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Der Tatort: Am 5. September 1977 wurde der damalige Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer durch die RAF in Köln entführt.

© Wilhelm Bertram/dpa

40 Jahre Deutscher Herbst: "Man hat Schleyer sozusagen aus Gründen der Staatsräson geopfert"

Am 5. September 1977 wurde Hanns Martin Schleyer entführt - der Beginn des "Deutschen Herbstes". Klaus Pflieger war damals als junger Jurist bei den Ermittlungen dabei. Ein Interview.

Herr Pflieger, Sie sind Schwabe. Übersetzen Sie bitte den Ausdruck „Hee machen“.

Auf Hochdeutsch: umbringen, töten.

Als die RAF im Herbst 1977 den Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer entführte, fragten Fernsehleute vor dem Stammheimer Gefängnis, was man mit den hier inhaftierten RAF-Leuten machen solle. Ein Stuttgarter sagte: „Hee machen.“

Das gibt die Stimmung bei den Durchschnittsbürgern gut wieder. Ich habe mir diese Passage immer wieder angeschaut und war selten so entsetzt wie in diesem Moment. Da ging es um sofortige Rache und Wiedereinführung der Todesstrafe.

Von der sprach auch der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß. Es herrschte Hysterie. War der Rechtsstaat damals bedroht?

Unser Staat hat gewackelt, das ist so. Ich selbst hatte seit dem Mord an Siegfried Buback …

… der Tod des Generalbundesanwalts im April gilt als Auftakt des Terrorjahrs 1977 ...

… das Gefühl, dass wir auf dem Weg in den Polizeistaat waren. Nach fünf relativ ruhigen Jahren war plötzlich klar: Die Terroristen sind zurück und morden mit neuer krimineller Qualität. Bisher waren das US-Militär und die Polizei Zielscheiben gewesen, da gingen Bomben hoch, aber jetzt wurden Menschen kaltblütig hingerichtet. Der Staat fühlte sich in einem Maße angegriffen, dass auch Spitzenpolitiker sich Dinge vorstellen konnten, die in einem Rechtsstaat nicht akzeptabel sind. Außerdem fanden laufend Polizeikontrollen mit vorgehaltenen Maschinenpistolen statt. In zwei Fällen erschoss die Polizei sogar Unbeteiligte.

Klaus Pflieger, 70, war mit wichtigen RAF-Fällen betraut.
Klaus Pflieger, 70, war mit wichtigen RAF-Fällen betraut.

© Joachim E. Röttgers

Einer davon war der 17-jährige Richard Epple, der in Tübingen bei einer Pkw-Kontrolle flüchtete, weil er keinen Führerschein hatte.

Die Leute hatten sowohl Angst vor der RAF als auch vor der Polizei. Damit war ein Ziel der Terroristen erreicht. Sie wollten das Bild eines Polizeistaats provozieren. Man ist ihnen auf den Leim gegangen. Die Attentate waren natürlich entsetzlich. Doch die RAF hat in 28 Jahren „nur“ 34 Morde verübt. Ich traue es mich kaum zu sagen: Das ist relativ wenig im Vergleich zu den islamistischen Anschlägen in Europa. Da reden wir von einer dreistelligen Zahl an Toten bei einem einzigen Attentat.

Ziel des Terrors war es, möglichst viele inhaftierte RAF-Mitglieder freizupressen. Sie selbst waren damals junger Haftrichter im Stammheimer Gefängnis, wo die Führungsfiguren Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe einsaßen – und politisch eher links orientiert. Was hatte Sie überhaupt dazu bewogen, in den Staatsdienst zu gehen?

