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Schwitzen in einer Einmann-Sauna. Auch das gehört zur Ayurveda-Kur.

© Anne Schönharting

Ayurveda am Wannsee: Der Mann, der aus der Kälte kam

Sesamöleinläufe, Blutegel, schweigend Mungbohnen frühstücken: Chronische Schmerzen brachten ihn zu einer Kur, die alles verändert.

Seit vielen Jahren leide ich immer mal unter rheumaartigen Entzündungsschüben in den Fingern. Und an meiner Hüfte haben Ärzte schon vor Längerem eine beginnende Arthrose diagnostiziert, außerdem ein schmerzhaftes Anschlagen der Knochen im Gelenk, ein sogenanntes Hüft-Impingement.

Vor fünf Jahren wäre ich deshalb schon fast auf dem OP-Tisch gelandet, entzog mich dem jedoch, weil die Schmerzen just an jenem Tag, als die Operation besprochen werden sollte, erfreulich gering waren (was psychologische Gründe gehabt haben mag, aber sei’s drum). Der Chirurg sagte jedenfalls, er wünsche mir viel Glück, aber er sei relativ sicher, dass wir uns bald wiedersehen.

Diesen Gefallen möchte ich ihm eigentlich nicht tun. Oder ihn zumindest so lange wie möglich hinauszögern. Insofern lag es nahe, mich um alternative Methoden der Arthrosetherapie zu kümmern. Ein Angebot weckte mein Interesse: eine mehrwöchige Ayurveda-Kur am Wannsee in Berlin, beim dortigen Immanuel-Krankenhaus. Dessen naturheilkundliche Abteilung hat eine mehr als 65 Jahre zurückreichende Historie, seit 2009 gibt es dort auch eine Professur für klinische Naturheilkunde. Ich falle also nicht Quacksalbern in die Hände, sondern schulmedizinisch ausgebildeten Ärzten, die Naturheilverfahren wissenschaftlich erforschen und anwenden.

Die Zunge verrät viel über die Gesundheit

Zu einem Vorgespräch treffe ich den Oberarzt Dr. Christian Keßler, einen Internisten, der ayurvedische Therapien und Techniken in Indien, Sri Lanka und Nepal studiert hat. Er trägt zum Arztkittel tibetische Segensbändchen am Handgelenk und strahlt eine meditationsgestärkte Ruhe aus.

Von Beginn an scheint es mir, als blicke er tief in meine Patientenseele. Vieles möchte er ganz genau wissen: Was ich normalerweise esse und wie ich verdaue (eher unregelmäßig). Wie ich mich nach dem Essen fühle (oft müde). Wann und wie ich schlafe (meist zu spät und insgesamt zu wenig). Ob ich morgens ausgeruht bin (häufig nicht). Wie meine Gesamtsituation ist (eher durchwachsen).

Nach einer kompletten schulmedizinischen Untersuchung fühlt er den Puls und schaut sich meine Zunge an – beides, so erklärt er mir, gehöre zu den zentralen Diagnosemethoden im Ayurveda. Die Zunge sehe gesund aus; keine Anzeichen von Belägen, die auf nicht vollständig verstoffwechselte Nahrung hinweisen würden. Mein Puls aber liefere Hinweise für eine gewisse körperliche Instabilität und einen Mangel an Energiereserven.

Ayurveda ist seit mindestens 2000 Jahren bekannt

Christian Keßler hat hier 2010 den Bereich Ayurveda aufgebaut, mit Förderung durch seinen Chefarzt Andreas Michalsen, ebenfalls Internist. Michalsen war schon lange der Ansicht, dass Ayurveda mit seinem ganzheitlichen Menschenbild die „bio­mechanische“ westliche Medizin befruchten könne – und umgekehrt.

Ayurveda ist seit mindestens 2000 Jahren bekannt. Der Begriff stammt aus dem altindischen Sanskrit und bedeutet „Wissen vom Leben“. Körper und Seele werden als Einheit betrachtet; wenn sich die Seele beruhigt, kann auch das Herz oder der Darm zur Ruhe kommen.

Das Diagnose- und Behandlungskonzept geht von drei Funktionsprinzipien (Dosha) aus, die Vata, Pitta und Kapha heißen. Jedes Dosha steht für eine grundlegende Kraft und besitzt charakteristische Eigenschaften, im Zusammenspiel regulieren sie Milieus und Zustände innerhalb des Körpers. Jeder Mensch verfügt demnach über eine bereits bei der Geburt angelegte spezifische Kombination der Dosha. Dieses individuelle Gleichgewicht aber gerät im Laufe des Lebens womöglich durcheinander, was zu Krankheiten führen kann.

