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Ist das wirklich passiert? Jeder erfinde spontan kreative Erklärungen, um Lücken im Gedächtnis aufzufüllen, meint Shaw.

© imago/Westend61

Gedächtnisforschung: "Ich misstraue meinen eigenen Erinnerungen"

Julia Shaw, 29, hat unschuldigen Menschen Erinnerungen an ein Verbrechen eingepflanzt. Die Psychologin über Gedächtnis-Manipulation, Amnesie und Eselsbrücken.

Frau Shaw, was ist Ihre erste Erinnerung?

Ich liege im Kinderbett, mit einem blauen Bär. Wenn man an ihm zieht, und das mache ich wieder und wieder, dann erklingt ein Lied.

Sie schreiben, ein Erwachsener könne sich an nichts vor seinem zweiten, dritten Lebensjahr erinnern. Das heißt, Sie haben sich den Bären bloß eingebildet?
Ob sich die Szene so ereignet hat? Keine Ahnung. Den Musik-Bären gibt es tatsächlich, ich besitze ihn bis heute. Ich weiß also genau, wie er aussieht. Wahrscheinlich habe ich deshalb diese Vorstellung im Kopf. Vielleicht habe ich auch mehrere Situationen in einer Szene zusammengebracht. Meist erinnere ich mich aber eher an Ideen und Gespräche als an konkrete Bilder.

Nicht nur in Bezug auf die Kindheit lautet das Fazit Ihrer Forschung: „Die Frage ist nicht, ob eine Erinnerung falsch ist – sondern wie falsch sie ist.“

Diese Erkenntnis war für mich befreiend: dass die Vergangenheit eh eine Fiktion ist. Das Gehirn verändert unsere Erinnerungen ständig. Die wissenschaftliche Methode, die ich nutze, kommt seit den 80er Jahren zum Einsatz. Die amerikanische Psychologin Elizabeth Loftus hat Testpersonen so Kindheitserinnerungen eingepflanzt. Es ist ein Prinzip, das das Vorgehen von Therapeuten mimicked… Verzeihung, wie sagt man auf Deutsch?

Nachahmen.
Ah ja, danke! Sie können meine Sprache gern verbessern. Mein Vater ist Kanadier, meine Mutter Deutsche. Als kleines Kind und als Teenager habe ich in Deutschland gelebt, mein Abitur in Köln gemacht. Heute wohne ich in London und spreche fast nur noch Englisch.

Was haben Sie sich denn von den Therapeuten abgeschaut?
Es geht um suggestive Befragungsmethoden. Das betrifft aber nur manche Therapeuten, nicht alle. Stellen Sie sich vor, Sie leiden unter etwas und suchen Hilfe. Besonders wenn es um Depressionen, Angstzustände oder Essstörungen geht, erklärt Ihnen der Therapeut möglicherweise: Ihr Problem wurzelt in Ihrer Kindheit, Sie haben ein Trauma. Oder sogar: Sie wurden missbraucht. Wenn der Patient meint, da sei nichts gewesen, heißt es: Doch, doch, versuchen wir, diese verschüttete Erinnerung auszugraben, stellen Sie sich mal detailliert vor, was passiert sein könnte. So baut sich über Wochen eine falsche Erinnerung auf, die sich absolut echt anfühlt.

In der Studie, mit der Sie bekannt wurden, haben Sie den Probanden weisgemacht, sie hätten ein Verbrechen begangen. Hat Sie da nicht das schlechte Gewissen gequält?
Es war mir ganz wichtig, dass danach niemand mit einem Trauma herumläuft. Jeder Schritt war genau geplant, natürlich auch die Auflösung am Ende.

Julia Shaw habe wenig Kindheitserinnerungen, sagt sie.
Julia Shaw habe wenig Kindheitserinnerungen, sagt sie.