Tatsächlich habe ich eine ähnliche Ausgangsposition wie die RAF-Leute gehabt, was den Vietnamkrieg anging. Gegen den bin auch ich als Student auf die Straße gegangen. Doch ich wollte sicher nicht die Welt verändern. Zunächst war ich gar nicht auf Staatsdienst gepolt, sondern wollte Rechtsanwalt werden. Bis ich gemerkt habe, dass ich niemanden gegen meine Überzeugung verteidigen kann, nicht mal meinen eigenen Vater. Der hatte beim Ausparken ein Fahrzeug gestreift. Er behauptete, er habe es nicht gemerkt. Aber nach allen Zeugenaussagen hatte ich den Eindruck, er hat es verdrängt oder wollte es nicht wahrhaben.

Es gab damals viele Linke, die „klammheimliche Freude“ über die Taten der RAF empfanden. Auch in Ihrem privaten Umfeld?
Eher nicht. Zu meiner Zeit in Tübingen hatten wir Studenten den Eindruck, dass uns der Staat bis aufs Blut bekämpft, uns zum Beispiel mit den Notstandsgesetzen mundtot machen will. Da wurde 1968 diskutiert, ob friedliche Demonstrationen ausreichen, ob man Schaufenster einwerfen oder sogar Pflastersteine gegen Polizisten werfen sollte. 99 Prozent der Leute waren wie ich gegen solche Gewalt. Die Diskussionen endeten abrupt, als die RAF Menschen umbrachte. Das war 1972. Da war auch bei mir klare Kante. Vorher hat man vielleicht noch gesagt: Die versuchen etwas Richtiges durchzusetzen, mit falschen Mitteln.

Was haben die anderen Häftlinge in Stammheim über die Terroristen gedacht? Die hatten sich durch Hungerstreiks besondere Bedingungen verschafft.
Mancher hat sich bei mir beklagt: Denen da oben geht es besser als mir! In dem Bereich, für den ich als Richter zuständig war, galten normale Haftbedingungen, und die waren mit jenen im siebten Stock nicht vergleichbar. Dort wurden männliche und weibliche Gefangene gemeinsam eingeschlossen, für Vollzugsbeamte eigentlich ein Tabu. Und erst recht, dass Mittäter bei offenen Türen – dem berühmten Umschluss – Prozessstrategien absprechen konnten. Da besteht Verdunkelungsgefahr.

"Man darf Terroristen nicht anders behandeln als normale Kriminelle "

Klaus Pflieger, 70. Er war in verschiedenen Funktionen in mehrere Prozesse gegen RAF-Terroristen eingebunden.
Klaus Pflieger, 70. Er war in verschiedenen Funktionen in mehrere Prozesse gegen RAF-Terroristen eingebunden.

© Joachim E. Roettgers

Das hat Ihnen nicht behagt?
Man darf Terroristen nicht anders behandeln als normale Kriminelle – was die Prozessordnung betrifft, was die Haftbedingungen, das Strafverfahren, die Haftentlassung betrifft. 2007 habe ich mich gegen eine Begnadigung von Christian Klar ausgesprochen. Jeder normale Mörder würde in vergleichbaren Situationen bei uns im Land nicht begnadigt. Dann darf auch ein Terrorist bei gleichen Bedingungen nicht besser behandelt werden.

Dabei herrschte in den 70er Jahren genau das umgekehrte Bild vor: RAF-Mitglieder, hieß es, würden durch Isolationshaft gefoltert.

Das traf – jedenfalls in Stammheim – nicht zu. Die Justiz hat insoweit keine Öffentlichkeitsarbeit betrieben, das war einer der größten Fehler des Staates. Die Arbeit der Wahlverteidiger war in dieser Hinsicht perfekt, bewundernswert geradezu.

Ein Coup gelang den Anwälten mit dem Besuch von Jean-Paul Sartre bei Andreas Baader in Stammheim. Der Philosoph beklagte anschließend die karge Ausstattung der Zelle. Er hatte nicht bemerkt, dass er in einem Vernehmungsraum saß.