Trockenheit wird Vata zugeordnet, genau wie Kälte

Christian Keßler vergleicht die drei Dosha mit den Grundfarben Gelb, Rot und Blau, deren Mischung im Prinzip unendlich viele Möglichkeiten ergebe. Die Lösung von gesundheitlichen Problemen liege immer auch im individuellen Detail.

Bei meiner Problematik scheint die Diagnose vergleichsweise einfach zu sein: Für Verschleißerkrankungen des Bewegungsapparates wird im Ayurveda stets überschießendes Vata verantwortlich gemacht. Menschen mit einer Vata-Konstitution seien von Natur aus eher feingliedrige, sensible Persönlichkeitstypen, die tendenziell dünn sind, kälteempfindlich und zum Beispiel zu trockener Haut und Nervosität neigen. Darin erkenne ich mich durchaus wieder.

Vata bedeute auf Sanskrit „Wind“, sagt Christian Keßler, und stehe für Leichtigkeit, für Kälte und Trockenheit. Wind trockne einen aus, wie bei zu kaltem Föhnen. Bei einer Arthrose ist aus ayurvedischer Sicht also zu viel Trockenheit und Kälte im Gelenk.

Wie steht es um die wissenschaftliche Evidenz?

Musiktherapie. Der Arzt zupft auf dem Instrument die Saiten und rezitiert dazu medizinische Sanskrit-Verse.
Musiktherapie. Der Arzt zupft auf dem Instrument die Saiten und rezitiert dazu medizinische Sanskrit-Verse.

© Anne Schönharting

Viele Schulmediziner hielten eine solche Erklärung vermutlich für verwegen, sagt Keßler. Er erklärt mir, dass sich aus Sicht der Ayurveda-Lehre dadurch – in einem bildlichen Sinne – der Knorpel „aufraue“ und auch die Versorgung mit der gelenkschmierenden Synovialflüssigkeit nicht mehr ausreichend gewährleistet sei. Das Hauptziel der von ihm für mich entwickelten Therapie sei deshalb die Vata-Reduktion: um so den Bewegungsapparat zu stärken und die Gelenke zu entlasten.

Mag die westliche Schulmedizin bei Notfällen oder in der Chirurgie höchst wirksam und unersetzlich sein – bei chronischen Leiden, wie den typischen orthopädischen und rheumatischen Erkrankungen, beanspruchen Ayurveda-Vertreter für sich, auch Pfeile im Köcher zu haben. Doch wie steht es um die wissenschaftliche Evidenz?

Keßler verweist auf eine gerade abgeschlossene Studie seines Krankenhauses mit 151 Patienten, die unter Kniearthrose leiden und per Zufallsprinzip in zwei Gruppen aufgeteilt wurden: Gut 50 Prozent der Probanden erhielten drei Monate lang intensive Physiotherapie und Schmerzmittel, die anderen wurden mit einer komplexen Ayurveda-Therapie behandelt.

Das Ergebnis: Der Behandlungseffekt in der Ayurveda-Gruppe war fast doppelt so groß wie bei den anderen Probanden. Gemessen wurde dies mithilfe einer Reihe wissenschaftlich etablierter Fragebögen, die unter anderem das Schmerzempfinden, Gelenksteifheit sowie die Schlaf- und Lebensqualität der Teilnehmer dokumentieren.

Es geht um viel mehr als Wellness

Ich absolviere meine Kur über insgesamt acht Wochen. Anfangs erwarte ich ein eher entspanntes Wellness-Erlebnis, doch schnell merke ich, dass es um weit mehr geht. Ich werde fast meinen gesamten Alltag an die ayurvedischen Therapieempfehlungen anpassen müssen. Zwei- bis dreimal pro Woche fahre ich ins Krankenhaus und bekomme ayurvedische Ölmassagen, die der „Trockenheit“ und „Kälte“ in meinen Gelenken mit feuchter Wärme entgegenwirken sollen.

Bei den Massagen liege ich zunächst auf dem Bauch. Das Öl wird sanft erwärmt und mit der Hand oder mittels getränkter Kräutersäckchen aufgetragen. Es folgen Ausstreichungen von der Körpermitte nach außen, die jene festeren Massagegriffe an den Gelenken vorbereiten, bei denen Marma bearbeitet werden – Punkte, die für den Fluss der Lebensenergie bedeutsam sind. Das Öl soll dabei Kräuterwirkstoffe über die Haut ins Körperinnere bringen, zudem krankheitsverursachende Ablagerungen im Gewebe lösen, die dann über Lymphe und Blutbahn abtransportiert werden.