© Mike Wolff

70 Prozent der Leute gestanden eine fiktive Straftat, die Sie geschickt in reale Ereignisse, Daten und Fakten eingebettet hatten. Sie erinnerten sich immer detaillierter an etwas, das nie passiert ist. Man vermutet gemeinhin, je plastischer eine Erinnerung, desto wahrer muss sie sein. Ein Trugschluss?
Nein, mehr Details sind oft ein Indiz für den Wahrheitsgehalt. Aber eben nicht immer. Am zuverlässigsten sind Erinnerungen, die noch so wenig wie möglich von anderen Menschen beeinflusst wurden. Wenn man etwas erlebt hat, an das man sich unbedingt erinnern will – oder sogar muss –, sollte man es sofort aufschreiben oder diktieren. Und zwar allein und so detailliert wie möglich.

Waren die Probanden nach der Auflösung sauer?
Sie waren alle bloß sehr erleichtert. Viele sind später sogar in meine Seminare gekommen, weil sie wissen wollten, wie ihnen das passieren konnte.

Auswirkungen haben Ihre Erkenntnisse vor allem für Polizei und Justiz, für die Sie auch Workshops geben. Wie reagiert man da auf Sie?
Als Wissenschaftler wird man nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen. Teilweise sind wir daran selber schuld. Doch das Verständnis dafür, dass die Erinnerung wichtig ist für den Verhörprozess, und das Bewusstsein für die Gefahr der Manipulation durch suggestive Fragen, nicht zuletzt durch die Wortwahl, wächst.

Auch in Deutschland?
Hier arbeite ich für die Bundeswehr, die Abteilung für interkulturelle Einsatzberatung. Spione – oder halbe Spione, die ins Ausland gehen, um Informationen zu sammeln. Die reden etwa mit Warlords in Afghanistan, um zu schauen, wer wen nicht mag und wo sich vielleicht ein Konflikt entwickelt.

Werden Dinge dort anders erinnert?
Ja. In nicht-westlichen Ländern wird weniger aufgeschrieben. In solchen mündlichen Kulturen ist der soziale Prozess der Erinnerung ausgeprägter: Für die Menschen ist es ganz selbstverständlich, dass es verschiedene Realitäten gibt und man sich erstmal gemeinsam auf eine Version einigen muss. Also setzt man sich zum Beispiel unter einen Baum und berät. Auf Dauer verfälscht das natürlich auch die Historie eines Stammes oder Landes.

Im Westen gibt es seit ein paar Jahrzehnten das Konzept der „Oral History“, Erinnerungen einfacher Menschen – als wichtige Ergänzung zu Zahlen, Fakten und der Geschichtsversion der Mächtigen.
Hier in Deutschland ist ja das Wort Zeitzeuge beliebt. Das habe ich noch nie gehört in einem anderen Land. Eine schöne Idee, man sollte aber berücksichtigen, dass auch Zeitzeugen falsche Erinnerungen haben können. Sich dessen bewusst zu sein, ist ein wichtiges Mittel, um Fehler zu vermeiden.

"Wir confabulieren alle"

Durch suggestive Befragung kann man falsche Erinnerungen wecken, zum Beispiel an ein Verbrechen, das nie begangen wurde.
Durch suggestive Befragung kann man falsche Erinnerungen wecken, zum Beispiel an ein Verbrechen, das nie begangen wurde.

© Patrick Seeger/dpa

Sie sind 29 Jahre alt und gelten als „Shootingstar der Gedächtnisforschung“. Wie kamen Sie überhaupt zu diesem Thema?
Mein Vater ist psychisch krank. Nach dem 11. September ist er komplett abgestürzt. Seine Realität war eine völlig andere als die, die wir erlebt haben. Ich wollte verstehen, wie man dasselbe so unterschiedlich wahrnehmen kann. Ursprünglich wollte ich Therapeutin werden. Doch bei einem Praktikum bekam ich Zweifel an der Methode, ich hatte nicht das Gefühl, Menschen wirklich helfen zu können. Es fühlte sich an wie Kaffee trinken gehen: einfach nett zuhören, wie ein Freund. Ich fand’s langweilig und hatte das Gefühl, mir fehlen die richtigen Instrumente. Ich wollte in die Forschung.

