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Erhalten. Noch immer können Besucher im „Viru“ in Tallinns Altstadt übernachten.

© Peter Forsberg / Alamy Stock Photo

Estland: Die Geheimnisse der 23. Etage

Das Hotel Viru in Tallinn hat 22 Etagen – offiziell. Unterm Dach aber unterhielt der KGB bis 1991 eine perfekt getarnte Abhörzentrale.

Am Telefon fehlt die Wählscheibe. Mit Gewalt wurde sie aus dem aufgebrochenen Plastikgehäuse gerissen. Aus Funkgeräten hängen abgetrennte Kabel. Auf dem Schreibtisch liegen Papiere, Stempel, ein übervoller Aschenbecher und eine Gasmaske. Das Chaos zeugt von dem überstürzten Aufbruch in jener kalten Frühlingsnacht des Jahres 1991.

Den zwölf KGB-Offizieren, die in der obersten Etage des eleganten Hotel „Viru“ im Schichtdienst rund um die Uhr fremde Gespräche abhörten, war die Luft über den Dächern Tallinns zu dünn geworden. Die Sowjetunion zeigte bereits starke Auflösungserscheinungen. Vor allem an ihren Rändern.

Am 3. März 1991 votierten die Bürger Estlands in einer Volksabstimmung für die Unabhängigkeit von Moskau. Zwar war das Referendum rechtlich nicht bindend. Doch die Offiziere ahnten, dass ihre Tage im Amt gezählt waren. Sie packten ein, was sie tragen konnten, zerstörten die Telefone und machten sich davon.

Ihr Instinkt hatte sie nicht getrogen: Wenige Monate später, am 20. August 1991, erklärte Estland offiziell seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion; drei Tage später wurde der Geheimdienst KGB verboten. Das Hotel am Altstadtrand stand weiter dort, als wäre nichts geschehen.

Die Schaltzentrale

22 Etagen besaß das „Viru“, der Prachtbau der Hauptstadt der Sozialistischen Sowjetrepublik Estland. So wollte es die Partei. Nun konnte zwar jeder Bewohner Tallinns, wenn er vor dem prunkvollen Gebäude stand, nachzählen, dass es ganz offensichtlich über 23 Stockwerke verfügte. Doch bekanntlich war das Leben im Sowjetreich voller Wunder.

Dazu gehörte nicht nur der Glanz des Hotels. In der 23. Etage unterhielt der KGB die Schaltzentrale, von der er die Überwachung von 80 der 500 Hotelzimmer sowie aller öffentlichen Räume vom Restaurant bis zur Sauna steuerte und auch die Angestellten im Blick behielt.

Hinter einer Tür in der 22. Etage befand sich der Aufgang. All das gab es offiziell nicht, weshalb die Tür zu den Räumen der Geheimdienstler die überzeugende Aufschrift „Hier ist nichts“ trug – auf Estnisch und auf Russisch.

Nachdem die Spione verschwunden waren, vergingen Jahre, bis die Tür wieder geöffnet wurde. Zunächst wusste niemand so recht, was man mit dem eigenartigen Überbleibsel aus der Vergangenheit anfangen sollte, und schloss die nur über eine Treppe erreichbare Etage wieder ab. Im Jahr 2011 wurde die bis zum vollen Aschenbecher unverändert belassene Abhörzentrale im 23. Stockwerk zum Herzstück des neuen KGB-Museums.

Jedes Wort

Der KGB war Estland quasi als Nachschlag zum sowjetischen System serviert worden. Bereits 1940 hatte die Sowjetunion Estland, wie auch Lettland und Litauen, annektiert. Der Geheimdienst KGB, auf Deutsch „Komitee für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR“, entstand indessen erst 1954. In ihm fassten die Sowjets Inlandsgeheimdienst, Teile des Innenministeriums und das seit 1946 bestehende Ministerium für Staatssicherheit zusammen.

Beherrscht. Die KGB-Zentrale in Moskau legte die Zimmerpreise fürs Hotel Viru in Estlands Hauptstadt fest.
Beherrscht. Die KGB-Zentrale in Moskau legte die Zimmerpreise fürs Hotel Viru in Estlands Hauptstadt fest.

© AFP

Seine Aufgaben: Auslandsspionage, Überwachung von Regimegegnern im Inland und Bewachung von Regierung und Parteiführung. Immer wieder gelang es dem KGB, „Maulwürfe“ in Geheimdienste des westlichen Auslands einzuschleusen oder dort Mitarbeiter zu rekrutieren. Wie etwa den Amerikaner Aldrich Ames, der seit den 60er Jahren als CIA-Mitarbeiter auch in Diensten des KGB stand und erst 1994 – drei Jahre nach dem Ende des Komitees am 6. November 1991 – enttarnt wurde.