Jede Behandlungseinheit dauert 60 bis 90 Minuten und endet damit, dass ich mich in eine Einpersonen-Dampfsauna setze, aus der nur noch der Kopf herausragt. Saunagänge gelten aus ayurvedischer Sicht prinzipiell als gesundheitsförderlich, bei Gelenkproblematiken allerdings nicht die besonders heißen und trockenen Saunen. Auch soll ich auf die anschließende Abschreckung mit kaltem Wasser verzichten – weil es in meinem Fall den Körper belaste und Vata erhöhe.

Therapeuten kennen rund 1000 Heilkräuter und unzählige Mixturen

Ich erhalte Yoga-Lektionen (die Bestandteil fast jeder Ayurveda-Behandlung bei Arthrose sind), Meditationsanweisungen sowie ärztliches Feedback. Und Musiktherapie.

Dabei sitzt Christian Keßler im Schneidersitz auf dem Boden, während ich vor ihm auf einer Matte liege, unter einer Art Zither, die meinen Oberkörper halb umspannt. Auf dem Instrument zupft Keßler die Saiten und rezitiert dazu medizinische Sanskrit-Verse. Die Töne entfalten eine rauschartige Klangmacht, die mich umfängt und durchdringt. Noch nie habe ich Musik so körperlich empfunden. Eine sehr tiefgreifende Erfahrung. Das Gefühl, mit der Welt verbunden und behütet zu sein.

Ein weiterer Grundpfeiler des Ayurveda ist die Pflanzenmedizin. Therapeuten kennen rund 1000 Heilkräuter und unzählige Mixturen. Und sind mit deren Anwendung offenbar erfolgreich.

In einer Studie an Patienten mit rheumatoider Arthritis erhielt ein Drittel der Probanden die gängige medikamentöse Behandlung, ein weiteres Drittel einen ayurvedischen Kräutercocktail und die letzte Gruppe eine Kombination aus beiden Therapien, wobei weder Ärzte noch Patienten wussten, wer was bekam. Nach einer Dauer von neun Monaten zeigten sich die Kräuter den westlichen Mitteln durchaus ebenbürtig: Der Gesundheitszustand der Patienten war vergleichbar, jene mit Kräutermedikation verspürten allerdings weniger Nebenwirkungen.

Die Nägel seien "das Guckloch ins Skelettsystem"

Massagen mit erhitztem Öl helfen gegen Ablagerungen in den Gelenken.
Massagen mit erhitztem Öl helfen gegen Ablagerungen in den Gelenken.

© Anne Schönharting

Auf meinem Rezept stehen vor allem zwei pflanzliche Heilmittel: zum einen Ashwagandha (in Deutschland als Winterkirsche bekannt), deren Wurzeln das Vata reduzieren und die allgemein kräftigend sind, so Keßler; zum anderen Guggulu (oder „indische Myrrhe“), ein weihrauchähnliches Baumharz, ebenfalls Vata-reduzierend, entzündungshemmend und hilfreich bei Gelenkschmerzen.

Außerdem rät Keßler mir zu „nährenden“ Einläufen mit Sesamöl vor dem Zubettgehen. Und zu deutlich mehr Schlaf vor Mitternacht.

Die für mich tiefstgreifende Veränderung ist jedoch die radikale Umstellung meiner Ernährung. Dafür ist am Immanuel-Krankenhaus Elmar Stapelfeldt zuständig, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter und Ernährungstherapeut, der über ein enzyklopädisches Wissen ayurvedischer Originalschriften verfügt.

Auch mit Körpergeweben kennt Stapelfeldt sich gut aus, stellt sofort fest, dass meine Fingernägel recht dünn und weich sind, zudem bei beiden Daumen mit Rillen versehen. Ein Hinweis darauf, sagt er, dass es offenbar nötig sei, mein Knochengewebe aufzubauen, denn die Nägel seien „das Guckloch ins Skelettsystem“.

Alle Mahlzeiten müssen warm sein

Zunächst müsse dafür die im gesamten Körper zirkulierende Nährflüssigkeit Rasa Dhatu aufgefüllt werden, die alle Zellen und Organe mit Nährstoffen versorge. Eine zentrale Rolle spiele dabei das symbolische Verdauungsfeuer Agni, das für die Steuerung der Stoffwechselprozesse zuständig sei und dafür sorge, dass der Körper die benötigten Substanzen überhaupt aufnehmen könne.

