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Bruno Webers bizarrer Park bei Zürich

© Thomas Widmer

Absonderliche Orte im Heidi-Land: Die Schweiz, wie sie keiner kennt

Hinter einer Mauer öffnet sich die Fantasywelt des Autors Tolkien, und mitten im Wallis ragen Pyramiden aus der Erde … Im Nachbarland gibt es Verblüffendes zu entdecken.

Was bedeuten die zwei gefetteten Zahlen? Bei der ersten handelt es sich um den Breitengrad, bei der zweiten um den Längengrad. Man kann sie etwa bei map.search.ch oder Google Maps eingeben und findet so leicht den Ort.

BRUNO WEBERS PARK BEI ZÜRICH

47.40537 / 8.38099

Am Hang oberhalb von Dietikon und Spreitenbach, also im Limmattal unweit von Zürich, schuf sich Bruno Weber, 1931 bis 2011, ein lebenslänglicher Maniker, unter kreativer Missachtung zonenrechtlicher Bestimmungen ein Gesamtkunstwerk. Sein persönliches mythologisches Set. Einen Kosmos mit gewaltigen Giraffen und Spinnen, Hybridgeschöpfen, klauenfüßigen Picknickstühlen, einer aus Drachenwesen zusammengesetzten Rundbrücke so hoch wie ein altrömischer Aquädukt.

Das Betriebskonzept und den Businessplan lieferte der Künstler nicht mit, der Park schien einmal ganz schließen zu müssen. Webers Park ist: LSD-Tarantula-Fantasie. Angkor Wat und Dschungelcamp. Hundertwasser-Farbexplosion im Widerstreit mit H.R.-Giger-Alien-Horror. Erich-von-Däniken-Götterastronauten-Parodie und Totempfahlland.

Nachempfindung präkolumbischer, schwarzafrikanischer und pharaonischer Skulpturentraditionen. Mad-Max-Spielplatz mit Schrottappeal. Altes Haus von Rocky Docky und Villa Kunterbunt. Extraterrestrischer Zoo und kollektives Unbewusstes zum Begehen. Poesie und Delirium mischen sich im Limmattal auf einzigartige Weise.

Als Besucher ist man nie ganz sicher, ob nicht das eine oder andere Exponat marode ist und eventuell zusammenbrechen könnte; so manches bräuchte dringend eine Auffrischung. Aber faszinierend ist der Trip schon.

Die Hängebrücke von Sigriswil
Die Hängebrücke von Sigriswil

© Thomas Widmer

DIE HÄNGEBRÜCKE

VON SIGRISWIL

46.71855 / 7.70701

Die Brücke ist der Gewalt der Landschaft angemessen. Von Sigriswil über dem rechten Ufer des Thunersees im Kanton Bern sieht man ein Felsband aus Nagelfluh. Darüber hockt das Dorf Tschingel; der Name kommt vom Lateinischen cingulum gleich Band oder Gürtel.

Unterhalb nimmt die Gummischlucht Gestalt an. Ihr Name ist offenbar abgeleitet vom keltischen Wort kumba, Tal, Schlucht, Eintiefung; die häufig anzutreffende französische Geländebezeichnung combe geht auch auf das Wort zurück.

Die 2012 eingeweihte Hängebrücke, 340 Meter lang, überspannt die Gummischlucht auf 182 Metern Höhe. Der Tiefblick ist freiwillig, denn die Seitenwände reichen dem Begeher freundlicherweise bis zur Brust. Sehr beruhigend auch, dass das bläulich schimmernde Metallding 1360 Menschen à 75 Kilo tragen mag.

Die Erdpyramiden von Euseigne
Die Erdpyramiden von Euseigne

© Thomas Widmer

DIE ERDPYRAMIDEN VON EUSEIGNE

46.17319 / 7.41710

Fährt man mit dem Bus von der Walliser Kantonshauptstadt Sion nach Euseigne, kann man die Erdpyramiden nicht verfehlen. Denn erstens haben die Straßenbauer den Pyramidenriegel im abschüssigen Hang mit einem kurzen Tunnel durchbohrt. Barbaren! Und zweitens gibt es eine Haltestelle Pyramides.

Man steigt direkt am Phänomen aus; da ist auch ein Weglein, auf dem man absteigen und noch näher hingelangen kann.

Diese schlanken, hohen Pfeiler, das ist Naturgotik! Auf manchen sitzen wie überdimensionierte Kiesel flache Steine. Erdgeschichtlich entstanden die Pyramiden so: Vom einstigen Gletscher blieb eine steile, betonharte Mittelmoräne. Wasser, Wind, Erosion setzten ihr zu, sodass Teile abgetragen wurden. Dort, wo auf der Wand Steine hockten, blieb sie intakt – es resultierten Pfeiler. Manche dieser Pfeiler haben ihren Stein später abgeschüttelt, andere tragen ihn als kecken Hut.

Dem Betrachter kommt es vor, als sei er in der Urlandschaft Kappadokiens.

Mittelerde und Gletschersee

Genfs Kugelkirche
Genfs Kugelkirche

© Thomas Widmer

GENFS KUGELKIRCHE

46.21640 / 6.14718

Heilige Kugel! Mit dem kaminartigen Aufsatz samt Kreuz sieht sie aus wie ein übergroßer Reichsapfel des Mittelalters. Oder, um respektlose Gemüter zu zitieren, wie eine Eierhandgranate.

