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Foto-Finish: Unsere Tester Norbert Thomma (Bahn), Kathrin Kleinschmidt (Bus), Björn Rosen (Flugzeug) und Esther Kogelboom (Auto) am Ziel.

© Kitty Keist-Heinrich

Auto, Bus, Bahn oder Flugzeug: Wettrennen nach Usedom

Schönes Wochenendwetter. Wie kommt man am schnellsten an die Ostsee - mit Bahn, Bus, Auto oder Flugzeug? Unser Wettrennen vom Alex nach Heringsdorf

MIT DEM FLUGZEUG

Reisezeit: 2:48 Stunden Flugzeit: 55 Minuten Kosten: 149,50 Euro (Flug) + 21 Euro (Taxi) + 3,30 Euro (S-Bahn).

Es geht gemächlich los, mit der S-Bahn – und mit Zweifeln. Von uns vier Kollegen, die wir versuchen, auf dem schnellsten Weg vom Alex nach Usedom zu kommen, bin ich derjenige mit den besten Startbedingungen: Denn ich darf fliegen. Doch erstmal muss ich raus aus der Stadt, nicht Richtung Meer, sondern all the way nach Osten. Warschauer Straße, Friedrichsfelde Ost, Mahlsdorf. Gründerzeitquartiere, Plattenbauten, Einfamilienhäuser. Draußen wird’s langsam grüner, und die Abstände zwischen den Bahnhöfen werden größer. Hoppegarten, Fredersdorf, Strausberg. Eine dreiviertel Stunde ist schon rum, ich bin immer noch unterwegs in die falsche Richtung und frage mich, wie weit wohl die Kollegen inzwischen gekommen sind.

Es ist ein bekanntes Phänomen bei innerdeutschen Flügen: Auf den ersten Blick bringt einen das Flugzeug am schnellsten in eine andere Stadt. Addiert man aber die Fahrt zum Flughafen, die Sicherheitskontrolle, die Wartezeit vor dem Gate, einen möglichen verspäteten Abflug und, nach der Landung, den Weg vom Flughafen ans eigentliche Ziel, dann liegt am Ende manchmal doch die Bahn vorne. Oder das Auto.

Und dieses Mal?

Endlich: Strausberg Nord, Endstation der Linie S5, rund 35 Kilometer enfernt vom Berliner Zentrum. Mittlerweile ist eine Stunde vergangen. Ich laufe zum Strausberger Flugplatz, es sind nur ein paar hundert Meter bis dorthin. 1927 als Segelfluggelände gegründet, später genutzt von der Luftwaffe, der Roten Armee, der NVA (das DDR-Verteidigungsministerium war gleich um die Ecke) und schließlich von der Bundeswehr. Seit 1992 geht’s ganz und gar zivil zu, Roman Polanski hat hier Szenen für seinen Film „Der Ghostwriter“ gedreht, im Restaurant „Doppeldecker“ servieren sie deutsch-mediterrane Küche mit Blick auf Start- und Landebahn, man kann fliegen lernen, zu einer Ballonfahrt oder einem Rundflug mit dem Hubschrauber starten.

Die Maschine: ein legendärer sowjetischer Oldtimer

Der Strausberger Terminal ist ein moderner Bau mit einem kleinen Tower. Draußen steht in großen Lettern der Flughafencode dran, EDAY, innen hat das Gebäude den Charme eines Einwohnermeldeamts. Wo bitte geht’s zum Flug nach Usedom? „Nehmen Sie mal auf einem Stuhl da hinten am Fenster Platz“, sagt der Herr hinter dem Empfangstresen. Bis zum planmäßigen Abflug um 15 Uhr bleibt noch knapp eine halbe Stunde. Viel Zeit werde ich hier kaum verlieren, denn Check-in und Sicherheitskontrollen sind nicht vorgesehen.

Du holst auf, denke ich, du holst auf.