Ein klassisches Beispiel für Desinformation. Denn: Wenn ein Sartre sagt, der Baader werde per Isolation gefoltert, dann denken viele, es muss ja stimmen. Ich habe dieses Missverhältnis als Ankläger in einem späteren RAF-Prozess selber erlebt. Die Verteidiger sind mit den Journalisten Essen gegangen und haben in den Prozesspausen ständig mit ihnen geredet. Ich habe meinen damaligen Chef, den Generalbundesanwalt Kurt Rebmann, händeringend gebeten, er möge uns erlauben, mit den Medienvertretern zu sprechen. Ohne Erfolg.

Wie ist diese Verweigerungshaltung zu erklären?

In Bezug auf die RAF-Prozesse war Rebmann der Ansicht, dass Medienarbeit Chefsache, also allein seine Aufgabe sei. In Bezug auf die angebliche Isolationsfolter konnte ich mir zunächst keinen Reim auf die fehlende Information machen. Heute denke ich, der Staat wollte sogar den Eindruck erwecken, man würde die RAF-Häftlinge hart anfassen, und wollte einfach nicht zugeben, dass die Terroristen Privilegien durch Hungerstreiks erreicht hatten. Es gibt die Vermutung, dass die Richter des Baader-Meinhof-Prozesses hofften, die Gefangenen würden solch ein Entgegenkommen honorieren.

Das RAF-Mitglied Holger Meins hat den Hungerstreik nicht überlebt. Er starb an Entkräftung.

Ein toter Häftling ist ein verheerendes Ergebnis für die Justiz. Da kommt automatisch der Vorwurf, der Staat habe ihn umgebracht. Das war bei Holger Meins auch so, obwohl das für mich damals schon blanker Unsinn war. Die RAF-Gefangenen haben die Nahrung verweigert und Meins hat sich dabei zu Tode gehungert. Schon bei den ersten Hungerstreiks stand in einem RAF-Papier: „Wir brauchen einen Toten, damit wir was in der Hand haben.“

Also als propagandistisches Mittel.

Um die eigenen Ziele noch besser durchsetzen zu können. Es war klar, dass die Führungskader nicht sterben werden. Sie verweigerten zwar die Anstaltsnahrung, haben aber – so der Anstaltsbedienstete Horst Bubeck in seinem Buch „Stammheim“ – von den Verteidigern mitgebrachte Hähnchen verspeist. Meins starb in einem anderen Gefängnis.

Die Zwangsernährung war brutal.

Ja, aber die RAF-Gefangenen haben sich auch gezielt dagegen gewehrt. Man musste sie auf einer Trage festschnallen, sie festhalten und ihnen dann einen Schlauch zwischen die Zähne schieben. Das ist in meinen Augen ein Zustand gewesen, der für die Häftlinge selber nur schwer zu ertragen war. Aber auch für das Anstaltspersonal, das die Prozedur hat durchführen müssen. Das hat sich Gott sei Dank seither geändert. Im Strafvollzugsgesetz ist jetzt klargestellt, dass das Gefängnispersonal nur dann zwangsernähren darf beziehungsweise muss, wenn ein Häftling während eines Hungerstreiks nicht mehr Herr seiner Sinne ist.

"Peymann hat doch tatsächlich zwischen einem sogenannten normalen und einem terroristischen Mord unterschieden"

Als junger Mann gehörte Klaus Pflieger zum Team, das den Tod der RAF-Häftlinge in Stammheim untersuchte.
Als junger Mann gehörte Klaus Pflieger zum Team, das den Tod der RAF-Häftlinge in Stammheim untersuchte.

© privat

Der Regisseur Claus Peymann ließ an seinem Theater in Stuttgart Geld für die Zahnbehandlung von Gudrun Ensslin sammeln.

In intellektuellen Kreisen gab es einen relativ hohen Anteil von RAF-Sympathisanten. Peymanns Aktion wurde von manchen als Unterstützung der RAF interpretiert. Ich habe vor gut einem Jahr eine Veranstaltung mit ihm erlebt, bei der er zum Thema RAF befragt wurde. Und dann hat er doch tatsächlich zwischen einem sogenannten normalen und einem terroristischen Mord unterschieden. Da geht einem Staatsanwalt natürlich das Messer in der Tasche auf.

