinter sich gelassen, um sich frei und nackt zu präsentieren, nicht einmal die obligatorische Nickelbrille bedeckt den sonnengegerbten Körper. Nietzsche hatte in der Moral- und Modernekritik seines Buches „Jenseits von Gut und Böse“ den „homo natura“ zum Vorbild ausgerufen, ein Ideal, dem die jugendliche Avantgarde der Lebensreformbewegung gern folgte. Doch der Nacktkletterer Hesse mit dem spillerigen Körper eines Schreibtischsitzers wirkt in der Rolle des Bergeroberers und Übermenschen fehlbesetzt.

Heilung von seiner Krise hatte sich der Fortschrittsskeptiker auf dem Monte Verità im Schweizer Kanton Tessin erhofft, wo Anarchisten, Theosophen, Vegetarier, Pazifisten und Sonnenanbeter vom Herbst des Jahres 1900 an eine genossenschaftliche Siedlung errichteten. Hesse machte sich die Parole der Lebensreformbewegung „Zurück zur Natur!“ bereitwillig zu eigen, hatte er doch schon seinen autobiografisch grundierten Romanhelden Peter Camenzind predigen lassen: „Ich wollte die Menschen lehren, auf den Herzschlag der Erde zu hören, am Leben des Ganzen teilzunehmen und (…) nicht zu vergessen, dass wir nicht Götter (…) sind.“

Hesses Glauben aber, die Natur sei von sich aus gut und gesund, sollte sich als naiv erweisen. Angeblich war es ein Erweckungserlebnis, das den Schriftsteller auf den Monte Verità trieb. Als im April 1907 eine Gruppe von „Sonnenbrüdern“, die mit ihren Jesushaaren, Rübezahlbärten und Gewändern aus Sackleinen an biblische Gestalten erinnerten, durch Gaienhofen zog, soll Hesse den Lockruf „nach Süden“ vernommen haben. Ihr exzentrischer Anführer Gusto Gräser war einer jener Naturapostel, die von den Einheimischen als „Barfußpropheten“, „Kohlrabijünger“ oder mit einem lombardischen Begriff als nicht ernstzunehmende „Balabiotti“, Nackttänzer, verspottet wurden. Der Maler und Bildhauer hatte seine Kunstwerke zerstört und seinen Besitz verschenkt, um fortan auf Wanderschaft durch Europa zu gehen und Jünger um sich zu scharen.

Aus dem Ort soll eine lukrative Naturheilanstalt werden

Aus Bescheidenheit nennt der Sonnenbruder sich „Gras“, weil ein Lebewesen von sich nicht im Plural sprechen soll, als Visitenkarte gibt er Grashalme ab. Nach der Gründung einer „vegetabilen Cooperative“ auf dem mithilfe des belgischen Fabrikantensohns Henri Oedenkoven erworbenen Berg kommt es zum Zerwürfnis zwischen Gräser und den anderen. Oedenkoven und seine Freundin Ida Hofmann wollen aus dem Ort eine lukrative Naturheilanstalt machen. Gräser will sofort frei leben. Es ist der alte, in der Gegenkultur bis heute ausgetragene Kampf zwischen Realpolitik und Fundamentalismus, bei dem am Ende meist der Fundi verliert. Gräser begibt sich wieder auf Wanderschaft und zieht dann in eine Höhle, die ihm die Gemeinde Losone zur Verfügung stellt. Gerhart Hauptmann setzt ihm mit seinem Roman „Der Narr in Christo Emanuel Quint“ ein Denkmal, Hermann Hesse, für den Gräser eine Zeit lang zum Guru wird, feiert ihn als „Waldmensch mit dem dritten Auge“.

„Hierher solltest Du auch kommen“, schreibt Hesse im April 1907 begeistert vom Monte Verità an seinen Gaienhofener Malerfreund Max Bucherer. „Hier bewohne ich eine eigene Holzhütte allein, ganz im Grünen, und habe Ruhe und Freiheit genug. Dabei lebe ich streng abstinent und vegetarisch, was mir hier ganz leicht fällt.“ Am Bodensee hat er sein halb fertiges Haus und eine schwangere Ehefrau zurückgelassen.