Neben Auslandsspionage und Spionageabwehr gehörte ab den 60er Jahren die Kontrolle von Medien, Kirchen, Kultur und geistigem Leben zu den Schwerpunkten der KGB-Arbeit. Dank zahlreicher Verbindungsleute entstand ein veritabler Überwachungsstaat. Abweichler auf Linie zu bringen, zählte auch zu den Aufgaben, die Wladimir Putin als KGB-Offizier in Leningrad erfüllte, bevor er in den 80er Jahren in die DDR versetzt wurde.

Heute lüften im Hotel „Viru“ täglich englischsprachige Guides in meist ausverkauften Touren die Geheimnisse des ersten sowjetischen Varietés in der 22. Etage des Hauses – inzwischen ist der beliebte Club „Café Amigo“ dort ansässig – und zeigen die in Lampen und Aschenbechern versteckten Mikrofone. Diese übertrugen jedes Wort der Hotelgäste aus den öffentlichen Räumen in die 23. Etage.

Derzeit ist es die 1973 in Tallinn geborene Hotelangestellte Eva, die die Besucher in den Aufzug nach oben schickt und erzählt. Das besondere Interesse des KGB galt Politikern und Journalisten, aber auch prominenten Gästen wie Liz Taylor, Neil Armstrong und Nana Mouskouri.

Geld spielte schon beim Bau keine Rolle

Ausgestellt. Museumsführerin Eva präsentiert die Überbleibsel der Überwachungstechnologie.
Ausgestellt. Museumsführerin Eva präsentiert die Überbleibsel der Überwachungstechnologie.

© S. Bisping

Die Führung ist eine Zeitreise in eine von Paranoia geprägte Welt, in der kaum etwas war, wie es schien. Jeder war grundsätzlich verdächtig. Das Hotel „Viru“ wurde sogar eigens als systemimmanente Parallelwelt erbaut, damit auch Ausländer bei Besuchen in Tallinn an den vermeintlichen Errungenschaften des Sowjetreichs teilhaben konnten. Denn das Leben in der sozialistischen Sowjetrepublik war zu schön, um wahr zu sein.

Geld spielte schon beim Bau keine Rolle. Weil das Ganze auch halten sollte, beauftragte man eine finnische Firma. Die politisch neutralen Finnen hatten den Anstoß zur Wiedergeburt des Tourismus gegeben. 1964 schlug ihr Präsident Urho Kekkonen bei einem Besuch vor, die durch die neue Weltordnung gekappte Fährverbindung zwischen Tallinn und Helsinki wiederaufzunehmen. Finnen, die bis heute die größte Besuchergruppe der estnischen Hauptstadt stellen, mussten seinerzeit über St. Petersburg nach Tallinn reisen; ein lästiger Umweg, da die beiden Hauptstädte nur ein 80 Kilometer langer Seeweg trennt.

Die Nähe zur freien Welt war der Grund, warum fast die gesamte estnische Küste Sperrgebiet darstellte; die Bewohner der meisten Inseln hatten sogar aufs Festland übersiedeln müssen. Zu groß war die Angst, dass die glücklichen Sowjetbürger im Winter übers zugefrorene Meer fliehen würden. Touristen aber waren willkommen. Deshalb ging bald nach dem Besuch des Präsidenten die erste Fähre aus Helsinki vor Anker. Allerdings fehlte ein Hotel, das den Ansprüchen westlicher Reisender genügen würde.

Drei Jahre brauchte die Baufirma aus dem Nachbarland, um gleich hinter der mittelalterlichen Stadtmauer Tallinns ersten Wolkenkratzer hochzuziehen. Im Jahr 1972 war nicht nur das Hotel fertig, es hatte auch jeder zehnte Bauarbeiter eine Estin geheiratet und in die Heimat mitgenommen. Schwund, den man wohl oder übel akzeptieren musste.

Das Hotel blieb 20 Jahre lang eines der fünf besten im Sowjetreich, es galt als Perle der sowjetischen Reiseagentur Intourist. Alle Ausländer sollten hier logieren, Devisen ins Land spülen und daheim vom Wohlleben in der sowjetischen Republik berichten; zugleich war es praktisch, sie alle auf einmal im Blick zu haben.

Überstürzt. Als die KGB-Offiziere 1991 abzogen, zerstörten sie die manipulierten Wählscheiben.
Überstürzt. Als die KGB-Offiziere 1991 abzogen, zerstörten sie die manipulierten Wählscheiben.

© S. Bisping

Die 80 verwanzten Zimmer waren außer für Journalisten und Politiker auch für im Ausland lebende Esten reserviert, die Verwandte in der alten Heimat besuchten. 1000 Mitarbeiter hatte das Haus, das sich heute als Teil der finnischen Gruppe Sokos Hotels 250 Angestellte leistet.

Nur Friseure und Kellner durften mit den Gästen sprechen

Schuhmacher und Schneider, Friseure und Spitzenköche täuschten im Hotel Überfluss vor, von dem in der Stadt niemand etwas mitbekam. Französischer Wein und amerikanische Zigaretten waren hier frei verfügbar, während sich die Menschen draußen mit der Rationierung von Kartoffeln, Mehl und Fleisch plagten.