Der vierköpfigen Familie, die mit mir wartet, geht es nicht um Zeitersparnis. Sie hat den recht teuren Flug nach Heringsdorf – ab 149,50 Euro pro Person one way – als Erlebnis gebucht. Da ist zum einen der Ausblick auf Brandenburger Wälder und Mecklenburger Seen, auf den man sich freuen kann. Da ist aber auch die Maschine, die uns an die Ostsee bringen wird: ein legendärer sowjetischer Oldtimer, eine Antonow AN 2.

Die AN 2, die von Strausberg nach Usedom fliegt.
Die AN 2, die von Strausberg nach Usedom fliegt.

© Björn Rosen

Es kann losgehen, die Tür zum Rollfeld öffnet sich, und wir laufen die paar Meter bis zu dem grünen Doppeldecker, Baujahr 1975, getauft auf den Namen „Anna“. Eine AN 2 sei „unverwüstlich und extrem sicher“, steht im Prospekt von LTS Luft Taxi Service, der kleinen Firma, bei der ich den Flug gebucht habe. Holger Röhr ist seit sechs Jahren Chef des Unternehmens – und der Pilot.

Seine Anreise war noch ein bisschen länger als meine, denn Röhr, Berufspilotenschein seit 1999 und mittlerweile selber Fluglehrer, wohnt in Potsdam. „Die AN 2 wurde eigentlich als Landwirtschaftsflugzeug entwickelt“, erzählt er, während er seine Checkliste abarbeitet und ich auf dem Kopilotensitz Platz nehmen darf. Eine Ehre, die Röhrs Passagieren manchmal zuteil wird. „Die Maschine ist ein alter Schinken, das Schöne für mich als Pilot ist: Hier merkt man richtig, dass man fliegt.“

Die AN 2 war das erste in Serie gebaute zivile Luftfahrzeug der Sowjetunion. Gebaut wurde es in Kiew, wo die Firma Antonow – benannt nach dem sowjetischen Flugzeugkonstrukteur gleichen Namens – immer noch ihren Sitz hat. Bis heute hält die Maschine den Rekord als das meistgebaute Flugzeugmuster der Welt. „Trotzdem gab es kaum Unfälle.“ Bis 1987 wurden 18 000 Exemplare produziert, darunter eben auch „Anna“, die früher in Diensten der NVA stand.

Rasch geht es auf die Flughöhe von 800 Metern

Ich schnalle mich an, mit einem Gurt über die Schultern und um die Hüfte. Die Armaturen wirken heruntergerockt und gleichzeitig grundsolide. Auf dem Steuerknüppel stehen kyrillische Buchstaben. Ich solle das Fenster neben mir zuziehen, sagt Röhr und startet die Maschine. Ohrenbetäubender Lärm.

Holger Röhr bietet vor allem Rundflüge über Berlin und Usedom an. Von Strausberg nach Heringsdorf (und zurück) fliegt er in den Sommermonaten, bis maximal Ende Oktober. Relativ regelmäßig zwar, aber nicht zu festen Zeiten. Es müssen schon genug Leute zusammenkommen, damit sich das Ganze lohnt. Neun Passagiere passen in das Flugzeug, den Kopilotenplatz nicht mitgerechnet. Röhrs typische Kunden: Leute, die den Flug geschenkt bekommen haben, und viele „ältere Herrschaften, die sich den Stress mit Bahn oder Auto sparen wollen“.

Wir heben ab. Rasch geht es auf die heutige Flughöhe von 800 Metern (600 müssen es mindestens sein). Das Wetter ist perfekt, keine Wolke am Himmel. Ich schaue hinunter, auf Felder, Wiesen und Wälder, auf Kirchtürme, Rundlingsdörfer und Reihenhaussiedlungen, dazwischen Alleen. Ein Brandenburger Idyll – wenn man von der Unmenge Windräder absieht, die von hier oben wirken, als würde das Land ein Flugabwehrsystem gegen eine Invasion aus dem All in Stellung bringen.