Doch die pittoreske Aussicht kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kur in der Aussteigersiedlung, die sich 1902 für zahlende Gäste geöffnet hat, ein entbehrungsreiches Unternehmen ist. Sein Wasser muss sich Hesse aus einem Tümpel holen und sich von dem ernähren, was die Natur bietet, streng den Regeln folgend, die Paul Andries, ein Vorreiter des Vegetarismus, 1893 aufgestellt hat: „Der Mensch soll nur von den Früchten der Bäume, von Beeren und von den leicht verdaulichen, in rohem Zustande genießbaren Gemüsen leben.“ Die Matratze in seiner „Licht-Luft-Hütte“ improvisiert Hesse aus Laub und Zweigen.

In der Natur herrschen Darwins Gesetze, nicht Rousseaus Utopien

Der Schriftsteller Hermann Hesse flirtete kurz mit der Lebensreform-Idee.
Der Schriftsteller Hermann Hesse flirtete kurz mit der Lebensreform-Idee.

© picture alliance / dpa

Sich frei zu machen, um frei zu leben, das war der Plan. Mit seinen Kleidungsstücken wollte der Schriftsteller auch die Zwänge der Zivilisation abstreifen, aber auch nackt spürt er, wie sehr er noch an sein altes Leben gebunden ist. Er träumt von Wannenbädern und frisch bezogenen Betten, ausgehungert kreisen seine Gedanken um fetttriefendes Essen und, wie er auf einem mitgebrachten Zettel notiert, um „eine Zigarre und eine Flasche weißen, kühlen Moselwein“. Hinter der Verzichtsrhetorik der Monte-Verità-Bewohner lauert bereits der Hedonismus der Toskana-Fraktion. In seiner kurz nach dem vierwöchigen Aufenthalt geschriebenen autobiografischen Erzählung „In den Felsen. Notizen eines Naturmenschen“ beschreibt Hesse seine Desillusionierung. „Als ich herkam und meine Kleider in den Rucksack steckte und nackt, nur mit Sandalen und einem Hut bekleidet, meine Kur begann, hatte ich sehr unternehmende und fröhliche Gedanken.“ Es folgen Torturen. Die Sonne verbrennt die Haut des Kurgastes, sein Kopf schmerzt und fiebert, die Nächte bleiben zunächst schlaflos. Vor allem die Hoffnungen auf ein neues seelisches Gleichgewicht werden enttäuscht. „Ich hatte mir das, was ich die ,Natur‘ nannte, gar freundlich und mütterlich und gütig gedacht, und nun hatte diese Natur nichts als Dornen, Qualen und Verhöhnung für mich.“

In der Einsamkeit ist es schwer, sich selbst zu entkommen. Der moderne Mensch kann nicht einfach zur Natur zurückkehren. Denn dort geht es wirklich „rau und urtümlich zu“, es herrschen Darwins Gesetze, nicht Rousseaus Utopien. Allerdings scheiterte Hesses Selbsttherapie auf dem Monte Verità auch an handfesten politischen Gründen. Mit den kollektivistischen Idealen der Gründer wusste der strikt individualistisch gesinnte Schriftsteller, der sich als „Einzelgänger für Millionen“ sah, wenig anzufangen.

Der Monte Verità, von den Gründern der Siedlung so benannt, weil sich dort die Wahrheit offenbaren sollte, war ein Felsen, an dem viele Träume zerschellten. Auch Erich Mühsam musste sich rasch von seiner Vision eines „großen sozialen Versuchs“ in der oberitalienischen Natureinsamkeit verabschieden, die er als Gegenwelt zum wilhelminischen Obrigkeitsstaat sah . Der Schriftsteller, der in Berlin als Redakteur für die anarchistischen Zeitschriften „Der arme Teufel“ und „Der Weckruf“ gearbeitet hatte, begab sich 1904 aus Angst vor den preußischen Zensurbehörden auf Wanderschaft gen Süden. Wieder einmal nahezu mittellos, verschickte er Pump- und Bettelbriefe und wurde von dem Berliner Arzt und SPD-Stadtverordneten Raphael Friedeberg nach Ascona eingeladen. Der Gastgeber verschrieb Mühsam sogleich eine Rohkosttherapie im Oedenkoven’schen Sanatorium (Mühsam: „Salatorium“) auf dem Monte Verità.