Schon vor dem Verfahren gegen die RAF-Führung, dem Baader-Meinhof-Prozess, der 1975 begann, gab es Gesetzesverschärfungen. Zum Beispiel durfte ein Verteidiger nun nicht mehrere Angeklagte verteidigen. Das sollte verhindern, dass Verfahren verzögert werden. Wann haben Sie gesagt: Das ist gefährlich?

Keines dieser Gesetze ist vom Verfassungsgericht beanstandet worden. Mich hat allein das Kontaktsperregesetz gestört, das im September 1977 verabschiedet wurde.

In der aufgeheizten Stimmung des „Deutschen Herbstes“ winkte der Bundestag es schnell durch. Fortan durften Anwälte die RAF-Gefangenen nicht mehr besuchen.

Nach Beginn der Schleyer-Entführung war eine Art Notwehrsituation entstanden, weil man gemerkt hatte, dass die Aktion aus dem Gefängnis mitgeplant worden war. Man wollte diese Verbindung kappen. Ich fand es bedenklich, dass jeder Kontakt von Häftlingen, die in einer Ausnahmesituation einen Interessenvertreter brauchen, unterbunden wurde. Ich hätte mir gewünscht, dass man zumindest einem sogenannten Zwangsverteidiger den Kontakt zu den Häftlingen erlaubt.

War die Kontaktsperre denn effektiv?

Nein. Deshalb habe ich erst recht an dieser Maßnahme gezweifelt. Die Gefangenen haben trotzdem erfahren, dass die Geiseln in Mogadischu …

… im Oktober 1977 hatten Palästinenser mit Billigung der RAF die Lufthansa-Maschine Landshut entführt. Dadurch sollte der Druck auf die Bundesregierung zur Freilassung der RAF-Gefangenen erhöht werden ...

… befreit wurden. Sonst hätten sie ihren Selbstmord unmittelbar danach nicht absprechen können. In einem Gefängnis lassen sich einfach nicht alle Informationsflüsse verhindern.

Haben Sie in diesen Tagen Angst verspürt? Immerhin waren Sie Repräsentant des Staates, dem die RAF den Kampf angesagt hatte.

Als die Bundesanwaltschaft das Verfahren gegen den RAF-Anwalt Klaus Croissant an uns, also die Staatsanwaltschaft Stuttgart, abgab, war das für mich als Anklagevertreter in diesem Strafverfahren mit einer Gefährdungseinstufung verbunden. Mein Abteilungsleiter fragte mich, ob ich wisse, worauf ich mich da einlasse. Ich hatte keine Angst, doch daran war nichts Heldenhaftes. Ich habe mich als viel zu kleines Licht angesehen. Zum anderen: Croissant war kein RAF-Mitglied, sondern bloß Unterstützer. Und dann war ich nur der zweite Sitzungsvertreter, relativ jung dazu. Der Aufwand wäre es nicht wert gewesen, mich anzugreifen, dachte ich. Beeindruckt haben mich die Maßnahmen, die ergriffen wurden. Dass ich zum Beispiel eine Polizeipistole tragen sollte, weil meine Begleitschützer sagten: Wenn wir angegriffen werden, sollten wir alle schießen können, auch derjenige, der beschützt wird, also ich.

Haben Sie die tatsächlich bekommen?

Ja. Ich habe auch geübt und war vorbereitet, mich notfalls zu wehren. Für uns Stuttgarter Kollegen war klar: Uns soll es nicht so ergehen wie Schleyer, der unbewaffnet war. Lebend bekommen sie mich nicht, das war das Motto. Die Schutzmaßnahmen waren verbunden mit einer Beschränkung der Freiheit. Allein, dass man versucht, Rücksicht zu nehmen auf die Belange der Begleitschützer – die mussten mit mir ja sogar zum wöchentlichen Fußballtraining. Und eine Pistole permanent mit sich zu führen hat mir auch kein angenehmes Gefühl bereitet.