Blick aus dem Flugzeug auf dem Weg nach Usedom.
Blick aus dem Flugzeug auf dem Weg nach Usedom.

© Kai-Uwe Heinrich

Die Route führt uns geradewegs nach Norden. Ein Städtchen ist zu sehen. „Bad Freienwalde“, sagt der Pilot. „Und schauen Sie mal: das Schiffshebewerk Niederfinow.“ Weiter geht’s nach Angermünde. Auf der rechten Seite taucht schließlich Schwedt auf, die Oder. Der Blick reicht bis nach Polen.

Es ist traumhaft, nur leider sehr heiß, mindestens im verglasten Cockpit. Aber nun, eine halbe Stunde sind wir schon in der Luft, steht sowieso ein Sitztausch an. Die Tochter der mitreisenden Familie, ein Mädchen im Teenager-Alter, darf neben Röhr Platz nehmen, und ich setze mich stattdessen schweißüberströmt nach hinten zu den anderen Passagieren. Man versinkt geradezu in den breiten Sitzen. Wie angenehm.

Jetzt lassen wir Pasewalk links liegen, es folgt Torgelow und dann: Wasser! Das Stettiner Haff. Wir sind also fast da, so schnell ging das. Röhr geht immer tiefer mit der AN 2 und landet dann überraschenderweise zwischen den betonierten Pisten, auf der Wiese. „Unter bestimmten Bedingungen ist das angenehmer“, wird er später erklären. So ein Landwirtschaftsflugzeug kann Landungen auf freiem Feld ab, und es fühlte sich wirklich sanft an.

Flughafen Heringsdorf: Hier landet sogar Eurowings

55 Minuten hat der Flug gedauert, und damit genauso lang wie angekündigt. Ich schaue aus dem Fenster: „Flughafen Heringsdorf“ steht am Terminalgebäude, das schon ein gutes Stück größer ist als das in Strausberg. Ein Werbeplakat verrät: Hier landet sogar Eurowings. Die Lufthansa-Tochter bietet direkte Flüge von Köln, Düsseldorf und Stuttgart an – sowie Umsteigeverbindungen nach London und Palma de Mallorca, von Strand zu Strand sozusagen. Zwei andere Fluggesellschaften verbinden Usedom mit Frankfurt, Dortmund und sogar mit Zürich, Basel und Bern.

Fein, mit einer Stunde S-Bahnfahrt, 30 Minuten Warten im Terminal und 55 Minuten Flugzeit dürfte ich der Schnellste von uns vier am Alexanderplatz Gestarteten sein. Doch noch bin ich nicht am Strand. Der befindet sich auf der anderen Seite der Insel, so um die zehn, elf Kilometer entfernt. Jetzt zu laufen oder den Bus zu nehmen (gibt es überhaupt einen?), würde bedeuten, den Sieg eventuell aus den Händen zu geben. Also muss noch mal investiert werden: in eine Taxifahrt. 15 Minuten später bin ich schon in Heringsdorf, ein paar Minuten darauf trabe ich in Richtung Wasser.

Was für eine Anreise: fast so schön wie endlich am Meer zu sein. Aber eben nur fast. Denn der Wind, der salzige Geruch in der Luft und die Ostsee vor mir – diese Kombination ist unschlagbar. Björn Rosen

Mit dem Bus: Klimaanlage funktioniert, Klo kaputt

Im Bus auf dem Weg nach Usedom. Am Lenkrad: Fahrer Roberto.
Im Bus auf dem Weg nach Usedom. Am Lenkrad: Fahrer Roberto.

© Kathrin Kleinschmidt

MIT DEM BUS

Reisezeit: 4 Stunden plus 13 Minuten Fußweg zum Strand Kosten: 14 Euro Sonstiges: Klo kaputt.

