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Heimweg. Zum Feierabend sprang Uli Emanuele dem Schweizer Dorf Lauterbrunnen entgegen, bis in seinen Garten.

© Raffael Waldner

Basejumper in Lauterbrunnen: Wie Wolken schmecken

Steile Wände, glatte Kanten – Lauterbrunnen ist das Paradies der Basejumper. Uli Emanuele zählte zu den besten. Ein Nachruf.

Die Sonne brannte, der Wind spielte mit den Bäumen. Steile Berge warfen Schatten auf das Dorf. Am Himmel zerfetzten sich hastig die Wolken, und vor mir packte Uli Emanuele seinen Fallschirm ein. Kein guter Tag, um über den Tod zu reden.

Uli, fragte ich, hast du Angst?

Nein, aber großen Respekt vor der Physik.

Warum musst du sie dann immer reizen?

Ich will runter, einfach nur runter.

Und hier sterben sie wie die Fliegen.

Du solltest dir stets sicher sein, ob es sich lohnt, dabei zu sterben. Sonst darfst du nicht springen.

Verstehe ich nicht.

Für mich ist es das Schönste. Das Einzige, was ich machen kann.

Er lachte nicht, er packte weiter. Der Stoff musste wieder ordentlich in den Sack gestopft werden. Jeder Fehler könnte tödlich sein.

Wir knieten beide auf dem Boden eines Parkplatzes. Direkt hinterm Horner, wo sich alle Basejumper in Lauterbrunnen treffen. Eine Kneipe, ziemlich angesagt. Uli mochte sie nicht. Zu laut, zu viele Kiffer, die bloß mit ihren Sprüngen prahlten. Die ihre Angst im Alkohol ertränkten. Viele von denen lassen die Achtung vor den Bergen vermissen, sagte Uli. Er guckte genervt zum Haus hinüber. Gelächter drang heraus. Heavy Metal. Gläserklirren.

Das Paradies für Basejumper

Es gibt dort eine Eckbank. Man nennt sie toter Winkel. Nicht nur, weil das W-Lan da so mies ist. Sondern weil dort über 20 Bilder hängen. Bilder von Springern, die im Himmel blieben. Kernige Menschen, sie lächeln von der Wand. Braungebrannt. Breites Kreuz. Weiße Zähne. Eine blonde Frau, schwarze Binde. Sie soll im dritten Monat schwanger gewesen sein.

Lauterbrunnen. Ein kleines, enges Kaff, 2500 Einwohner, im Schweizer Kanton Bern. Paradies für Basejumper. Eiger, Mönch und Jungfrau lächeln ins Tal. Glatte Kanten, steile Wände. Keine Bauern, die dir mit der Mistgabel hinterherlaufen, weil du ihnen das Feld zertrampelst. 30 000 Sprünge muss das Dorf jährlich über sich ergehen lassen.

James Bond war hier, am Piz Gloria wurde ein Film mit George Lazenby gedreht. „Im Geheimdienst Ihrer Majestät.“ Goethe schrieb drüben im alten Pfarrhaus ein Gedicht, über den Staubbachfall am Ortsende: Leisrauschend zur Tiefe nieder, ragen Klippen dem Sturz entgegen. Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind.

Ulis Freundin war mal Kellnerin im Horner. Er lernte sie in Spanien kennen. Als er in Benidorm von einem Hochhaus sprang. Auf der Fahrt im Aufzug verliebte er sich, 20 Stockwerke reichten.

Abends sprang er bis in seinen Garten

Er war fast fertig auf dem Parkplatz. Über eine Stunde ging das jetzt so. An diesem schönen Sommertag vor zwei Jahren. Uli überließ nichts dem Zufall, brauchte stets die Kontrolle. Er hatte irgendwann mal zusammengezählt. Für seine 1700 Sprünge musste er zehn Wochen lang am Stück Fallschirme falten.

Mit 20 war er von Südtirol in die Schweiz gekommen. Wollte springen, nur springen. Er zog in ein kleines Haus vor der höchsten Felswand in Lauterbrunnen. Wusch tagsüber auf einer Berghütte die Teller ab. Zum Feierabend flog er bis vor die Tür in seinen Garten. Mehr Glück geht nicht, sagte er.