Und warum in London?
Für Rechtspsychologen ist England ein Traum! Ich wäre nicht überrascht, wenn es dort mehr rechtspsychologische Studiengänge gäbe als im Rest der Welt zusammen. Die englische Polizei arbeitet auch aktiv mit Akademikern zusammen. Ich glaube, die Briten sind selbstkritischer als andere, ihr Humor ist es ja auch.

Sie arbeiten als Gutachterin in Gerichtsprozessen. Was war Ihr bisher extremster Fall?
Ich sehe wahrscheinlich nur die extremen Fälle. Erst wenn etwas ganz Unglaubwürdiges passiert ist oder sein soll, kommen Anwälte auf die Idee, mich dazuzuholen. Gerade arbeite ich an einer Geschichte in Amerika. Ein Anwalt, der von seiner Tochter angeklagt wurde: Als sie zwei Jahre alt war, soll er sie vergewaltigt haben. Zudem hätte er andere Mädchen entführt, zerstückelt und im Wald vergraben. In der Therapie, in die sie sich wegen einer Depression begeben hatte, sei das alles wieder hochgekommen. Ihr Therapeut hatte ihr geraten, sich mal die Website mit vermissten Kindern anzuschauen. Angeblich hat sie zwei der dort abgebildeten Mädchen erkannt. Von da an wurde es immer expliziter. In meinen Augen ist das alles hoch problematisch.

Läuft man mit Ihrer Skepsis nicht Gefahr, niemandem mehr Glauben zu schenken – auch den echten Opfern nicht?
Man muss sehr vorsichtig sein. Andererseits kann man auch nicht sagen: Es gibt keine weiteren Beweisstücke, nur eine Erinnerung, das reicht uns. Jemand, der mir erklärt, was ihm mit zwei Jahren passiert ist – als Richter wäre mir das nicht genug.

Nicht nur die Erinnerung an die ersten Lebensjahre geht später verloren …
…. ja, bis dreieinhalb gibt es wie gesagt meist eine Komplettamnesie, bis etwa zwölf Jahren eine Teilamnesie. Der Grund dafür ist, dass sich das Gehirn in diesem Alter noch stark verändert.

Auf der anderen Seite erinnern sich Alzheimerkranke plötzlich an Details von ganz früher.
Meist aus ihrer Jugend. Zwischen 15 und 25, das sind prägende Jahre, aus dieser Zeit stammt ein großer Teil unserer Erinnerungen. Warum sind vor allem die bei Alzheimerkranken noch da? Die älteste Erinnerung verschwindet als letzte. Familienangehörige sagen oft: Meine Mutter kann sich doch noch gut an den Krieg erinnern, so schlimm kann es nicht sein! Dabei ist das eher ein schlechtes Zeichen. Denn die Menschen halten sich umso stärker an den Erinnerungen fest, die sie noch haben. Und die sie auch deshalb noch haben, weil sie so oft davon erzählt haben.

Erfinden Alzheimer-Patienten ihre Vergangenheit?
Sie confabulieren sehr oft, das heißt, sie füllen Lücken auf. So wie wir alle, aber weit dramatischer. Sie erinnern sich an einen Teil ihrer Vergangenheit, vielleicht an ein Gesicht, ein Ereignis – nur haben sie die Verbindung vergessen. Also erfinden sie spontan eine neue Verknüpfung, damit das Ganze irgendwie Sinn macht. Und das machen wir alle. Jeder hat Lücken, die er automatisch auffüllt mit kreativen Erklärungen, mit Sachen, die logisch passen.

Sie unterscheiden ja auch zwei Arten von Gedächtnis, das semantische – Zahlen, Daten, Fakten – und das autobiografische, episodische. Wie stehen die beiden zueinander?
Sie werden separat gespeichert. Dadurch kann man sie auch neu und falsch verknüpfen. Man erinnert sich an eine Reise nach Mexiko – aber verlegt sie ins falsche Jahr.

Die Menschen werden immer älter, fühlen sich in ihren 40ern noch jung. Hat das Auswirkungen?
Was man beobachten kann, ist, dass die Erinnerungen etwa nach einem Wohnungsumzug stärker sind. Wahrscheinlich weil man neue Erfahrungen macht. Je mehr neue Leute und Orte man kennenlernt, desto mehr Erinnerungen sammelt man.