In aller Herrgottsfrühe kommt eine SMS von Flixbus. „Betriebsbedingt hat Linie 148 mit Ziel Ahlbeck 10 Minuten Verspätung. Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten.“ Tja, es muss wohl einen Haken geben, es klang schon fast zu gut: Abfahrt direkt ab Alexanderplatz, das ist in der Nähe meiner Wohnung, weniger als vier Stunden Fahrt direkt bis Heringsdorf – und das Ticket für nur 14 Euro.

Planmäßig sollte es um 7.40 Uhr losgehen, stattdessen rollen wir um 7.55 Uhr los – nicht im Sinne des Wettrennens, aber erträglich. Unser spanischer Fahrer, ein sympathischer junger Kerl, der ein Armband des Fusion-Festivals trägt, hat aber noch eine andere Nachricht: „Schönen guten Morgen, ich heiße Roberto, und die Toilette ist außer Betrieb, leider...“

Der Bus ist gut gefüllt, ich bekomme einen Sitzplatz in der ersten Reihe, gleich hinter Roberto, und kann mich, weil niemand neben mir sitzt, schön ausbreiten. Die Klimaanlage funktioniert, anders als die Toilette, tadellos. Draußen brennt die Sonne, drinnen ist es angenehm kühl, so lässt es sich aushalten.

Eine junge Frau fragt nach Sekt und Bier

Wir fahren auf die Karl-Liebknecht-Straße, die bald zur Prenzlauer Allee wird. In Pankow geht es auf die Autobahn Richtung Nordosten. Als wir eine gute halbe Stunde später eine Toilettenpause auf dem Parkplatz Ladeburger Heide einlegen, fragt eine junge Frau, ob sie beim Fahrer Sekt und Bier bestellen könne. Da ist jemand offenbar in Urlaubslaune. Roberto grinst gelassen. Was er tatsächlich im Angebot hat, sind Knabberzeug und Softdrinks, die vorne in einer gekühlten Box lagern.

Ich brauche keine Verpflegung, lese ganz entspannt mein mitgebrachtes Buch und genieße zwischendurch den Blick aus dem Fenster. Irgendwann verlassen wir die Autobahn und biegen auf die B109 ab, von nun an brummen wir einspurig weiter. Der erste reguläre Halt ist erst in Pasewalk. Kein Stau bisher!

Ankunft an der Ostsee.
Ankunft an der Ostsee.

© Björn Rosen

Sechsmal täglich kann man mit den grünen Bussen von Berlin nach Usedom fahren, entweder vom Alexanderplatz oder vom ZOB in Charlottenburg. Die Tickets bucht man zu Hause am Computer und druckt sie aus. Oder man benutzt die Smartphone-App.

Unser Bus hat inzwischen die kleine Gemeinde Jatznick im Landkreis Vorpommern-Greifswald passiert. Ein großes Schild verweist auf eine Max-Schmeling-Gedenkstätte. Auch wenn das kostenlose W-Lan im Bus eher schwach ist, reicht es doch für eine schnelle Google-Abfrage: Im Ortsteil Klein Luckow, 222 Einwohner, steht das Geburtshaus des legendären Boxers.

Vor der Peenebrücke dann doch noch: Stau

Nächster Halt ist um 10.18 Uhr in Anklam, auf einer Anzeige lese ich die Außentemperatur: 29 Grad. Drinnen immer noch Wohlfühlkühle. Vor der Peenebrücke nach Usedom geraten wir dann doch noch in einen Stau. Baustelle. Uff. Das Problem hat sich aber nach ein paar Minuten erledigt.

Der Bus fährt nun einmal quer über die Insel, vorbei an Mohn- und Kornblumenfeldern. Um 11.50 Uhr erreiche ich den Bahnhof Heringsdorf. Das bedeutet zwar 25 Minuten Verspätung, unser Wettrennen gewinne ich damit nicht. Dafür bin ich entspannt und zufrieden. Ich schultere meine Tasche und mache mich auf zum Strand. Empfehlenswert, diese Busfahrt nach Usedom. Kathrin Kleinschmidt

Mit der Bahn: Reetdächer, Birken, Fichten - somnambule Meditation

In der Bahn kann man die Beine hochlegen.
In der Bahn kann man die Beine hochlegen.

