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Big Window. Shinsuke Inui lässt das Licht hinein.

© Björn Rosen

Architektur: Tokyo: Die Mikro- Mega-Stadt 

In Japan träumen viele vom Eigenheim – doch Land ist knapp in den Metropolen. Das beflügelt die Kreativität der Architekten. Ein Besuch in Tokyo.

Am liebsten hätten sie an einem Hang gebaut, umgeben von viel Grün. Bloß mit dem passenden Ort klappte es nicht. Land ist knapp und teuer im Großraum Tokyo, wo Shinsuke Inui, 44, als Designer in der IT-Branche arbeitet und seine Frau Nozomi, 42, im Finanzwesen. Nach vier Jahren erklärten die beiden die Suche für beendet und kauften ein kleines, ganz und gar flaches Grundstück in einer relativ günstigen Ecke der Stadt Yokohama, die zusammen mit den drei anderen Kernstädten Tokyo, Kawasaki und Saitama die bevölkerungsreichste Metropolregion der Welt bildet.

Der Architekt der Inuis hatte eine Idee, um ihren Wunsch trotzdem Wirklichkeit werden zu lassen. Und so entwarf Takaharu Tezuka, der in Japan zu den angesehensten jüngeren Vertretern seines Fachs gehört, das „Big Window House“: ein einstöckiges Einfamilienhaus mit 95 Quadratmetern Wohnfläche, dessen simple Form an einen Schuhkarton erinnert. Die schmale Fassade ist auf Höhe des Erdgeschosses fensterlos (dahinter verbirgt sich die Treppe), dafür besteht sie in der ersten Etage komplett aus einer riesigen, rechteckigen Panoramascheibe.

Durch dieses „Big Window“ schauen die Inuis nun auf den Himmel und hinunter auf einen kleinen Park, an dessen Rand Kirschbäume stehen. Es ist nicht ganz das Leben am grünen Hang, von dem sie geträumt haben, aber ein bisschen eben doch. „Wir sind sehr glücklich“, sagt Shinsuke Inui.

Auf wenig Platz komfortablen, individuell zugeschnittenen Wohnraum schaffen – das können sie in Japan meisterhaft, besonders in der Hauptstadt. Die Wohnhausarchitektur ist in Tokyo so innovativ wie kaum irgendwo sonst auf der Welt. Trotz oder gerade wegen der widrigen Bedingungen einer Megastadt: 38 Millionen Menschen leben im Großraum, auf einer Fläche, die etwas kleiner ist als die von Schleswig-Holstein, das gerade mal 2,8 Millionen Einwohner hat. Die Region ist das magnetische Zentrum des Landes, in dem die Siedlungsfläche, wegen der vielen Berge, stark begrenzt ist.

Shinsuke Inui hatte Entwürfe seines berühmten Architekten in Magazinen und im Fernsehen gesehen und sich sofort in dessen künstlerische Handschrift verliebt. Billig war der Bau nicht, doch das war es dem Paar wert, dafür verzichten die beiden eben auf anderes. „Anfangs hat unser Haus in der Nachbarschaft Aufsehen erregt, manche hielten es für ein Restaurant. Nicht alle mögen es, aber das ist uns egal.“

Er drückt einen Knopf, und eine Brise weht hinein.

Tee-Time. Shinsuke und Nozomi Inui in ihrem Zuhause.
Tee-Time. Shinsuke und Nozomi Inui in ihrem Zuhause.

© Björn Rosen

Wenn, wie an diesem Tag im Januar, die Sonne scheint, ist der erste Stock des „Big Window House“ von warmem Licht durchflutet. Hier befindet sich das 45 Quadratmeter große Wohnzimmer mit offener Küche. Es ist minimalistisch eingerichtet, wirkt wie aus einem Designmagazin: Das Parkett ist aus Birkenholz, die Wände sind weiß, Geschirr und Krimskrams verbergen sich hinter einer Schiebewand, und von der Decke hängen drei Glühbirnen. Shinsuke Inui stellt seine Teetasse auf den Esstisch, steht auf und drückt einen Knopf an der Wand. Dann fährt das Panoramafenster langsam nach unten, und eine Brise weht ins Zimmer. „Wir haben zwar keine Terrasse, doch im Sommer sitzen wir fast draußen.“

arum finden sich gerade in Tokyo so viele ästhetisch wegweisende und extravagante Wohnhäuser? Ein Besuch im „Atelier Bow Wow“, dem international renommierten Büro von Yoshiharu Tsukamoto und seiner Frau Momoyo Kaijima. Das Architekten-Paar hat nicht nur mehr als 50 Wohnhäuser entworfen, unter anderem das eigene, das in den unteren Etagen die Büroräume von „Bow Wow“ beherbergt. Die zwei haben auch einen originellen Blick auf ihre Heimatstadt, der sie in Hass-Liebe verbunden sind.