Mühsam vermisst Sinn und Sinnlichkeit

Nach Hause schreibt der Bohemien, er wolle für ein Weilchen „Naturmensch spielen“. Darunter versteht er eher die Rolle eines teilnehmenden Beobachters. Die Distanz zu den Ideen der Lebensreformbewegung kann er nicht überwinden, auch wenn eine Postkarte ihn auf einem Mühlenrad hockend zeigt, neben anderen Kurgästen, so, wie Gott sie erschuf. Der vollbärtige Schriftsteller starrt befremdet in die Kamera. Genüsslich spottet er über seine erste Begegnung mit einem Lebensreformer in Ascona, einem Hybridwesen aus Heilserwartungsvergangenheit und Maschinenzukunft. In Benzingestank eingehüllt „flog eine menschliche Gestalt vorbei, ein verzeichneter Christus, Bart und Mähne im Wind flatternd, Leinenkittel, Leinenhose bis zu den Knien, die behaarten Beine nackt, und die Sandalen auf den Pedalen eines ungefügen fauchenden Motorrades“.

Mühsam vermisst unter den Asketen vom Monte Verità Sinn und Sinnlichkeit. Der Vegetarismus mochte gesund sein, aber – davon ist Mühsam überzeugt – er macht auch impotent. Seine eigene Rohkosttherapie bricht er mit einem Gelage ab, bestehend aus Beefsteak, Wein und Zigarre. Sarkastisch hat er den Verteidigern des Verzichts „Der Gesang der Vegetarier. Ein alkoholfreies Trinklied“ gewidmet: „Wir essen Salat, ja wir essen Salat / Und essen Gemüse von früh bis spat. / Auch Früchte gehören zu unsrer Diät. / Was sonst noch wächst, wird alles verschmäht.“

Der satirische Tonfall kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie sehr Mühsam das Scheitern des sozialen Experiments bedauert haben muss. Der Schriftsteller, der das italienische Dolce far niente zur „Verweigerung der Arbeitskraft“ verklärte, hatte gehofft, im Tessin eine mustergültige anarcho-kommunistische Siedlung verwirklichen zu können, wie sie auch seinem Freund Gustav Landauer vorschwebte. Doch schon 1905 musste er eingestehen: „Aber so wünschenswert das Experiment auch wäre, einmal mit einer genügenden Anzahl Menschen in primitiver Gemeinschaft, unter Ausschaltung aller kapitalistischen Hilfsmittel, ein Zusammenleben auf eigene Faust zu bewirken, (…) so ist doch Ascona nicht der rechte Fleck dazu.“

Monte Verità ist am Unternehmergeist der Gründer gescheitert

Erich Mühsam wollte ein Weilchen „Naturmensch spielen“ und kam 1904 nach Ascona.
Erich Mühsam wollte ein Weilchen „Naturmensch spielen“ und kam 1904 nach Ascona.

© picture alliance / dpa

Zugrunde gegangen ist laut Mühsam die Idee eines wirklich gleichberechtigten Zusammenlebens am Unternehmergeist der Gründer, der stärker war als die Strahlkraft der Utopie. Ähnliches war zuvor schon bei der von den Brüdern Julius und Heinrich Hart ins Leben gerufenen Vorortkommune der Neuen Gemeinschaft am Berliner Schlachtensee geschehen, die sich in eine „Hotelpension mit ethischem Firmenschild“ verwandelt hatte. Auch am Monte Verità diagnostiziert Mühsam bereits den Übergang zum „kapitalistischen Spekulationsunternehmen“. Seine Erlebnisse verarbeitet er 1906 im Lustspiel „Die Hochstapler“, wo Ascona wegen einer angeblich sprudelnden Petroleumquelle in die Hände habgieriger Ausbeuter fällt.