© Norbert Thomma.

MIT DER BAHN

Reisezeit: 4:11 Stunden, mit Fußweg und Umsteigen 4:31 Stunden Preis: ab 44 Euro hin und her in der 2. Klasse.

Wolgast, was für ein verzaubernder Name, fühl dich wohl, Gast, auch die Wolga steckt mit drin, längster Fluss Europas mit seiner Mündung im Kaspischen Meer, doch hier in Wolgast quert der Zug den Peenestrom, der Usedom vom Festland trennt und zur Insel macht, kleine weiße Yachten teilen das glatte Wasser, eine Werft ist zu sehen, Silos, blaue und gelbe Lastkräne, ein Wetterhahn auf dem Kirchturm, das Gasthaus „Zum Anker“ liegt sonnenbeschienen, man glaubt das Meer zu riechen bei so viel mediterranem Flair, da ruft die Stimme einer Aufsichtsperson „Pssst“, was die zwei Schulklassen so wenig beeindruckt wie das folgende „Ihr sollt jetzt bitte aufhören“, die blauen Wagen der Usedomer Bäderbahn ruckeln tüchtig, erste Reetdächer tauchen auf, ein See mit Segelbötchen, da ist schon fast vergessen, wo alles anfing, Berlin Alexanderplatz, mit der S-Bahn sechs Minuten zum Hauptbahnhof, RE 3 nach Stralsund fährt 8:30 Uhr von Gleis 5 ab, noch rasch einen großen Kaffee für unterwegs kaufen, immer wollen sie bei Starbucks einen Namen wissen, nennt mich heute mal „Muffin“, Leute, die Barista lacht und schreibt „Muffin“ auf den großen Becher, schon wieder ist eine falsche Spur für die Geheimdienste dieser Welt gelegt, unten am Bahnsteig viele Menschen in Flip-Flops, Sandalen, leichtes Gepäck für ein kurzes Wochenende, in der Regionalbahn in der oberen Etage einen Platz in Fahrtrichtung gefunden, der junge Mann gegenüber studiert ein richtig dickes Buch, irgendetwas mit Nierentransplantation, er verpasst die roten Backsteinmauern im vormals roten Wedding, Graffiti, Graffiti, die halbe Stadt scheint angemalt zu sein, meist mit nicht deutbaren Zeichen, Schrebergärten, auf Neubauten leuchten glasierte Ziegel, das bedeutet: hier beginnt der Osten, „die Fahrscheine, bitte“, saftige Maisfelder, der Nachbar gähnt über dem Kapitel „Pharmakokinetik“ und verpasst Pferde und Misthaufen, in Bernau dauert das Aussteigen elend lange, hier beginnt für viele ihre Radtour, die Platzwahl erweist sich als klug, nach Westen hin, auf der Ostseite knallt die frühe Sonne schon kräftig durch die Scheiben, ein Saum von Birken, Tannen, Fichten, es beginnt nun die somnambule Meditation, Landschaft fliegt vorbei, das ist ja das Schöne an der Bahn, dass man nicht wie mit dem Auto in die Welt hineinfährt und sie zerschneidet, sondern stetig auf einen Film schaut, der Nierenstudent schultert in Eberswalde den Rucksack, freies Land so weit das Auge reicht, hier könnte man doch einen Speckgürtel mit preisgünstigen Wohnungen errichten, der Zug ist ja ratzfatz in Berlin, ups, ein Unrasierter mit Zopf öffnet routiniert mit dem Feuerzeug zum Frühstück ein Kindl, draußen Reiher und Enten, am Rand der Felder stehen Klatschmohn und Kornblumen, rot und blau, diese zwei Blumen haben denselben Effekt wie der Anblick eines Eichhörnchens, man freut sich einfach, Merksatz notiert: Klatschmohn und Kornblumen sind die Eichhörnchen der Botanik, da tauchen am Horizont weiße Windräder auf, unglaublich, diese sich träge drehenden Flügel liefern schon gut 13 Prozent unseres Stroms und werden alsbald die Atomkraft überholen, „Prenzlau, der Ausstieg in Fahrtrichtung rechts“, rostende DDR-Lampen wie Stelen in einem Kunstpark, wo eben noch der Zopf sein Bier trank, schwatzen nun zwei Italienerinnen, chiacchierare ist das hübsche Wort dafür, gesprochen klingt es in deutschen Ohren wie das Kikeriki eines Hahns, auf den Feldern steht golden der Weizen, der Duft reifer Bananen zieht durchs angenehm gekühlte Zugabteil, umsteigen in Züssow, sieben Minuten zu spät, aber der Anschlusszug wartet, machen Sie sich keine Sorgen, die Bäderbahn hat weniger Wagen, die lärmenden Schulklassen, „Psssst“, ein Baby saugt unterm Tuch an der Mutterbrust, Wolgast, der Peenestrom, die Bahntrasse führt parallel zur Ostsee, Zinnowitz, Stubbenfelde, Ückeritz, bald führen die Ortschaften den Zusatz „Seebad“ im Namen, der Zug rumpelt und stöhnt, Heringsdorf, das Ziel, ist pünktlich erreicht, von hier sind es – vorbei an „Eva’s Bahnhofstübchen“ – zu Fuß zehn Minuten zum Ostseestrand, wirklich äußerst kurzweilig, diese Reise mit der Bahn, sie lässt sich leicht in einem einzigen Satz beschreiben.