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Die Gegend um ihr Haus ist mit ihren gewundenen Gassen, einzelnen Tempeln und Schreinen, aber vor allem den vielen Häuschen samt kleiner Gärten ein typisches Wohnviertel in Tokyos Zentrum. Zur Straße hin sind die Grundstücke schmal. „Das Straßenmuster ist oft uralt, hier geht es auf die Zeit zurück, als in der Nachbarschaft noch niedere Samurai lebten“, sagt Tsukamoto.

Dabei wurde die Stadt im 20. Jahrhundert zweimal fast völlig zerstört, beim großen Erdbeben von 1923 und während des Zweiten Weltkriegs. „Beide Male hat man danach die Chance verpasst, Tokyo neu zu planen.“ Große, repräsentative Achsen und Plätze sucht man vergebens, der Schwerpunkt der Planer lag darauf, im Fall von Erdbeben und Feuer einen Flächenbrand zu verhindern. Deshalb werden Wohnviertel mit ihren (mindestens vereinzelten) Holzbauten von breiten Geschäftsstraßen eingehegt, die höhere Gebäude aus Stahl und Beton säumen.

Der atemlose Wiederaufbau nach dem Krieg, die fetten Jahre der „Bubble Economy“ in den 80er Jahren – all das hat Tokyos Antlitz geprägt, die Stadt so radikal modern, eklektisch und scheinbar chaotisch aussehen lassen. „Die Gebäude in Tokyo beziehen sich leider selten aufeinander“, sagt Tsukamoto. Seine Frau und er haben die Riesen-Metropole mal als großen Organismus beschrieben, der sich im Kleinen ständig erneuert. „Häuser stehen hier im Durchschnitt keine 30 Jahre, dann wird abgerissen und neu gebaut.“ Neben den Perlen gibt es viel Gebrauchsarchitektur, für die sie beim „Atelier Bow Wow“ einen ironisch-liebevollen Blick haben. So dokumentiert das Projekt „Made in Tokyo“ unkonventionelle, pragmatische Lösungen, um geringen Platz optimal zu nutzen. Zum Beispiel ein Kaufhaus unter einer Stadtautobahn.

"Vor der Moderne gab es hier keine Tradition, in die Höhe zu bauen."

Das Moriyama House von Star-Architekt Ryue Nishizawa.
Das Moriyama House von Star-Architekt Ryue Nishizawa.

© Alamy Stock Photo

Das Gedrängte ist nicht unbedingt Tokyo-spezifisch. In London, New York oder Hongkong ist Platz auch rar. Einzigartig dürfte die starke Tendenz der Japaner zum eigenen Haus sein. Sie hat dazu geführt, dass Tokyo nicht so sehr in die Höhe, sondern vor allem in die Breite gewachsen ist. Inzwischen sind viele des Pendelns in den zu Stoßzeiten überfüllten Zügen aus den Vororten überdrüssig. Doch selbst wenn es die Jüngeren wieder stärker ins Zentrum zieht (oder sie gleich ihr Glück auf dem Lande suchen): Auch sie wollen nach Möglichkeit nicht in einer Wohnung im achten Stock, sondern im eigenen Haus leben.

„Vor der Moderne gab es hier keine Tradition, in die Höhe zu bauen“, sagt Tsukamoto, „ die Japaner haben immer ebenerdig gelebt, vielleicht liegt es daran.“ Der wichtigere Grund dürften die hohen Grundstückspreise sein, die den Wert der Gebäude zuverlässig übersteigen. Die Leute streben nach Immobilienbesitz, und sie verkaufen auch mal einen Teil des Grundstücks, zumal nach einer Erbschaft, bei der hohe Steuern anfallen. „Das alte Haus, das dort steht, wird dann eben abgerissen.“ Deshalb ist das durchschnittliche Grundstück in den vergangenen Jahrzehnten kleiner geworden – und seine Form ein bisschen exzentrisch.