Reisegruppen aus dem Ausland wurden am Hafen abgeholt und ins Hotel gebracht. Nur Friseuren und Kellnern war es erlaubt, mit ihnen zu sprechen – aber niemals über Politik. Das wollte sowieso keiner. Denn in diesem Hotel blieb wenig ungehört. Ein Foto an der Wand des heutigen Museums zeigt eine Dame, die allein an einem Tischchen sitzt, vor sich eine Kladde mit Notizen und ein Telefon. Sie war einer der Etagenwarte, die in jedem Stockwerk ein Auge auf die Gäste hatten.

Ein anderer Job, der Estlands Unabhängigkeit nicht überdauerte, war der des Zutatenauswiegers. Er trug dafür Sorge, dass jede Fleischportion genau 75 Gramm wog, Hühnchen nach Kiewer Art hingegen musste einen Fleischanteil von 82 Gramm aufweisen. Auch beim Geschirr empfahl es sich, genau hinzuschauen. Guide Eva zeigt einen Brotteller aus dem Restaurant, der niemals in die Spülmaschine durfte – in seinem doppelten Boden befindet sich ein Mikrofon.

"Wir wissen mehr über dich als du selbst"

Genehmigt. Dieser Stempel zierte Bewerbungen. Jeder zukünftige Mitarbeiter des Hotels wurde auf Verbindungen ins Ausland geprüft.
Genehmigt. Dieser Stempel zierte Bewerbungen. Jeder zukünftige Mitarbeiter des Hotels wurde auf Verbindungen ins Ausland geprüft.

© S. Bisping

Die Mitarbeiter standen ebenfalls unter ständiger Beobachtung. Bevor ein Bewerber einen Job antreten konnte, wurde er genau durchleuchtet. Hatte ein Aspirant auch nur einen im Ausland lebenden Cousin, war er draußen. Wer das Auswahlverfahren bestand, erhielt einen Stempel auf den Personalbogen: Genehmigt. „Das bedeutete: Wir wissen mehr über dich als du selbst“, sagt Eva.

Damit sich das jeder gut merken konnte, gab es gelegentliche Tests. Ein unscheinbares Portemonnaie diente so als Charakterprüfung für die Beschäftigten. Wer die herumliegende Börse öffnete, den traf ein roter Tintenstrahl und schon war der Dieb markiert. Die Folge war Strafversetzung auf einen niedrigeren Posten oder die Auflage, sich durch Beschaffung relevanter Informationen wieder in besseres Licht zu rücken.

Exponate wie die auf Puppen gespannten und auf einem Feldbett ausgebreiteten KGB-Uniformen in der einstigen Spionagezentrale dienen vor allem der Verdichtung der Atmosphäre, da die Offiziere ihrer Arbeit zumeist in Zivil nachgingen. Die Medaille, die Brotschneiderin Helga für ihren Dienst am Volk erhielt, ist ebenso ausgestellt wie eine diskret mit Holz verkleidete Antenne und eine Eintrittskarte fürs Varieté Viru.

Ein Techniker drang ins Allerheiligste vor

Vier Rubel kosteten die begehrten Tickets im Jahr 1975. Die Besucher waren Hotelgäste, verdiente Einheimische und Parteifunktionäre aus Moskau. Sie erwartete ein gewagtes, ideologisch als zweifelhaft geltendes Programm eines hochkarätigen Ensembles estnischer Tänzerinnen und Sängerinnen – sowie auf jedem Tisch ein Mikrofon im Blumengesteck.

Fremdenführerin Eva erinnert sich an die Zeit, in der das Hotel als westliche Insel im sozialistischen Alltag normalen Leuten verwehrt und sogar die in Moskau festgelegten Zimmerpreise geheime Verschlusssache waren.

Manch eine Anekdote haben ihr ältere Kollegen erzählt, die nach der Wende geblieben waren. Da übernahm ein Finne als Hoteldirektor die Geschicke des Hauses. Sein Vorgänger hatte noch das rote Telefon ohne Wählscheibe bedienen müssen, das sein Büro mit dem KGB-Hauptquartier in der Altstadt verband. Ein Job, für den er das diplomatische Geschick eines Botschafters und das Fingerspitzengefühl eines Herzchirurgen benötigte. Ein zweites, metallgefülltes Telefon bot Sicherheit vor eingeschmuggelten Wanzen.

Legendär ist auch die Geschichte des Technikers, der eine defekte Telefonleitung reparieren sollte. Er drang ins Allerheiligste vor, spürte unversehens den Lauf einer Pistole am Kopf und rannte rasch davon. Allerdings erinnerte er sich später daran, Männer mit Kopfhörern gesehen zu haben – was hinter vorgehaltener Hand die Runde machte, aber im Hotel niemanden überraschte. Dort wusste man ja: Hier ist nichts.

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