Stapelfeldt vergleicht dieses „innere Feuer“ mit einem Herd. Wenn man seine Speisen kalt und ungekocht isst, koste der Verdauungsprozess den Körper zu viel Energie. Es gehe also darum, eine Ernährung zu finden, die wenig Energie benötigt. „Alles, was Sie in der Küche kochen, muss der Körper nicht mehr drinnen kochen und spart dadurch Kraft.“

Diese Energie könne der Organismus für den Heilungsprozess einsetzen. Daher laute die erste Regel für mich: Alle Mahlzeiten müssen warm sein, wenn ich sie esse. Zweitens: Vor jeder Mahlzeit muss ich einen mit einer Prise Pfeffer in lauwarmem Wasser aufgelösten Teelöffel Kurkumapulver schlucken, um das Verdauungsfeuer anzufachen.

Drittens: Alle Mahlzeiten sind in festem Rhythmus einzunehmen, möglichst um sieben, zwölf und 18 Uhr, um den Körper bei der Verarbeitung der Nahrung zu entlasten. Mittags solle ich die Hauptmahlzeit einnehmen, weil da aus ayurvedischer Sicht das natürliche Verdauungsfeuer am stärksten brennt.

Viertens: keine Zwischenmahlzeiten. Möchte man wirklich mal über die Stränge schlagen, gelte Regel fünf: „Alles, was Spaß macht: nur mittags!“

Tomaten und Grapefruits stehen auf der Vermeiden-Liste

Mein neuer Speiseplan enthält kein Brot, keinen Joghurt, keine Eier, möglichst wenig Fleisch, keinen Fisch, Käse, Salat, Alkohol, Kaffee oder schwarzen Tee. Als Vata-reduzierend gelten Reis, Dinkel, Weizen und Hafer; Gerste, Hirse und Mais bewirken das Gegenteil.

Auch die von mir so geschätzten Tomaten und Grapefruits stehen auf der Vermeiden-Liste: zu sauer. Grundsätzlich ist alles zu reduzieren, was auf der Zunge sauer schmeckt – da es aus ayurvedischer Sicht den Fluss der Körpersäfte behindert.

„Wenn wir den freien Fluss auch nur minimal stören, erschweren wir die Regeneration des Knorpels“, sagt Elmar Stapelfeldt. Saure Nahrungsmittel im Übermaß seien zudem der Nährboden für Entzündungen, aber vor allem erzeugten sie ein Logistik-Problem: „Es geht um freie Transportwege!“

Und so stehe ich nun daheim ständig am Herd. Laufe durch Bioläden, bestelle ayurvedische Gewürze und Öle. Ich fühle mich überfordert. Um mein Schicksal in vollem Umfang verständlich zu machen, muss ich vorausschicken, dass ich alles andere als ein geübter Koch bin. Nun muss ich dreimal am Tag selbst Hand anlegen – und zwar nach Rezepten, die mir anfangs völlig fremd sind.

Meine Freundin betrachtet das Ganze argwöhnisch

Außerdem ist mein Tag nun eingebettet in jede Menge Rituale. Morgens aufstehen heißt ab jetzt nicht mehr duschen, schnell etwas essen, einen Kaffee dazu und dann an den Schreibtisch, sondern: langsam mehrere Tassen warmes Wasser trinken, Zähne putzen, Beläge von der Zunge schaben, Nasendusche, den gesamten Körper (einschließlich der Haare) mit warmem Sesamöl einreiben, 20 Minuten meditieren, Yoga-Übungen.

Dann mit frischem Elan in die Küche und an die Pfanne. Porridge aufkochen, Nüsse und Mandeln in selbst gemachtem Butterschmalz (Ghee) anbraten, Obst dünsten. In schöner Innerlichkeit frühstücken.

Mir gegenüber sitzt meine Freundin und betrachtet argwöhnisch, wie sich auf einmal alles nur noch darum zu drehen scheint, dass ich mein Programm erfülle. Ich überrasche sie (und mich) mit dem schwer vermittelbaren Satz: „Ich wünsche, das Frühstück schweigend einzunehmen!“ Sie schaut mich an, als sei ich verrückt geworden.

Nach zwei Wochen habe ich vier Kilogramm abgenommen, was gar nicht meine Absicht war, aber offenbar nicht so leicht zu verhindern ist bei der Ernährungsweise. Denn in meinem neuen Essensrhythmus verzichte ich auf alles, was ich sonst viel zu schnell und oft nebenbei zu mir nehme.

Ayurveda ist keine Verbotskultur

Yogaübungen entlasten spürbar die Gelenke.
Yogaübungen entlasten spürbar die Gelenke.