Das verkompliziert den Bau von Gebäuden und stimuliert die architektonische Kreativität. Zwar lebt ein großer Teil der Bevölkerung in Fertighäusern, aber die Nachfrage nach individuell gestaltetem Wohnraum und der Appetit auf Neues ist groß. Satoshi Kurosaki vom Büro Apollo – gegründet vor 16 Jahren – glaubt, dass diese Situation ein Geschenk ist für seine jungen Kollegen, und vielleicht sogar ein Grund dafür, warum sich unter den international bedeutsamen Architekten viele Japaner finden. „Die Bauherren sehen ein Haus als Ausdruck ihres Lebensgefühls“, sagt er. „Ein Architekt, der frisch von der Uni kommt, kann seinen Gedanken beim Entwerfen solcher Häuser eine Form geben, wie das anderswo nur etablierten Kollegen bei Großaufträgen möglich ist.“ Tokyo sei deshalb ein fantastischer Platz zum Experimentieren.

Die örtlichen Auflagen fürs Bauen sollen vor allem sicherstellen, dass Nachbarn und Straße genug Licht bekommen; das funktioniert etwa mit schrägen Dächern oder solchen in Treppenform. In weiten Teilen Japans macht das eher milde Klima keine aufwendige Isolierung nötig, dafür ist die Erdbebensicherheit wichtig. Mindestbreite für ein Haus: zwei Meter. „Insgesamt bieten einem die Gesetze ziemlich große Freiheit.“

Apollo Architects hat seinen Sitz in einem selbst entworfenen Gebäude im Stadtteil Aoyama. Das Viertel, in dem es viele schicke Geschäfte und Restaurants gibt, liegt zentral und gilt als eines der teuersten in Tokyo. Ein Tsubo, das entspricht etwa 3,3 Quadratmetern, kann hier 80 000 Euro kosten.

Die Phase, in der westliche Formen kopiert wurden, ist vorbei.

Treppenhaus im "Terminal".
Treppenhaus im "Terminal".

© Apollo Architects

Kurosakis Haus, zehn Meter hoch, heißt „Terminal“, weil es sich am Ende einer Sackgasse befindet; die dunkle Fassade besteht aus einer Betonfläche und einem großen Fenster. Die Architekten haben ihre Räume im Keller und im Erdgeschoss, darüber wohnt ein Pärchen mit zwei kleinen Kindern. Die Wohnung inklusive Dachterrasse, sagt Kurosaki, sei ein gutes Beispiel für die Herausforderungen in Tokyo – und wie Architekten diese meistern. Beleuchtung am Boden und viel Glas, etwa in dem schmalen Treppenhaus, lassen die Räume größer erscheinen. Spiegel lenken Licht nach innen. Auch hier findet man einen zusammenhängenden Bereich zum Wohnen, Kochen und Essen. Es gibt platzsparende Schiebetüren, und weil nur 70 Prozent eines Grundstücks bebaut werden dürfen, hat Kurosaki einen Innenhof geschaffen, der drinnen zugleich ein Gefühl von Geräumigkeit erzeugt.

„Terminal“ hat es, wie ein paar Dutzend andere Beispiele, in das hübsche Buch „Jutaku: Japanese Houses“ geschafft, erschienen im Phaidon-Verlag. Unter Fachleuten in aller Welt ist die Aufmerksamkeit für das Thema groß. Das hat auch mit der Faszination für japanische Ästhetik zu tun. Dabei haben die Häuser auf den ersten Blick nichts gemein mit der traditionellen Architektur des Landes, die oft erbarmungslos niedergerissen wird. „Trotzdem ist viel von diesem Erbe erhalten geblieben.“ Man merkt es an den klaren Formen und dem gestalterischen Minimalismus; mit Raumteilern verschiedenster Art greifen Architekten etwa die Tradition der Shoji auf. Die Phase, in der bevorzugt westliche Formen kopiert wurden, ist lange vorbei.

Rein technisch betrachtet, könnte sein „Terminal“ locker mehr als hundert Jahre stehen, sagt Kurosaki. Vielleicht wird es aber auch wieder abgerissen, wenn die kleinen Kinder von oben drüber erwachsen geworden sind. Der Architekt lächelt: „Ein bisschen ärgerlich wäre das schon.“

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