Wann haben Sie sich wieder frei bewegen können?

Immer wenn ein brisanter Prozess vorbei war, habe ich wieder ein halbwegs normales Leben geführt. Das letzte Verfahren, in dem ich Begleitschutz hatte, war der Brandanschlag in Mölln 1992. Weil wir nicht wussten, wie die Rechtsradikalen reagieren. Als ich 1995 bei der Bundesanwaltschaft ausgestiegen bin, konnte ich meine Waffe abgeben. Das war eine Befreiung für mich.

Sie haben über die Jahrzehnte mit vielen RAF-Mitgliedern persönlich zu tun gehabt. Erkennen Sie ein psychologisches Muster?

Ich war insofern fasziniert, als es häufig Leute waren, die soziales Engagement gezeigt hatten. Baader und Ensslin hatten sich um Heimzöglinge gekümmert. Wobei ich Baader eher als Rambo betrachtet habe. Das war er nach Einschätzung von anderen auch. Immerhin: Die alle hatten anfangs durchaus berechtigte Anliegen und sind irgendwann ausgerastet, weil sie gemerkt haben, sie erreichen mit den bloßen Demonstrationen nichts.

Wenn Sie heute, 40 Jahre danach, auf das Jahr 1977 zurückblicken: Ist der Rechtsstaat gestärkt aus den Erfahrungen von damals herausgegangen?

Ja. Boden unter den Füßen hat der Staat in dem Moment wieder bekommen, als die Bundesregierung im Fall Schleyer hart geblieben ist. Die RAF-Gefangenen wurden nicht frei gelassen. Das war eine der schlimmsten und schwierigsten Entscheidungen, die man Politikern abverlangen kann. Aber sie war alternativlos. Man hat Schleyer sozusagen aus Gründen der Staatsräson geopfert. Man hätte auch die Passagiere der Landshut geopfert.

In einem früheren Fall, der Entführung des Berliner CDU-Chefs Peter Lorenz, hatte die Regierung noch nachgegeben. Fünf Gesinnungsgenossen der „Bewegung 2. Juni“ kamen frei.

Das war ein Fehler! Wäre man schon bei Lorenz hart geblieben, wäre das für ihn natürlich schlimm gewesen, aber wir hätten keine Schleyer-Entführung erlebt. Wir hatten seither in Deutschland keine vergleichbare Tat mehr.

Herr Pflieger, im Jahr 1998 löste sich die RAF auf. Ex-Mitglied Lutz Taufer sagte, dieser Schritt sei viel zu spät gekommen, die RAF sei schon tot gewesen.

In der Tat, die RAF war praktisch ab Mitte der 1990er Jahre nicht mehr existent. In der Auflösungserklärung gab es eine Passage, die mich fasziniert hat. Da schrieb die RAF, dass sie erkannt habe, dass sie auf diesem Weg, mit Bomben und Mord also, nicht durchkommen könne. Dieser Satz ist eigentlich das größte Kompliment an unsere Rechtsordnung. Er sagt ja: Dieser Staat ist so souverän, auch eine RAF konnte ihn nicht in die Knie zwingen. Und dies gilt für jede andere Art des Terrors genauso.

Islamistischen Attentätern genügt heute ein Lkw, um Furcht und Schrecken zu verbreiten.

Das stimmt. Die RAF hatte Militärziele, sie hatte prominente Menschen im Visier, da konnte man konkrete Schutzmaßnahmen ergreifen. Islamistische Terroristen aber wollen eine Masse an Toten, um die Bevölkerung zu verunsichern. Umso schwieriger ist es, Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Personen- oder Objektschutz ist nicht mehr in dem Maße möglich wie früher. Deshalb gilt, wie es die Polizei nennt: Man muss vor die Tat kommen. Man muss sie nach Möglichkeit von vornherein verhindern. Vor allem: Die RAF-Leute wollten überleben, das waren keine Selbstmordattentäter. Ein ganz entscheidender Unterschied.