Das war er. Norbert Thomma

Mit dem Auto: Über die Straße kriechen? Nie wieder!

Stau in Berlin: Die Fahrt nach Usedom hat noch gar nicht richtig begonnen, da geht schon nichts mehr.
Stau in Berlin: Die Fahrt nach Usedom hat noch gar nicht richtig begonnen, da geht schon nichts mehr.

© Esther Kogelboom

MIT DEM AUTO

Reisezeit: 4:56 Stunden mit Pause Kilometer: 232 Benzinkosten: ca. 23 Euro Sonstiges: Staaau!

Das Küchenradio spricht: Zäh fließender Verkehr auf der A114. Es gelte Tempo 40, wegen der Hitze droht die Asphaltdecke zu brodeln. Gibt es eine Ausweichstrecke? Google Maps sagt: Stau auf der B2. Oh weh, das fängt nicht gut an.

230 Kilometer sind es nach Heringsdorf, die Strecke kenne ich im Schlaf. Eine Traumroute, an deren Ende normalerweise ein Bratheringbrötchen und ein Sprung ins Meer stehen.

9 Uhr. Erst mal Sprit. In der Tankstelle ist es angenehm kühl. Die Frau, die den Cappuccino macht, runzelt die Stirne: „Bei so heißem Wetter ist es auch voll gefährlich auf der Autobahn.“

Mein Proviant: Mineralwasser, ein Tütchen Fisherman’s Friend. Muss ja noch Platz lassen für den Brathering.

Stau entlang der Kleingartenanlage an der Greifswalder Straße. Stau an der Khadija-Moschee. Stau an der Autobahnauffahrt. Es ist 9.40 Uhr, als ich mit Tempo 40 über die A114 Richtung Dreieck Pankow rolle. Können Gummi und Asphalt eigentlich verschmelzen?

Der Himmel strahlt kornblumenblau

Hinterm Dreieck lockert sich der Verkehr. Der Himmel strahlt kornblumenblau. Ich drücke aufs Gas, der Twingo brummt. Ostsee, ich kom … oh nein, wieder Stop-and-go. Hier ist nur eine Spur befahrbar.