Sein Vater war Fallschirmspringer. Nahm den kleinen Sohn mit, band ihn sich vor die Brust. Der lernte früh, wie Wolken schmecken. Liebte die Berge, seit er denken kann. Den Wahnwitz von Geschwindigkeit. Uli Emanuele wollte Basejumpen eines Tages zu seinem Beruf machen.

Nicht lange nach unserem Treffen kannte ihn fast die ganze Welt. Er sauste in seinem Flügelanzug durch ein Felsloch von zwei Metern Breite. Weltrekord. Zeitungen. Magazine. Markus Lanz. Er wurde nicht reich, aber konnte plötzlich einigermaßen davon leben. Ich freute mich für ihn. Es hieß auch, sein Ruhm sei jetzt unsterblich.

Er hatte sich diesem Wahnsinn mit dem Loch in äußerster Präzison genähert. Hatte alles ganz genau berechnet. Wie bei seinem Sprung von der Jungfrau. Viertausend Meter. Drei Minuten freier Fall. Raste so nah über Baumgipfel, dass er die Tannen roch. Ein falsches Neigen des Kopfes, ein dummes Zucken der Schulter, und die Rechnung stimmte nicht mehr. Sie war sehr einfach, mit einem Laser in der Vertikalen gemessen. Bei jedem Meter, den er fällt, kommt er drei Meter weiter.

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Ich hatte Uli Emanuele damals für eine Reportage begleitet. Wollte dieses Glück begreifen, ein Leben, das an einem Fallschirm hing. Es gelang mir nicht, zu keiner Zeit. Wir kletterten zu den Kanten, dahinter nur steiles Grauen. Bis zu 500 Meter glatter Felsen. Sie hießen High Ultimate, Dumpster, Flower Box oder Gimmelwald. Mutproben, Wahnsinn. Liebeserklärungen an den Tod.

Jede Mutter, die ihr Kind hier erwischt, schrieb ich in den Block, müsste es mit einem Ast nach Hause prügeln.

Doch Uli Emanuele stand da und redete mit mir, als wollte er einem Idioten das Gesetz des freien Falls erklären. Er sprach von rock drop und low pass, während ich mich krampfhaft an Bäumen festhielt, um bloß nicht abzurutschen.

Uli Emanuele wurde weltweit bekannt, als er 2015 präzise durch ein Felsloch sprang. Er starb bei einem anderen Sprung in Lauterbrunnen, am 17. August 2016.
Uli Emanuele wurde weltweit bekannt, als er 2015 präzise durch ein Felsloch sprang. Er starb bei einem anderen Sprung in Lauterbrunnen, am 17. August 2016.

© picture alliance / Geisler-Fotop

Beim Basejumpen, sagte er mir, hätte man nur die Möglichkeit, sich kräftig abzustoßen und sofort die Reißleine des Fallschirms zu ziehen. Wenn man weit genug von der Wand weg ist.

Am Anfang wird sowas von Brücken herunter geübt, da ist rechts und links viel mehr Platz. Ist leicht, sagte er. Zu leicht. Machte er schon lange nicht mehr. Jetzt war er ein Adler unter den Enten, die da einfach runterplumpsen. Im Wingsuit konnte er viel länger fliegen, weil so ein Anzug große Luftpolster hat. Der Himmel ist ja für alles dankbar, was sich besser tragen lässt. Er ist länger unterwegs, kann mit Kopf und Armen seine Kurven steuern. Und erst den Fallschirm öffnen, wenn er die Bäume seines Gartens sieht.

Nicht mal im Winter trug er Handschuhe, um die Freiheit bis in die Fingerspitzen zu spüren. Das erzählte er mir da oben. Ruhig, sanft, während er in seine Kluft schlüpfte. Er war ein kluger junger Mann. Verrückt fiel mir zu ihm nicht ein.

Zwei Tage vorher hatte sich ein Russe auf Lauterbrunnen gestürzt. Nackter Oberkörper. Tätowiert. Seinen Rucksack hatte er sich auf den blutigen Rücken getackert. Uli hasste solche Typen. Sie reißen uns alle mit, sagte er.