Seit den Anschlägen vom 11. September wurden zahlreiche Gesetze verschärft: Die Sicherheitsbehörden dürfen nun zum Beispiel leichter auf Telefon- und Internetdaten von Bürgern zugreifen. Fürchten Sie sich nicht um den Rechtsstaat?

Nein! Man lernt auch als Gesetzgeber oder Strafverfolger immer wieder dazu. In den 1970er Jahren hat man mit den Antiterrorgesetzen reagiert, damit etwa der Baader-Meinhof-Prozess überhaupt stattfinden konnte: Man führte Trennscheiben in den Besuchsräumen der Gefängnisse ein, um die Übergabe von Waffen zu verhindern. Ich war als Generalstaatsanwalt von Württemberg nach dem 11. September in einer Arbeitsgruppe, die sich mit dem islamistischen Terror beschäftigte. Wir haben uns Gedanken gemacht, wie wir solche Anschläge in Deutschland verhindern können. Das ist uns in einigen Fällen gelungen. Aber hundertprozentig geht das eben nicht, sonst werden wir zum Polizeistaat.

Die drei ehemaligen RAF-Mitglieder Daniela Klette, Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg überfallen weiter Geldboten und -transporte. Staub ist 62.

Es fällt mir schwer, mit denen Mitleid zu haben. Sie haben ihre Situation selbst verschuldet. Ich habe aber ein gewisses Verständnis für diese Beschaffungskriminalität, ohne dass ich damit die Straftaten gerechtfertigt sehe. Die haben keine Alternative, wenn sie sich nicht stellen wollen.

Die drei sind seit fast 30 Jahren im Untergrund. Ist das ohne Unterstützernetzwerk vorstellbar?

Die RAF war immer auf solche Netzwerke angewiesen. Dann gab es immer eine Sympathisantenszene. Die ist heute wohl kleiner als früher. Sie muss aufpassen, dass sie nicht von V-Männern unterwandert ist.

Für manche hat das Thema RAF immer noch eine enorme Bedeutung. Etwa für Michael Buback, den Sohn des 1977 ermordeten Generalbundesanwalts.

Ich habe ihn immer wieder bei Diskussionen erlebt, und einmal hatten wir richtig Streit. Er hatte öffentlich behauptet, der Staat habe seinen Vater geopfert beziehungsweise nicht genügend zur Aufklärung des Attentats beigetragen. Das waren unerträgliche Vorwürfe gegen uns.

Bis heute ist nicht klar, wer von einem Motorrad aus die Schüsse auf Siegfried Bubacks Wagen abgegeben hat. Verurteilt für das Attentat wurden Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und Knut Folkerts.

Ich habe versucht, Michael Buback klarzumachen, dass bei uns nicht bloß der Todesschütze als Mörder gilt, sondern auch der Fahrer des Motorrads und jene, die im Vorfeld zu der Tat beigetragen haben. Und das ist bei Klar, Folkerts und Mohnhaupt rechtskräftig festgestellt. Michael Buback hat selber begonnen zu recherchieren und landete schließlich bei der These, dass Verena Becker die Todesschützin gewesen sein müsse.

Das Oberlandesgericht Stuttgart hat festgestellt, dass sie es nicht gewesen ist.

Dass ein Gericht nach fast zweijährigem Prozess zu einem so klaren Ergebnis kommt, ist beachtlich. Es tut mir unendlich leid für Michael Buback, dass er mit seinen Recherchen erfolglos geblieben ist. Bei unseren Begegnungen spüre ich, wie sehr er unter diesem Ergebnis leidet; deshalb möchte ich ihn am liebsten in den Arm nehmen und sagen: Es ist genug.

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