"Lernen im Schlaf ist Quatsch"

Julia Shaw habe wenig Kindheitserinnerungen, sagt sie.
Julia Shaw habe wenig Kindheitserinnerungen, sagt sie.

© Mike Wolff

Wir verändert sich das menschliche Gedächtnis durchs Internet?
Positiv ist, dass durch die sozialen Medien außerhalb des Gehirns Erinnerungen festgehalten werden. So eine externe Festplatte ist super, weil man sich dann auf andere Sachen konzentrieren kann. Die problematische Seite beginnt in dem Moment, wo man sagt, ich mache jetzt ein Foto von diesem Essen, dieser Situation, weil es viele Likes kriegen wird. Wenn man später darauf zugreift, um sich daran zu erinnern, findet man genau diese Erlebnisse, die einem selbst vielleicht gar nicht so wichtig waren. Man filtert durch das soziale Netzwerk das eigene Leben.

Geben Sie uns noch ein paar praktische Gebrauchsanweisungen. Sich neue Vokabeln merken in einer fremden Sprache, wie geht das am besten?
Wiederholen Sie ein Wort nicht nur, sondern versuchen Sie es assoziativ. Malen Sie die Vokabel, interpretieren Sie sie neu, verbinden Sie sie mit einer bizarren Vorstellung. Überhaupt: Schaffen Sie so viele Assoziationen im Gehirn wie möglich.

Sie raten ab vom Multitasking.
Man überschätzt sich oft. Am besten erinnert man sich später, wenn man sich von vornherein mehr Mühe gibt und einer Sache Aufmerksamkeit schenkt. Wichtig ist es, die Erinnerung so multisensorisch wie möglich aufzubauen: Was schmecke ich gerade, was rieche ich? Am Ende hat man eine größere Struktur, auf die man zurückgreifen kann.

Sie schreiben, wenn man beim Lernen Kaffee getrunken hat, sollte man das auch später beim Test tun.
Ja. Denn wenn Sie an eine Information herankommen wollen, sollte sich Ihr Körper nach Möglichkeit im selben Zustand befinden, in dem er diese Info ursprünglich aufgenommen und verarbeitet hat. Deswegen erinnern wir uns, wenn wir traurig sind, auch eher an traurige Sachen.

Lernen im Schlaf – funktioniert das?
Das ist Quatsch. Aber gerade wenn Sie eine neue Sprache lernen wollen, ist das Wichtigste: Schlaf! Wir wissen, dass vor allem Langzeiterinnerungen im Schlaf geformt werden.

Lassen sich unangenehme Erinnerungen, die man gern los wäre, löschen?
Jeder kennt das: Man reinterpretiert Sachen, redet sie sich schön. Die Erinnerung bleibt, aber das Emotionale geht mit den Jahren verloren. Das kann automatisch passieren, mit einer Therapie kann man nachhelfen. Eine Erinnerung komplett zu löschen, wird wahrscheinlich nie möglich sein, denn sie ist über das ganze Gehirn verteilt. Außerdem wollen das, glaube ich, die wenigsten. Man will etwas nicht komplett vergessen, sondern möchte, dass es nicht mehr so negativ ist.

Frau Shaw, sind Sie durch Ihre Arbeit eigentlich besonders misstrauisch geworden?
Ich misstraue Erinnerungen, meinen eigenen und denen anderer. Aber das heißt nicht, dass ich einen negativen Blick habe. Für das normale, persönliche Leben ist meine wichtigste Erkenntnis: Die wahrgenommene und erinnerte Realität ist meine ganz eigene, ob sie stimmt oder nicht. Eine objektive Realität existiert gar nicht. Ich finde es faszinierend, wie unterschiedlich die Erinnerungen sind. Im Alltag ist es auch meistens gar nicht so wichtig, was genau passiert ist. Sondern wie ich es jetzt empfinde. Und diese Erkenntnis finde ich schön.

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