Wir machten ein wunderbar friedliches Bild von ihm. Eine blaue Fledermaus, die Flügel hingen schlaff herunter. Sie schaute andächtig ins Tal. In stiller Demut vor der Natur. Dann breitete sie ihre Arme aus, holte tief Luft, drückte sich von einer Felsplatte ab und stürzte sich mit 200 Sachen ins Dorf. Man konnte es nicht richtig ernst nehmen. Es sah von oben wie ein Setzkasten aus.

Zwei Jahre später sollte Uli Emanuele, nicht weit von hier, gegen eine Felswand prallen und wie ein Stein vom Himmel fallen.

So lebt der Ort mit den Springern

Lauterbrunnen, Paradies für Basejumper. Eiger, Mönch und Jungfrau lächeln ins Tal.
Lauterbrunnen, Paradies für Basejumper. Eiger, Mönch und Jungfrau lächeln ins Tal.

© dpa

Ich streifte damals tagelang durch Lauterbrunnen, um wenigstens die Menschen zu verstehen, die es leid waren, ihre Köpfe zu ducken. Wenn sie Schatten über sich spürten, das laute Flattern des Stoffes hörten. Da kommt wieder einer.

Über 300 Tote bislang. Man nennt Lauterbrunnen Death Valley. Was denkt das Dorf über diese Leute, die sich im freien Fall die Kante geben? Ich traf den Bürgermeister, den Rettungsarzt, den Pfarrer, einen Bauern.

Der Bürgermeister hieß Peter Wälchli und sagte: Ich liebe die Springer. Sie sind freundlich, höflich, wollen nur Spaß. Sollen sie sich lieber als Hooligans im Stadion prügeln?

Er hielt über Facebook mit ihnen Kontakt. Springt nicht über Kirchen ab, bat er sie, nicht über Schulen oder Kindergärten. Einer war ein Jahr zuvor vor dem Fenster einer vierten Klasse gelandet. Hing im Baum, vom Fallschirm begraben. Gliedteile fehlten, Rumpf und Arme verdreht. Die Kinder träumten lange davon, schrien im Schlaf.

Ihre Lehrerin sagte: Wie soll ich ihnen beibringen, vor einer roten Ampel zu warten, solange die hier springen?

Herr Wälchli kannte sich mit Zahlen aus. Aber dass ihm die Basejumper auch viel Geld in die Gemeindekasse spülten, gestand er nicht. Die leben gern billig, zu viert auf einem Zimmer. Sixpack im Kühlschrank. Viel hängen bleibt da nicht, sagte er.

Ein Springer stürzte in eine Hochspannungsleitung, 16 000 Volt. Zappelte wie ein verletzter Vogel. An der Schulter klaffte ein Loch, es roch nach verbranntem Fleisch. Er hielt seine Go-Pro-Kamera drauf, stellte die Bilder bei Youtube rein. Dann erst ließ er sich von der Feuerwehr bergen.

Wie beerdigst du Basejumper?

Pfarrer Markus Tschanz nahm sich gern mal ein paar Bier im Horner. Er mochte die jungen Leute. Springen, sagte er, ist keine Gotteslästerung. Wenn es am Samstagabend spät wurde, boten sie sich scherzhaft an, seine Predigt am nächsten Morgen zu halten.

Wie beerdigst du eigentlich Basejumper? fragte man den Pfarrer, als er ins Tal des Todes berufen wurde. Gar nicht, antwortete er. Die meisten kamen von außerhalb. Lagen oft wochenlang in der Aussegnungshalle, weil es dort eine gute Kühlung gibt. Bis sie von der Kripo abgeholt wurden. Nach Peru, Kanada, Spanien. Gott weiß, wohin. Ihn schauderte es, wenn ihre körperlichen Reste gerichtsmedizinisch untersucht wurden.

Früher lag eine beliebte Absprungstelle direkt über dem Friedhof. Da kam es vor, dass Trauergäste am offenen Grab Lustschreie über sich hörten. Oben himmelhoch jauchzend, unten waren sie zu Tode betrübt. Irgendwann wurde der Platz zur Sperrzone erklärt.