Die Klimaanlage ächzt wie ein altes Kutschpferd, dann fällt sie aus. Durch den Fensterspalt weht Wüstenluft. Beim Versuch, mich der obersten Kleidungsschicht zu entledigen, schleudert meine Sonnenbrille unerreichbar in den Beifahrerrußraum. Ich übergieße mich mit Spreequell. Ein Blick aufs Handy: Ich bin schon 90 Minuten unterwegs.

Gleich kommt der einzige Rasthof auf der Strecke, Buckowsee Ost. Oder doch nicht? Es dauert.

Sanifair-Toilette kaputt, alle limbotanzen unter dem Drehkreuz durch. Ein sehr guter Moment.

Viele Wege führen nach Usedom - hier die Übersicht.
Viele Wege führen nach Usedom - hier die Übersicht.

© TSP

Ich kaufe: mehr Cappuccino, mehr Wasser und sicherheitshalber ein Käsesandwich.

Langsam geht es weiter, ich schwitze. Da, der Werbellinsee, einer der klarsten Seen überhaupt! Ich töte das Verlangen nach einem Sprung ins kühle Nass und lasse ihn mit 130 km/h links liegen.

Mit Vollgas überhole ich einen Flixbus. Käfighaltung für Menschen, denke ich.

Nun rückt ein psychologisch gefährlicher Punkt der Autoreise Berlin–Usedom ins Bild: das Dreieck Uckermark. Ha, fast geschafft, kreischt das innere Kind. Nein. Leider nicht. Denn der wahrhaft quälende Abschnitt der Reise beginnt erst, wenn man bei Rollwitz auf die B106 abbiegt. Die 98 Kilometer durch geschlossene Ortschaften sind eine Geduldsprobe. Jatznick–Heinrichsruh–Ferdinandshof–Altwigshagen–Rethebur–Ducherow–Neu Kosenow.

Aus Langeweile google ich die Anklamer Kirche

Wo wollen die alle hin? Bis Anklam ist Freitagsverkehr. Stoßstange an Stoßstange. Eine Peenebrücke wird saniert. 45 Minuten Stau. Die Sonne brennt. Ich bin seit über drei Stunden unterwegs, der Schädel brummt, die Klimaanlage röchelt. Aus Langeweile google ich die Anklamer Nikolaikirche und meditiere über die düstere Backsteingotik. Auf Radio MV läuft Billy Joel.

Inzwischen bin ich seit knapp vier Stunden unterwegs. Noch ein Fisherman’s Friend. Ich suche den Himmel nach einem Flugzeug ab. Denke darüber nach, einfach auszusteigen und ein Fahrrad zu entführen.

Für die letzten 46 Kilometer bis Heringsdorf brauche ich eine weitere knappe Stunde. Zum Schluss muss ich hinter einer Bimmelbahn, dem verdammten Kaiserbäder-Express, über die Straße kriechen. Nie wieder! Esther Kogelboom

Tipps für Heringsdorf

FISCH AUF DIE HAND

Das beste Fischbrötchen dieser Gegend

ist nicht leicht zu finden. Am einfachsten geht man von der Seebrücke aus Richtung Westen bis zum Imbiss „Seebär“, dann ist man fast da. Nach der Bude der Brüder Schwarz fragen. Offiziell liegt sie im Fischerweg, faktisch ist sie versteckt zwischen

Gehweg und Strand. Nach einem gelben Plastiksegel Ausschau halten! Matjes,

Räucherfisch usw., auch zum Mitnehmen.

EIS

Mitten im Ort liegt die Eis-Villa Stein.

In den Garten setzen und so viele Kugeln

bestellen, wie in den Magen passen.

Kuchen und Kaffee auch top. Kulmstraße 4.

ESSEN UND WEIN

Gleich neben der Eis-Villa gibt es bei

Lutter & Wegner (Kulmstraße 3) eine

fantastische Weinauswahl und österreichische Küche. Wer für die Ferienwohnung oder ein Picknick am Strand guten Wein kaufen möchte, wird im Weinander

in der Friedenstraße 13 bestens bedient.

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