© Anne Schönhartin

Das gelingt überraschend gut und ohne Hungergefühl. Vorausgesetzt, ich habe ausreichend pflanzliche Eiweiße (vor allem in Form von Mungbohnen) zu mir genommen. Nach wie vor gibt es allerdings gewisse Synchronisierungsschwierigkeiten mit dem Speise- und Schlafplan meiner Freundin, die zwar weitgehend mitmacht, sich aber nicht ihr Sozialleben vorschreiben lassen möchte von einem Mann, der spätestens um 22 Uhr ins Bett gehen will.

Und das zweimal in der Woche auch noch mit einem Öleinlauf.

Außerdem stressen mich nach wie vor das Zubereiten der Mahlzeiten und die korrekte Auswahl der Nahrungsmittel. Oft stehe ich schon nach dem Frühstück am Herd. Für den Fall, dass ich beruflich unterwegs bin, habe ich mir ein Thermosgefäß gekauft.

Christian Keßler rät, die Sache weniger streng anzugehen. Wenn ich die neue Lebensweise zu verbissen betriebe, würde genau das entstehen, was wir zu vermeiden trachten: Stress – und der gilt als Vata-provozierend.

Außerdem sei Ayurveda ja keine Verbotskultur. Ich solle das Ganze als großes Buffet betrachten, von dem ich mich nach meinen Möglichkeiten bedienen könne. Wenn ich etwa die Hälfte der Verhaltensvorschläge berücksichtige, sei das bereits sehr gut.

Meine Haut ist glatter, die Schmerzen sing weg

Da mir aber nach wie vor die Routine fehlt, mache ich einen Ayurveda-Kochkurs, in dem mir gleich das Pflaumen-Chutney anbrennt. Aber ich lerne. Mein täglich Brot ist nun Khichadi, ein bekömmliches Gericht aus gespaltenen Mungbohnen und Basmatireis, das man wunderbar mit gedünsteten Gemüsen kombinieren kann.

Nach etwa sechs Wochen komme ich mit Zeitplanung und Kochdiensten allmählich besser zurecht. Der Stress, den ich mir selbst gemacht habe, fällt ab, und ich spüre so etwas wie einen kleinen Energieschub.

Meine Haut ist glatter geworden, ich habe keinerlei Verdauungsbeschwerden mehr. Die Fingernägel scheinen etwas fester zu sein, und die Schmerzen, die ich zu Beginn der Behandlung noch in den Fingergelenken hatte, sind verschwunden.

Die Region um das linke Hüftgelenk, in der ich normalerweise ein mehr oder weniger starkes Druckgefühl spüre, hat sich deutlich entspannt. Und die Ellenbogenentzündung, die sich zufällig zu Beginn der Ayurveda-Kur eingestellt hatte, ist verflogen.

Dafür hatte mir Christian Keßler eine Blutegelbehandlung verordnet, mit durchschlagendem Erfolg: Drei Tage, nachdem ich den Verband gelöst hatte, der die Nachblutungen der winzigen Bisswunden stoppen soll, sind die Schmerzen verschwunden.

Vielleicht gibt es ja einen Kompromiss

Inzwischen, nach zwei Monaten Ayurveda, bin ich zwar noch nicht so weit, ein abschließendes Urteil fällen zu können. Aber ich habe sehr viel über meinen Körper und über mich selbst gelernt. Ich bin eingetaucht in eine Kultur, die ich als plausibel und wohltuend empfinde. Auch wenn ich mich mit dem Befolgen ihrer Regeln nach wie vor etwas schwertue.

Auch ist der feste Rhythmus der Mahlzeiten nur begrenzt vereinbar mit meinem Sozialleben: Gemeinsame Essen mit Freunden beginnen ja selten vor 20 Uhr. Zu dem Zeitpunkt muss ich, ayurvedisch betrachtet, schon bald wieder ans Schlafen denken.

Vielleicht gibt es ja einen Kompromiss. Ich habe mir vorgenommen, die festen Zeiten etwas lockerer zu handhaben, wohl aber den Ernährungsempfehlungen zu folgen, wann immer es möglich ist. Ich will eine Reihe von falschen Gewohnheiten aufgeben. Etwa die Entheiligung meiner Mahlzeiten durch Herunterschlingen oder Beiläufigkeit.

Dass mir Meditation guttut, wusste ich schon vorher. Dass ich sie vor Jahren irgendwann aufgegeben habe: eigentlich unverzeihlich. Aber zum Glück umkehrbar. Die Yogaübungen, die ich erlernt habe, entlasten meine Gelenke spürbar, damit werde ich weitermachen. Und wenn es wirklich mal schlimmer kommen sollte, weiß ich ja jetzt, wo ich Blutegel erhalte.

Andreas Wenderoth

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