Mühsam stand mit seiner Ernüchterung nicht allein. Denn mehrheitlich wollte die Lebensreformbewegung, wie sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer deutlicher zeigte, weniger die Gesellschaft verändern als den Menschen. Die Besitzverhältnisse sollten unangetastet bleiben, Ziel war eine alternative Moderne, in der der Einzelne wieder „im Einklang mit der Natur“ leben konnte. Helfen würden dabei Sport, gesunde Ernährung und frische Luft, aber sicher nicht revolutionäre Parolen. Bezeichnenderweise handelt es sich bei der einzigen bis heute existierenden Lebensreform-Kommune um die Obstbau-Siedlung Eden, die 1893 von 18 Berliner Vegetariern in Oranienburg gegründet wurde. Im Sinne des Glaubensbekenntnisses „Das Paradies ist ein Garten“ werden dort Äpfel, Beeren, Erdbeeren und Gemüse zur Selbstversorgung angebaut.

Die meistverkauften Lebensreformbücher haben mit Politik nichts zu tun, es sind Ratgeber, Kochbücher und naturheilkundliche Handbücher. Von Gustav von Bunges Vortrag „Die Alkoholfrage“ waren bis 1914 bereits 220 000 Exemplare verkauft, „Das neue Naturheilverfahren“ von Friedrich Eduard Bilz erschien 1902 in einer „Million-Jubiläums-Ausgabe“.

Kafka war gern ein Kunde

„Hier ist es schon schön, aber ich bin genug unfähig und traurig. Das muß nicht endgiltig sein. Jedenfalls reicht es zum Schreiben noch lange nicht“, schreibt Franz Kafka am 10. Juli 1912 an seinen Freund Max Brod. „Dagegen macht mir das Haus viel Vergnügen. Der Fußboden ist ständig mit Gräsern bedeckt, die ich hereinbringe. (…) Wenn man das Klatschen nackter Füße im Gras nicht kennt, so ist, wenn man im Bett liegt, ein vorüberlaufender Mensch wie ein dahineilender Büffel anzuhören.“ Der empfindsame Prager Schriftsteller hatte sich für drei Wochen im Naturheilsanatorium „Justsche Kuranstalt Jungborn“ bei Stapelburg im Harz eingemietet, die in einem Werbeprospekt als „Heimstätte und Musteranstalt für reines Naturerleben“ angepriesen wurde.

Bei der hochtrabend als Haus bezeichneten Unterkunft handelte es sich um ein „Lichtlufthäuschen“ aus Holz, das sich nach allen Seiten durch Luken und Fenster öffnen ließ. Gegründet worden war die Anlage 1896 vom Buchhändler Adolf Just, der einen Bestseller mit dem programmatischen Titel „Kehrt zur Natur zurück“ veröffentlicht hatte. Sein Credo lautete, dass Heilung nur zu erwarten sei, wenn der Körper täglich so lange wie möglich Licht und Luft ausgesetzt wurde.

Deshalb hatten sich die Gäste des Kurbetriebs nackt auf dem Gelände zu bewegen, wobei Herren- und Damenluftpark durch bis zu drei Meter hohe Holzwände voneinander getrennt waren. Kafka fiel es anfangs schwer, seine Badehose abzulegen, zumal er dadurch sofort als Jude zu erkennen war. Doch dann beteiligte er sich am Mähen, Heuwenden und an gemeinsamen Ausflügen, er sang Choräle und stieg bei der Obsternte hoch in einen Kirschbaum. Von seiner Schreibblockade befreien konnten die Aktivitäten den Schriftsteller, der an der ersten Fassung seines Romans „Der Verschollene“ arbeitete, allerdings nicht. Er litt an Untergewicht, noch kurz vor dem Sanatoriumsaufenthalt hatte er in seinem Tagebuch notiert: „Gewichtlos, knochenlos, körperlos zwei Stunden lang durch die Gassen gegangen.“ Trotzdem war er davon überzeugt, sein Hauptleiden bestehe darin, dass er zu viel esse: „Ich stopfe mich wie eine Wurst, wälze mich im Gras und schwelle in der Sonne an.“