Lauterbrunnen im Schweizer Kanton Bern: 30 000 Sprünge jährlich, bislang 300 Tote.
Lauterbrunnen im Schweizer Kanton Bern: 30 000 Sprünge jährlich, bislang 300 Tote.

© dpa

Klettern ist gefährlicher

Ich ging ein paar hundert Meter die Dorfstraße entlang. Zu Bruno Durrer, Rettungsarzt. Immer, wenn er mit dem Hubschrauber zum Einsatz flog, kriegten seine Patienten ein dickes Stück Kuchen. Weil sie so lange warten mussten, bis er wiederkam.

Er hatte schon viele Tote aus den Bergen geholt. Die meisten waren Bergsteiger. Klettern ist viel gefährlicher, sagte er, als sich mit einem Fallschirm in die Tiefe zu stürzen. Japaner in Badeschlappen. Das ist unser Problem.

Durrer ist ein Kerl wie ein Baum. Er kletterte im Himalaya, fuhr Motorrad wie eine besengte Sau. Wäre ich nicht schon über 60, sagte er, würde ich es selbst mit Basejumpen versuchen. Oft hatte er es mit cliff-strikes zu tun. Wenn sie gegen den Fels schlugen. Sich mit dem Schirm verhakten, an den Wänden baumelten. Dann musste er sie an einer Leine herausziehen. An die Wand ranfliegen, bis auf einen Meter. So konnte er schon viele retten.

Anderen Helfern war es passiert, dass der Luftwirbel der Rotoren den eingeklemmten Fallschirm wieder freigelegt hatte. Der Springer fiel ungebremst auf den Boden. Albtraum, sagte Durrer.

Sie sterben auf den Wiesen des Bauers

Albträume kannte auch Adolf von Allmen. 30 Hektar, 26 Kühe. Sein Bauernhaus steht am Buchenbachfall. Über ihm High Nose, Mürrenfluh. 400 Meter, senkrecht. Oft dachte er, wenn er gerade auf dem Feld arbeitete: Zieh endlich Leine, Mensch. Einmal zu spät, und du bist tot.

Im Frühjahr zuvor starben hier vier an einem Wochenende. Eine junge Frau auf seiner Wiese. Anfängerin. Schieflage, gegen den Fels. Ihr Mann hockte im Gras, musste alles mitansehen. Stellte ihre Urne auf einen Stein an der Schilthornbahn. Fly free, little girl schrieb er in der Todesanzeige.

Man soll die jungen Leute lassen, sagte der Bauer zu mir. Ist doch nur eine Sucht, irgendwie. Hühner haben zwar Federn, können aber nicht fliegen. Ein Springer landete auf seinem Dach. Mordslärm, Putz rieselte von der Decke. Als er rausrannte, fragte ihn der grinsend nach einer Leiter.

Der Bauer zeigte nun mit der Mistgabel zum Wald. Da lag mal einer, der halbe Kopf zerschmettert. Die andere Hälfte noch im Helm. Sein Freund ließ die Leiche abholen, schulterte den Rucksack. Ging gleich wieder springen. Adolf von Allmen bekam Geld von der Gemeinde. Dafür, dass sie auf seinen Feldern landen durften. Er wollte nicht sagen, wieviel. Die im Dorf nannten es Schweigegeld.

Uli Emanuele starb am 17. August 2016. Am Black line exit, nicht weit vom Hof des Bauern. Sein letzter Eintrag bei Facebook ist ein Bild von ihm selbst. Am Horizont die Sonne. Die blaue Fledermaus lächelt, bevor sie in den Tod fliegt.

Die Ursache ist nicht geklärt. Im Unfallbericht heißt es, er könnte als Kameramann für einen anderen Basejumper gesprungen sein. Sei dann wenige Meter hinter dem Freund hergeflogen, als er nach einer Rechtskurve die Stabilität verlor. Sei ins Trudeln geraten, gegen eine Felswand geprallt.

Er war auf der Stelle tot. Wurde 30 Jahre alt.

Kein Mitleid, schrieb einer ins Netz. Wer so was macht, sollte wissen, dass er mit dem Teufel tanzt.

Michael Schophaus

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