Die Kirche Sainte-Trinité steht 15 Gehminuten entfernt vom Genfer Hauptbahnhof Cornavin an einer Straßenecke des Pâquis-Quartiers, geht auf den Architekten Ugo Brunoni zurück und ist mittlerweile etwas über 20 Jahre alt.

20 Meter Durchmesser, rosa Granit, Bullaugen, ein Wasserbecken, in das ihr Unterteil eingetunkt ist: Sicherlich ist das eine der originellsten Kirchen des ganzen Landes.

Eine Kugel als Antwort auf die Uno-Stadt, in der fast alles eckig und rechtwinklig ist.

Mittelerde in Jenins
Mittelerde in Jenins

© Thomas Widmer

MITTELERDE IN JENINS

46.99869 / 9.55794

Jenins, das Weindörflein im Kanton Graubünden. Der Weg des Besuchers führt zu einem Anwesen an einer Straße namens „Verduonig“. Ein Garten mit Blick auf Reben und Rhein, eine runde Tür aus grünen, senkrecht laufenden Holzplanken. Die Führerin erscheint, begrüßt alle im Greisinger Museum, öffnet die Tür.

Dahinter liegt Mittelerde, jene fiktive Welt, die der britische Philologe J.R.R. Tolkien, 1892 bis 1973, ersann samt allem Drum und Dran von Sprachen über Völker bis Geografie. Das Museum rühmt sich, weltweit das einzige Mittelerde-Museum zu sein. Die Sammlung, ausgestellt in einer Folge zum Teil unterirdischer Räume, hält einen mehr als zwei Stunden in Bewegung.

Gründer Bernd Greisinger, ein ausgestiegener Fondsmanager aus Deutschland, verwendete sein Geld dafür, in wenigen Jahren überall auf der Welt Tolkien-Objekte zu kaufen. In Bad Ragaz stapelten sich in einer Lagerhalle 400 Kisten. 2008 begann Greisinger in seinem neuen Lebensort Jenins mit dem Bau einer Villa am Hang und integriertem Museum, fünf Jahre später wurde dieses eröffnet.

Zur Kollektion gehören um die 600 Gemälde und Zeichnungen. Karten, Filmrollen, Kostüme, Requisiten und überlebensgroße Reproduktionen aller möglichen Fabelwesen. Sowie 3500 Bücher, darunter signierte Erstausgaben Tolkiens, der Erzählungen wie Der Herr der Ringe und Der Hobbit schrieb und praktisch im Alleingang das moderne Fantasygenre erfunden hat.

Nein, langweilig wird einem auf dieser Führung nicht! Am Ende tritt Greisinger selber auf in einer fellbesetzten Winterkriegermontur. Von der Leinwand des hauseigenen Kinos grüßt er, erzählt von der Entstehung des Museums und stellt die beteiligten Künstler vor. Nach einem Umtrunk an der Besucherbar heißt es „Adieu Mittelerde“, es geht retour in die sogenannte Realität.

DER CARALIN-SEE UNTER DEM PALÜGLETSCHER

46.36940 / 9.99598

Nur schon die Vegetation: Türkenbund, Knabenkraut, Enzian. Und Edelweiß direkt am Weg.

Und dazu Gletscher und Berge rundum samt dem Piz Palü als Schutzpatron. Wir starten bei der Zughaltestelle beim Bernina-Hospiz, gehen den See entlang nach Süden bis zur Seespitze, steigen auf zum Sassal Mason, einem aussichtsreichen Punkt mit Hotelchen. Nach kurzem Abwärtsintermezzo halten wir auf einem gemäßigt steigenden, eine steile Halde querenden Pfad direkt auf den Palü zu; wir haben dessen Gletscher samt Wasserfällen vor uns, müssen gleichzeitig unter Bergbächen hindurch, die von rechts über den Weg schießen und uns frech bespritzen.

Ein Feld mit Felsbrocken ist auch zu durchqueren, man kann da Steinbock spielen. Schließlich, nach knapp zweieinhalb Gehstunden auf 2320 Metern der Gletschersee, der auf manchen Karten noch keinen Namen trägt und auf älteren gar nicht vorkommt.

Das Gewässer, das bisweilen arktisch anmutend Eisschollen trägt, ist bei aller Jugend von beachtlicher Größe und wächst kontinuierlich. Seine überirdische Schönheit beruht auf dem Leid eines anderen. Der Palügletscher hat sich seit 1850 um fast zwei Kilometer zurückgezogen und dürfte in 30 Jahren verschwunden sein.

Sein Schmelzwasser speist eine Serie prachtvoller Wasserfälle. Und es schuf besagten See, den es seit gut 15 Jahren gibt. Auf den Wanderwegweisern ist er unterdessen angeschrieben. Er heißt nach einem nahen Gipfel: Lagh da Caralin.

Der Autor gilt nicht nur in der Schweiz als "Wanderpapst" ("Spiegel"). Er schreibt Kolumnen für den Zürcher "Tagesanzeiger", außerdem den Blog widmerwandertweiter.blogspot.com. Seine schönsten Wanderungen gibt es als Bücher, zuletzt "Schweizer Wunder"

Thomas Widmer

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