Anders als Hesse und Mühsam war Kafka ohne philosophische oder politische Heilserwartung zur Kur gefahren. Es ging ihm nur darum, seinen hageren Körper zu stählen. Dazu gehörten die fleischlose Kost, die er auch zu Hause einnahm, das regelmäßige Turnen und das sogenannte „Fletschern“, ein akribisches, minutenlanges Kauen jedes einzelnen Bissens. Mit seiner pragmatischen Haltung steht der Schriftsteller für den sich wandelnden Zeitgeist am Ende der Kaiserzeit. Das Projekt Lebensreform hatte die Aura des Widerständigen verloren, es war jetzt bloß noch ein Angebot, und Kafka war gern ein Kunde. Unternehmer wie Just machten aus der Natursehnsucht der Arbeiter- und Angestelltengesellschaft eine florierende Geschäftsidee. In seinem „Jungborn-Versandhaus“ verkaufte er neben Weizenschrotbrot, Fruchtkaffee oder „Adolf Just’s Nussbutter“ auch „naturgemäße“ Unterwäsche und Badewannen.

Nicht die Welt, sondern das Ich soll verbessert werden

Fachlektüre von 1898.
Fachlektüre von 1898.

© akg-images

Die Erinnerung an die Lebensreformbewegung hat immer wieder Konjunkturen erlebt. Während die 68er-Generation in den barfüßigen Propheten vor allem Protohippies aus Kaiserzeit und Weimarer Republik sah, die am „Sprung vom Ich zum Wir“ (Harald Szeemann) arbeiteten, interessierten sich die New-Age-Aktivisten zehn Jahre später mehr für die esoterischen und spirituellen Botschaften.

Gerade erleben die Lebensreformideen eine erneute Renaissance, wie sich an den Büchern, Ausstellungen und Tagungen zeigt, die ihnen in den letzten Jahren gewidmet waren. Kulturell haben die Lebensreformer auf vielen Feldern gewonnen, politisch aber – ähnlich wie die 68er – verloren.

„Die Glückseligkeit unseres Daseins kann nur in der Beziehung zur Natur bestehen“, dieses Postulat, das der Schriftsteller Andreas von Wagner 1912 in der Zeitschrift „Die Schönheit“ verkündete, sollte sich auch im Angebot von einheimischem, unbehandeltem Obst und Gemüse im Reformhaus erfüllen, von dem aus ein direkter Weg zu den Biosupermärkten und dem Urban Gardening unserer Tage führt. Naturheilkunde und Nacktbaden haben sich genauso durchgesetzt wie Yoga und vegetarische oder vegane Ernährung. Um den politischen und sozialen Impetus der Lebensreformer geht es heute jedoch genauso wenig wie um ihren philosophischen Ansatz. Nicht die Welt, sondern das Ich soll verbessert werden. Achtsamkeit und Resilienz lauten die modischen Stichworte. Die Arbeit am eigenen Körper, wie Kafka sie in der Kuranstalt Jungborn betrieb, endet in der Selbstoptimierung.

Weil sie so heterogen ist, lässt sich die Lebensreformbewegung ideologisch von allen Seiten vereinnahmen. Anarchisten fühlten sich von ihr angezogen, aber auch völkische Agitatoren, die mit ihren Angriffen auf Demokratie und Parteiensystem Hitler den Weg bereiteten. Heute vertreibt der für Verschwörungstheorien bekannte Kopp-Verlag ebenso Lebensreformbücher wie es die Website „Links Lesen“ tut. Nachdem die Anfänge am Monte Verità und im Münchner Stadtteil Schwabing lagen, entwickelte sich spätestens mit dem Ende des Ersten Weltkriegs Berlin zum Zentrum der Bewegung. Die Hauptstadt, in der 1901 mit der Gründung eines „Ausschusses für Schülerfahrten“ die Wandervogel-Bewegung begonnen hatte, fungierte als Zentrum aller Visionen, die dann meist in Brandenburg ausprobiert wurden.

Bei Rheinsberg und Neuruppin gab es Siedlungen

Mitunter berührten sich dort die Extreme. „Heimland“ nannte sich eine völkische Siedlung, die auf einem 117 Hektar großen Gelände bei Rheinsberg entstand. Sie war das ehrgeizige Projekt des Publizisten Theodor Fritsch, der die antisemitische Zeitschrift „Hammer“ herausgab. Ihm schwebte eine „Stadt der Zukunft“ als „Pflanzschule deutschen Lebens“ vor. Pläne zeigen eine ringartige Bebauung, die einen radialförmig organisierten Stadtkern umschließt. Auch an eine Untertunnelung war gedacht, mit der Lasten unterirdisch transportiert werden sollten. Entstanden sind allerdings nur elf Häuser.

1926 wurde die Genossenschaft liquidiert. Gescheitert ist Heimland am Frauenmangel und an den fehlenden landwirtschaftlichen Kenntnissen der „Hammerleute“. Etwas später und nur einige Kilometer entfernt wurde bei Neuruppin die Freiland-Siedlung Gildenhall verwirklicht. Sie sollte eine Handwerker-Mustersiedlung werden, entworfen unter anderem von den Architekten Otto Bartning und Adolf Meyer, und zog Künstler aus dem Werkbund und vom Bauhaus an. Ihr „groteskes Ballett“ orientierte sich an Oskar Schlemmer. Erstaunlicherweise pflegte das eher linksutopische Gildenhall freundschaftliche Kontakte mit dem rechtselitären Heimland.

Bei Güstrow kämpfen Siedler gegen Gentechnik und singen Volkslieder

Das ideologische Erbe der Lebensreformbewegung haben reaktionäre, rechtsradikale und neovölkische Aktivisten angetreten. Dazu gehören Siedlungsprojekte vor allem in Ostdeutschland. So haben einige Familien, die sich selber „Neo-Artamanen“ nennen, bei Güstrow in der Mecklenburgischen Schweiz leer stehende Bauernhöfe aufgekauft. Sie produzieren Kleidung aus Wolle und Filz, verkaufen ökologische Baustoffe, kämpfen gegen Gentechnik und singen alte Volkslieder. Das Kunstwort Artam steht für „die Erneuerung aus den Urkräften des Volkstums, aus Blut, Boden, Sonne und Wahrheit“. 1926 gegründet, war der Bund Artam die einzige aus der bündischen Jugendbewegung hervorgegangene Organisation, die nach 1933 nicht verboten wurde. Der Grund: prominente Nationalsozialisten wie Heinrich Himmler, Richard Walther Darré oder der spätere Auschwitz-Kommandant Richard Höß waren Mitglieder.

Die heutigen Siedler sehen sich – mit einem Begriff des Artam-Gründers Willibald Hentschel – als „ritterliche deutsche Kampfgemeinschaft auf deutscher Erde“. Sie wollen „möglichst artgerecht leben“, es gelten traditionelle Geschlechterrollen und alte Feindbilder. Ähnliche Wohngemeinschaften gibt es einige, bis hin zu den selbst ernannten Reichsbürgern, Aussteigern, die behaupten, nicht mehr auf dem Territorium der Bundesrepublik zu leben. Utopien – das zeigt die Geschichte der Lebensreformbewegung – können reaktionär sein.

Die Dauerausstellung auf dem Monte Verità ist vor Kurzem nach achtjähriger Renovierung wiedereröffnet worden. Noch bis zum 31. Oktober. monteverita.org

Zur Startseite